Warum ich am 9. Mai zur Parade zum Tag des Sieges nach Moskau fahre
„Wir müssen anfangen, die Brücken wiederaufzubauen, die andere sich so sehr bemüht haben, zu zerstören.“ Der italienisch-britische Autor und Journalist Thomas Fazi beschreibt in diesem eindringlichen Beitrag, warum er sich auf den Weg nach Moskau gemacht hat und warum aus seiner Sicht die Frage, ob wir die Beziehungen Europas zu Russland reparieren können, existenziell fürWeiterlesen

„Wir müssen anfangen, die Brücken wiederaufzubauen, die andere sich so sehr bemüht haben, zu zerstören.“ Der italienisch-britische Autor und Journalist Thomas Fazi beschreibt in diesem eindringlichen Beitrag, warum er sich auf den Weg nach Moskau gemacht hat und warum aus seiner Sicht die Frage, ob wir die Beziehungen Europas zu Russland reparieren können, existenziell für unseren Kontinent ist. Ein Gastbeitrag von Thomas Fazi, aus dem Englischen übersetzt von Maike Gosch.
Ich schreibe diese Zeilen etwa 5.000 Meter über dem Boden, auf dem Weg von Rom nach Istanbul. Von dort aus fliege ich morgen früh nach Moskau, um die Parade zum 9. Mai, dem Tag des Sieges, mitzuerleben und zu dokumentieren – in diesem Jahr jährt sich der Sieg der Sowjetunion über Nazideutschland zum 80. Mal –, vorausgesetzt natürlich, mein Flug wird nicht nach dem massiven Drohnenangriff der Ukraine auf mehrere russische Flughäfen gestrichen.
Ich werde zum ersten Mal in Russland sein und freue mich darauf, ein paar Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, Freunde zu treffen und den guten alten Wodka und saure Gurken zu genießen. Aber das ist natürlich nicht der Grund, warum ich fahre. Ich habe mich entschieden, an diesem Tag in Moskau zu sein, weil es wichtig ist. Wir leben in extrem düsteren und gefährlichen Zeiten. In den letzten dreieinhalb Jahren haben die europäischen Regierungen systematisch die diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Russland abgebaut und gleichzeitig einen Stellvertreterkrieg gegen das Land geführt – auf Kosten der Ukraine. Auch wenn es viele immer noch nicht wahrhaben wollen: Europa befindet sich im Krieg – militärisch, wirtschaftlich und kulturell – mit der größten Atommacht der Welt. Vom Westen gelieferte Waffen, Geheimdienstinformationen und Finanzmittel haben zum Tod von Tausenden von russischen Soldaten beigetragen.
Und das ist mitnichten zum ersten Mal. Die europäischen Mächte haben wiederholt Krieg gegen Russland geführt – im Krim-Krieg, im Ersten Weltkrieg und am katastrophalsten im Zweiten Weltkrieg, als Nazi-Deutschland mit der „Operation Barbarossa“ den tödlichsten Feldzug der Geschichte gegen die Sowjetunion startete, der Millionen russische Opfer forderte. Jetzt spielt Europa wieder einmal mit dem Feuer. Was wir erleben, ist keine Reaktion auf die russische Invasion im Jahr 2022, sondern die Fortsetzung einer jahrzehntelangen geopolitischen Offensive, die diese letztlich provoziert hat.
Über dreißig Jahre lang haben die meisten Europäer nichts von diesem unsichtbaren Krieg mitbekommen, der sich auf ihrem Kontinent abspielt. Die Osterweiterung der NATO, die verschiedenen „Farbenrevolutionen“ in den postsowjetischen Ländern, der vom Westen unterstützte Putsch in der Ukraine 2014, der anschließende Bürgerkrieg im Donbass, die Wirtschaftssanktionen und die unerbittliche Medienkampagne gegen Russland – all das waren nur verschiedene Phasen eines Krieges zwischen dem Westen und Russland. Vor dreieinhalb Jahren ist er nur in eine viel offenere Phase getreten.
