Experteninterview: Vegane Supplementation zwischen Wissenschaft und Spekulation
Kaum ein Thema sorgt in der beVegt-Community derzeit für so viele Diskussionen wie die Supplementation. Immer neue Empfehlungen, teils widersprüchliche Aussagen und eine wachsende Zahl an Produkten machen es nicht gerade leicht, den Überblick zu behalten: Welche Supplemente sind wirklich notwendig und sinnvoll? Wie ernst sollte man die aktuelle Diskussion rund um Kreatin, Carnitin, Taurin […] Der Beitrag Experteninterview: Vegane Supplementation zwischen Wissenschaft und Spekulation ist zuerst auf beVegt - vegan leben und laufen erschienen.


Kaum ein Thema sorgt in der beVegt-Community derzeit für so viele Diskussionen wie die Supplementation. Immer neue Empfehlungen, teils widersprüchliche Aussagen und eine wachsende Zahl an Produkten machen es nicht gerade leicht, den Überblick zu behalten: Welche Supplemente sind wirklich notwendig und sinnvoll? Wie ernst sollte man die aktuelle Diskussion rund um Kreatin, Carnitin, Taurin und ähnliche Nährstoffe nehmen?
Und wie ist es generell um die vegane Ernährung bestellt, wenn sie angeblich nur mit einer langen Liste an Nahrungsergänzungsmitteln funktioniert?
In den letzten Monaten haben uns immer mehr Fragen zu diesen Themen erreicht. Um etwas mehr Klarheit in die Debatte zu bringen, haben wir mit Dr. Christian Koeder gesprochen. Christian ist promovierter Ernährungswissenschaftler, lebt seit vielen Jahren vegan und befasst sich intensiv mit der wissenschaftlichen Studienlage zur pflanzlichen Ernährung.
In diesem Interview teilt er seine Einschätzungen zu den wichtigsten Nährstoffen, aktuellen Diskussionen – und dazu, wie man sich in der Informationsflut rund um Ernährung überhaupt noch zurechtfinden kann.
Christian, kannst du dich und deine Expertise im Bereich der veganen Ernährung kurz vorstellen?

Seit 1997 lebe ich aus ethischen Gründen vegan. Über diverse Umwege kam ich irgendwann zur Ernährungswissenschaft. Ich habe zum Beispiel viele Texte der damaligen Version von VeganHealth.org, die Vegan Society-Broschüre „Plant-Based Nutrition“ und den „berühmten“ offenen Brief von Stephen Walsh „What every vegan should know about vitamin B12“ übersetzt. Zudem habe ich ein paar Bücher über Veganismus und vegane Ernährung geschrieben.
Irgendwann habe ich dann Ernährungswissenschaften studiert (Bachelor und Master of Science in Ernährungswissenschaften in Gießen) und danach bei Prof. Heike Englert (FH Münster) und Prof. Andreas Hahn (Uni Hannover) promoviert.
Und in letzter Zeit konnte ich auch ein paar Artikel in Fachzeitschriften zum Thema vegane Ernährung veröffentlichen, z.B. Empfehlungen zur Versorgung mit den zehn relevantesten, potenziell kritischen Nährstoffen und Empfehlungen zur Supplementierung bei veganer Beikost.
Wie stehst du grundsätzlich zur Supplementierung bei veganer Ernährung? Siehst du sie als notwendiges Übel, als sinnvolle Ergänzung oder als Geldmacherei der Supplemente-Industrie?
Ich finde, am besten passt „sinnvolle Ergänzung“, wenn man Supplementierung allgemein meint. Das heißt aber nicht, dass jede Form von Supplementierung unbedingt sinnvoll ist. Ob man es als Übel bezeichnet, ist subjektiv. Am einfachsten und auch für die Verbreitung der veganen Lebensweise am praktischsten wäre es natürlich, wenn man essen könnte, was man will, und dabei automatisch perfekt mit Nährstoffen versorgt wäre. Aber das bietet keine Ernährungsform.
