Geschichte: Frauenrechte, Bildung, Suppenküchen: Das Vermächtnis der Lina Morgenstern
Das Leben, das sie geführt hat, hätte für mehrere gereicht: Im 19. Jahrhundert kämpft Lina Morgenstern für soziale Gerechtigkeit für alle, aber besonders für Frauen

Das Leben, das sie geführt hat, hätte für mehrere gereicht: Im 19. Jahrhundert kämpft Lina Morgenstern für soziale Gerechtigkeit für alle, aber besonders für Frauen
Es gibt Menschen, die engagieren sich so sehr für andere, dass es für mehrere Leben reicht. Lina Morgenstern ist so ein Mensch. Während Ministerpräsident Otto von Bismarck Preußen in jene Kriege schickt, aus denen am Ende das Deutsche Kaiserreich mit Wilhelm I. an der Spitze entstehen wird, versucht sie, denjenigen zu helfen, denen sonst keiner hilft.
Am 9. Juni 1866 – die Lage in Berlin ist angespannt, die Industrialisierung vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich und ein Krieg gegen Österreich steht unmittelbar bevor – gründet sie die erste Suppenküche der Stadt. Dabei verschenkt sie das Essen nicht etwa. Sie bietet es zum Selbstkostenpreis an. Ihr Motto: Hilfe zur Selbsthilfe. Lina Morgenstern ist keine freigiebige Samariterin, sie will Menschen ertüchtigen, die nicht viel haben. Ihnen die Würde lassen.
Das soziale Engagement ist ihr in die Wiege gelegt
© Hanni Schwarz
Das Thema Würde scheint sie durch ihr ganzes Leben zu tragen, das soziale Engagement wird ihr in die Wiege gelegt. Am 25. November 1848, es ist ihr 18. Geburtstag, gründet die Tochter eines liberalen jüdischen Kaufmanns in Breslau gemeinsam mit Freundinnen den "Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder". Dieser hat zum Ziel, mittellose Kinder mit allem zu versorgen, was sie brauchen, um im Wettbewerb der Heranwachsenden zu bestehen, mit Büchern also, Schreibmaterial, aber auch mit Kleidung.
Nach der Heirat mit dem Kaufmann Theodor Morgenstern zieht sie gemeinsam mit ihm nach Berlin. Zwischen 1855 und 1865 bekommt das Paar fünf Kinder. Lina Morgenstern begeistert sich für die Erziehungskonzepte des Pädagogen Friedrich Fröbel. Fröbel vertritt unter anderem die für die damalige Zeit geradezu revolutionäre Meinung, dass man Kinder viel spielen lassen sollte. Kurzerhand setzt sie sich für die Gründung eines Fröbelkindergartens in Berlin ein. Dass Kindergärten in Preußen als staatsgefährdend gelten und seit 1851 verboten sind, kümmert sie kaum. Ganz im Gegenteil: Sie engagiert sich im "Frauenverein zur Förderung der Fröbelschen Kindergärten", verfasst sogar ein Buch, das angehenden Kindergärtnerinnen als Leitfaden dienen soll und sich hervorragend verkauft. Im Laufe ihres Lebens wird sie mehrere Bestseller schreiben, damit sogar die Familie ernähren, als ihr Mann und damit auch sie und die Kinder in ökonomische Nöte geraten.
Mit ihrem Engagement macht sie sich nicht nur Freunde
Um ihre Suppenküchen zu finanzieren, der ersten von 1866 folgen binnen zwei Jahren noch neun weitere, sammelt sie Spenden, zahlreiche Helferinnen und Helfer arbeiten ehrenamtlich. Das preiswerte Essensangebot wird von vielen Menschen geschätzt, darunter Handwerker und kleine Beamte, Studenten, Arbeiter, ganze Familien mit Kindern. Doch es findet nicht von allen Seiten Beifall. Die Berliner Gastronomen laufen Sturm, fürchten eine Wettbewerbsverzerrung und Umsatzeinbußen. Morgenstern interessiert es nicht. Wenn sie sich eine Aufgabe gesucht hat, verfolgt sie sie.
Als Bismarck nach den militärischen Triumphen über Dänemark 1864 und Österreich 1866 im Frühsommer 1870 einen Krieg des von Preußen dominierten Norddeutschen Bundes mit Frankreich provoziert, um am Ende alle deutschen Staaten mit Ausnahme Österreichs unter der Führung Berlins zu einer Nation zu vereinen, ist die Pazifistin Lina Morgenstern, die man gut zwei Jahrzehnte später in den Vorstand der "Deutschen Friedensgesellschaft" wählen wird, alarmiert.