Was dies noch beunruhigender macht, ist, dass diese Kampagne nicht einmal von einem europäischen strategischen Kalkül angetrieben wurde. Tatsächlich kann Europa von stabilen Beziehungen zum postsowjetischen Russland nur profitieren. Stattdessen wurde dieser Bruch im Interesse einer ausländischen Macht – der Vereinigten Staaten – herbeigeführt, für die es schon immer ein geostrategischer Imperativ war, Europa von Russland getrennt zu halten. Russland stellte nicht nur eine Herausforderung für die Vorherrschaft der USA im Kalten Krieg dar, sondern auch für die unipolare Hegemonie, die darauf folgte. Deshalb hat Washington in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg versucht, Russland wirtschaftlich, politisch und kulturell zu demontieren – und dabei Europa als Brückenkopf benutzt.
Während viele europäische Staats- und Regierungschefs ihre Beziehungen zu Russland in den 2000er-Jahren vertieften, fehlte ihnen der politische Mut – oder die Unabhängigkeit –, sich dem Druck Washingtons zu widersetzen. Ob aus Unwissenheit, Komplizenschaft oder Feigheit – die europäischen Staats- und Regierungschefs tragen die kollektive Verantwortung für das Wiederaufflammen der Feindseligkeit, die den Kontinent einst in zwei Weltkriege führte.
Und wie in früheren Episoden wurde auch diese jüngste Eskalation von einer aggressiven Kampagne der Entmenschlichung und Russophobie begleitet. In Talkshows wurde dazu aufgerufen, russische Regierungsgebäude zu bombardieren, an den EU-Grenzen wurden russische Autos und Telefone beschlagnahmt, russische Literatur und Kunst wurde aus europäischen Einrichtungen entfernt, und russische Sportler mussten ohne ihre Flagge oder Hymne an Wettkämpfen teilnehmen.
Und die europäischen Staats- und Regierungschefs schüren das Feuer immer weiter mit aufrührerischer Rhetorik und massiven Aufrüstungsprogrammen, die mit dem Schreckgespenst einer russischen Bedrohung gerechtfertigt werden, die es einfach nicht gibt. Sie errichten einen neuen Eisernen Vorhang – nicht nur physisch, sondern auch psychologisch und kulturell. Die feindseligen Reaktionen auf führende Politiker wie den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico, der es wagte, seine Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 9. Mai zu erklären, sprechen Bände. Es darf keinen Kontakt mit dem „russischen Monster“ geben – das ist das neue Dogma der europäischen „Diplomatie“.
Die Folgen dieser Politik sind verheerend. Wirtschaftlich ist der Bruch mit Russland – vor allem der Verlust an günstiger Energie – katastrophal. In sicherheitspolitischer Hinsicht hat der Westen Europa an den Rand einer direkten Konfrontation mit einer atomar bewaffneten Supermacht gebracht. Diese Katastrophe konnte bisher nur dank der Zurückhaltung der russischen Führung abgewendet werden, trotz wiederholter westlicher Provokationen.
Ebenso gravierend sind die kulturellen und – ich wage zu sagen – geistigen Folgen dieser erzwungenen Trennung. Seit Jahrhunderten findet zwischen Europa und Russland ein reicher Prozess kulturellen Austausches statt – in der Literatur, der Musik, dem Kino, der Philosophie. Die russische Kultur ist Teil des europäischen Erbes, so wie die europäische Kultur Teil des russischen Erbes ist.
Auch in politischer Hinsicht spielte die Sowjetunion eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Nachkriegseuropas. Allein die Existenz der UdSSR nährte den Traum vom westlichen demokratischen Sozialismus und machte die westliche Sozialdemokratie überhaupt erst möglich, indem sie die Eliten zwang, den Wohlfahrtsstaat und die Rechte der Arbeitnehmer zu akzeptieren. Als Italiener bin ich mir der engen Verbindungen zwischen der Kommunistischen Partei Italiens und der Sowjetunion besonders bewusst – Verbindungen, die das politische Leben Italiens weit über den Kalten Krieg hinaus beeinflusst haben.