Eigentlich wäre es ganz einfach zu lösen: durch eine viel weiter verbreitete Anreicherung von Lebensmitteln, besonders der Produkte, die tierische Lebensmittel ersetzen sollen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das in naher Zukunft viel stärker von den Herstellerfirmen umgesetzt werden wird. Ein paar große Firmen wie Alpro und Oatly machen das ja schon. Ich hoffe, es findet sich bald auch eine Lösung und ein Wollen zur Anreicherung von Bioprodukten. Vegane Alternativprodukte sollten keine Nachteile gegenüber Fleisch etc. haben, also müssen die Alternativen auch Vitamin B12 etc. enthalten – das finde ich logisch. Das könnte man auch mit Tofu, Hummus usw. machen.
Zum Thema Geldmacherei: Das Hauptanliegen von Unternehmen ist finanziell zu profitieren, schon rein aus Überlebensgründen. Das ist ein komplexes Thema. Viele Dinge sind nicht deshalb beliebt, weil sie so gut sind (z. B. Coca Cola, McDonald’s, Starbucks), sondern weil es geniale Marketingkampagnen gibt. Die Werbung lügt – das ist nichts Neues („Milch von glücklichen Kühen“ etc.). Aber das heißt nicht, dass alle Produkte unnötig oder schlecht sind oder dass alles komplett erlogen und alles eine große Verschwörung ist.
Viele Nährstoffe sind ja auch extrem kostengünstig zu bekommen, z. B. hochdosierte B12-Tabletten, Jodsalz usw. Quacksalber und Betrüger gibt es schon sehr lange. Man sollte also versuchen, nicht vollkommen naiv zu sein.
Als wir beide in 2010 vegan wurden, galt eine Supplementierung mit Vitamin B12 als ausreichend. Inzwischen kann man das Gefühl bekommen, dass man immer umfangreicher supplementieren muss, um keinen Nährstoffmangel zu riskieren. Was steckt deiner Meinung nach hinter diesem Wandel?
Das Wissen über vegane Ernährung und mögliche Defizite hat sich zwar weiterentwickelt, und es gibt jetzt viel mehr Studien mit Veganer:innen, aber die abzuleitenden Empfehlungen haben sich kaum verändert, sondern bestätigt. Ich würde deshalb sagen, einen solchen extremen Wandel im Wissen gibt es nicht.
Bereits in den 1950er-Jahren gab es Studien mit Veganern, mit Vitamin B12 angereicherte Produkte und auch B12-Supplemente, und schon in den 1980er-Jahren wurden Jod und Selen und auch Omega-3-Fettsäuren thematisiert. Auch in der oben erwähnten Broschüre der Vegan Society von 2008 sind Vitamin B12, Kalzium, Vitamin D, Jod, Omega-3-Fettsäuren, Eisen, Zink, Selen, Vitamin A und Protein genannt.
Es gibt auch unter Ernährungswissenschaftler:innen, die sich seit Jahrzehnten mit veganer Ernährung befassen, kaum eine Kontroverse zu „kritischen Nährstoffen“. Es gibt eher kleine Meinungsunterschiede, z.B. dazu, wie viel Vitamin B12 pro Tag supplementiert werden sollte: 10 µg pro Tag oder lieber 100 µg pro Tag? Ist das eine zu niedrig, ist das andere zu hoch? So wichtig sind diese Fragen aber nicht.
Die wichtigsten „kritischen“ Nährstoffe bei veganer Ernährung in Deutschland sind Vitamin B12, Kalzium, Vitamin D (im Winterhalbjahr) und Jod. Wenn man diese abdeckt – und sich allgemein einigermaßen gesund ernährt – kann man sich schon mal entspannt zurücklehnen. Bei manchen Frauen im prämenstruellen Alter ist außerdem Eisen bekanntermaßen ein Thema.
Das mit der umfangreichen Supplementation kommt darauf an. Erstens kann man einfach ein ganz „normales“ Multivitamin-Multimineral-Präparat nehmen. Viele Multipräparate sind leider nicht ganz vegan, weil sie nicht-veganes Vitamin D3 (aus Wolle) enthalten, aber es gibt auch vegane Optionen. Oder man kann ein minimalistisches Multipräparat nehmen wie das VEG1 der Vegan Society, trotz Brexit auch in Deutschland relativ günstig zu bekommen. Die Vegan Society ist eine Charity und sicher nicht an Geschäftemacherei interessiert. Stephen Walsh von der Vegan Society hat dieses Supplement konzipiert und sicherlich noch nie einen Penny daran verdient.