Nicht nur, weil es erneut Krieg und Leid geben wird. Sondern, weil sich der Staat offensichtlich nicht um die Verpflegung der Soldaten jenseits der Front zu kümmern gedenkt, wie sie verwundert feststellt. An zwei Berliner Bahnhöfen eröffnet sie daraufhin Speisebaracken für die durchziehenden Truppen, inklusive Krankenversorgung.
Sie macht sich stark, wo sie kann. Im Lauf ihres Lebens erkämpft sie mit unterschiedlichsten Mitstreiterinnen und -streitern die Aufhebung des Kindergartenverbots von 1851, verfasst unter anderem einflussreiche Lehr-, Kinder- und Kochbücher, setzt sich für die Gleichberechtigung der Frau in allen Belangen ein, streitet für deren Zulassung zum Universitätsstudium, gründet zahlreiche Vereine.
Aber auch das Leben als Hausfrau findet sie völlig normal
Dabei vertritt die bürgerliche Rebellin Lina Morgenstern ein durchaus traditionelles Rollenbild, mit der Frau als unumschränkter Herrin über Haushalt und Kinder. 1873 entsteht aus dem "Verein der Berliner Volksküchen" der "Berliner Hausfrauenverein" mit Morgenstern als Vorsitzender und bald auch Herausgeberin der "Deutschen Hausfrauen-Zeitung". Der Verein entwickelt sich rasant, bald gehören unterschiedlichste Einrichtungen dazu, darunter ein Lebensmittellabor, eine Kochschule, eine Hilfskasse für Dienstmädchen. Zwar muss der Verein nach nur zehn Jahren Konkurs anmelden, doch setzt sich Morgenstern weiter ein, trotz hoher persönlicher Einbußen.
Standesdünkel hat sie nicht. 1894 versucht sie gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten bei der Gründung des "Bundes Deutscher Frauenvereine" auch nicht-bürgerliche Organisationen in den Dachverband aufzunehmen. Scheitert damit aber am Widerstand der Konservativen in dessen Reihen.
© SZ Photo
Zwei Jahre später gehört sie zu den Hauptorganisatorinnen des "Internationalen Kongresses für Frauenwerke und Frauenbestrebungen" in Berlin – um sich "über die Ziele und den Stand der Frauenbewegung in den zivilisierten Ländern" auszutauschen, wie es im Vorwort der Akten des Kongresses heißt. 1700 Delegierte aus dem In- und Ausland haben sich zu der Versammlung angemeldet. Bei den öffentlichen Sitzungen sind oft noch zusätzliche Gäste anwesend, Männer wie Frauen.
Ihre Rede zur Gleichberechtigung hat noch heute Gültigkeit
Am 20. September 1896 wird der Kongress eröffnet. Lina Morgenstern hält um 11 Uhr die Begrüßungsrede. Und kommt ziemlich schnell zum Punkt: "Wir heißen Sie von Herzen willkommen und danken vor allem denjenigen, welche die Schwierigkeiten, die Beschwerden und Opfer einer weiten Reise nicht scheuten, um sich mit uns zu einem hohen, herrlichen Zwecke zu vereinigen, nämlich dem, eine Harmonie in der Frauenbewegung aller Länder herzustellen, um das gesamte Menschengeschlecht einer besseren Zukunft entgegenzuführen, durch Gerechtigkeit für alle, durch Hebung und Befreiung der Frauen von Engherzigkeit, Vorurteilen, Unwissenheit und Zurücksetzung! Nur durch die gesetzliche Gleichstellung beider Geschlechter, durch friedliches und gleichberechtigtes Arbeiten in der Gemeinsamkeit, durch freie Selbstbestimmung im Recht auf Arbeit, auf Berufswahl und Bildung, nur durch Anerkennung einer Moral, einer Sittlichkeit für alle wird dereinst eine beglückende Menschenverbrüderung ermöglicht werden."
Als Lina Morgenstern am 16. Dezember 1909 im Alter von 79 Jahren stirbt, kann sie auf etliche Erfolge zurückblicken, darunter die Aufhebung des Kindergartenverbots und die Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium. Beigesetzt wird sie auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Von all ihren Taten ist sie in der Stadt an der Spree aber vor allem für eine bekannt: für die Gründung der ersten Volksküchen, die ihr auch ihren Spitznamen eingebracht hat – "Suppenlina". Von der Erfüllung ihrer Forderungen aus ihrer Rede von 1896 ist die Welt jedoch noch immer recht weit entfernt.