Was die USA und ihre europäischen Stellvertreter getan haben – sei es durch Handeln oder Untätigkeit –, ist eine Tragödie von historischem Ausmaß. Wie der deutsche Philosoph Hauke Ritz in seinem bemerkenswerten Buch „Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas“ schreibt:
„Diesen Freund abzulehnen und möglicherweise für immer zu verlieren, indem man die Abspaltung der Ukraine von Russland plante, wie es einst das deutsche Oberkommando im Ersten Weltkrieg tat, ist vielleicht der dramatischste Fehler, den Europa in seiner gesamten Geschichte gemacht hat.“
Deshalb habe ich mich entschieden, am 9. Mai in Moskau zu sein. Es ist ein kleiner, aber bewusster Akt des Trotzes gegen den Versuch, die Beziehungen zwischen Europa und Russland zu kappen. Der Zeitpunkt ist besonders symbolträchtig: Der 9. Mai erinnert an den Sieg Russlands über den Nationalsozialismus – eine Geschichte, die die europäischen Staats- und Regierungschefs nun umzuschreiben oder auszulöschen versuchen.
Dies mag wie eine unbedeutende Geste erscheinen, aber selbst symbolische Handlungen sind wichtig. Europa befindet sich heute in einem gefährlichen Interregnum: Die alte transatlantische Ordnung ist zusammengebrochen, aber keine neue Struktur ist bisher an ihre Stelle getreten. In diesem Vakuum klammern sich rücksichtslose Politiker an überholte Institutionen und wahnhafte Ideologien. Diese Übergangszeit zwischen der sterbenden alten Welt und der noch nicht geborenen neuen Welt ist eine äußerst gefährliche Zeit, in der verzweifelte Politiker leicht einen Kurzschluss verursachen können.
Können die Beziehungen zu Russland repariert werden? Diese Frage ist nicht nur geopolitisch, sondern auch existenziell. Europas Identitätskrise, seine strategische Bedeutungslosigkeit und sein sozialer Zerfall sind alle auf eine tiefere Ursache zurückzuführen: Europa hat sich in den letzten 80 Jahren nicht selbst regiert. Es wurde einer externen Macht – den Vereinigten Staaten – untergeordnet und von seinen eigenen historischen und kulturellen Wurzeln abgeschnitten.
Der Mythos „der Westen“ ist eine Fiktion – ein Euphemismus für ein informelles US-Imperium. Indem Europa die Beziehungen zu Russland abgebrochen hat, hat es auch die Beziehungen zu sich selbst abgebrochen. Wie Ritz argumentiert, kann Europa nur dann seine kulturelle und politische Souveränität zurückgewinnen, wenn es sich wieder mit Russland verbindet. Nur Russland hat unter den „europäischen“ Nationen eine Vision der europäischen Kultur bewahrt, die in der Tradition verwurzelt ist, im Gegensatz zu dem hohlen Postmodernismus, den die atlantische Welt exportiert.
Kurz gesagt, Europas Überleben hängt davon ab, mit den USA zu brechen und eine postatlantische Identität zu schaffen. Das bedeutet, sich wieder mit Russland zu verbinden – nicht als politisches Zugeständnis, sondern als zivilisatorisches Gebot. Das ist eine gewaltige Aufgabe, aber es ist der einzig gangbare Weg nach vorn. Deshalb werde ich – und viele andere Europäer – am 9. Mai in Moskau (versuchen zu) sein: um mit dem Wiederaufbau der Brücken zu beginnen, die andere sich so sehr bemüht haben, zu zerstören.
Dieser Artikel wurde zuerst im englischen Original auf Thomas Fazis Substack veröffentlicht.
Titelbild: Shutterstock / Stanislaw Palamar