Zweitens muss man eine Art Hierarchie erkennen: Was ist wichtig und wie wichtig und wofür? Geht es nur darum, Nachteile gegenüber landesüblicher Mischkost zu vermeiden? Oder Nachteile zu vermeiden gegenüber einer „optimalen“ Mischkost (die wohl kaum jemand befolgt)? Oder geht es darum, eine absolut optimierte vegane Ernährung zusammenzustellen? Und eine ungesunde Ernährung wird nicht durch Supplementierung mit 50 Nährstoffen gesund.
Eine einigermaßen gute (aber nicht unbedingt „optimierte“) Vitamin B12-Zufuhr ist sicherlich am wichtigsten, weil dieser Nährstoff bei veganer Ernährung (fast) komplett fehlen kann. Zink, Selen und Vitamin A sind sicher weniger dringlich zu beachten. Und für die allermeisten Leute noch viel weniger zu beachten sind Nährstoffe wie Kreatin, Taurin, Carnosin, Carnitin etc. Auch Cholin oder Riboflavin (Vitamin B2) brauchen die meisten Veganer:innen ziemlich sicher nicht besonders zu beachten.
Omega-3-Fettsäuren sind wieder ein großes (im Sinne von umfangreiches, komplexes) Thema. Ich bin nicht überzeugt, dass man EPA- und/oder DHA-Supplemente braucht. Ich nehme keine. Aber eine gute ALA-Quelle (alpha-Linolensäure) wie z. B. Rapsöl als Standardöl zum Kochen und Backen ist eine gute Idee. Es gibt mittlerweile ja auch in Deutschland solche „Anti-Samenöl“-Aktivisten – das ist vollkommener Quatsch. Zu derartigen, allgemeinen Themen findet man auf der Harvard-Website immer gute, kurz zusammengefasste Infos.
Du hast gerade schon Carnitin, Taurin, Kreatin und Cholin angesprochen. Über diese Nährstoffe wird in Teilen der veganen Community seit einiger Zeit vermehrt diskutiert. Was ist deine Einschätzung dazu?
Das sind tatsächlich keine neue Themen, diese Nährstoffe werden schon seit vielen Jahrzehnten thematisiert. Schon 2006 behauptete John Robbins (der in den 1980er und 90er-Jahren mit seinem Buch „Diet for a new America“ ein sehr einflussreicher „Vegan-Autor“ war) in seinem Buch „Healthy at 100“, dass Veganer:innen auf Carnosin achten sollten (er sagte aber nichts Genaueres dazu). Carnitin, Carnosin, Kreatin, Cholin und Taurin wurden z. B. auch in meinem Buch Veganismus* von 2014 kurz thematisiert – und natürlich auch von Jack Norris auf VeganHealth.org.
Meine Einschätzung zu der Frage „Sollen Veganer:innen im Allgemeinen Carnitin, Taurin, Kreatin und Cholin supplementieren?“ ist: Nein, das sollen sie nicht. Besonders Carnitin, Kreatin und Cholin sind auch nicht unbedingt unbedenklich (siehe z. B. hier und hier).
Es gibt wahrscheinlich Einzelpersonen, die von einzelnen dieser Supplemente profitieren könnten, besonders Menschen mit bestimmten gesundheitlichen Beschwerden. Man sollte die Dosis aber moderat halten und auf mögliche Nebenwirkungen achten. Es gibt zudem seltene Ausnahmen mit metabolischen Defekten, bei denen eine Supplementierung unabhängig von veganer Ernährung sinnvoll oder notwendig ist.
Rein hypothetisch: Carnitin könnte manchen Leuten mit Migräne helfen. Taurin könnte bei Bluthochdruck helfen. Kreatin könnte bei Profi-Gewichthebern und -Sprintern (große Muskelkraft, extrem kurze Zeitdauer) eine günstige Wirkung haben. Cholin könnte bei manchen Leuten mit schlechtem Gedächtnis zu Verbesserungen führen. Cholin gilt außerdem – zumindest in den USA und bei der EFSA – als essenzieller Nährstoff (das ist aber umstritten). Cholin-Supplementierung könnte in der Schwangerschaft und Stillzeit nützlich sein. Das ist aber alles extrem unsicher. Das sind also relativ wilde Spekulationen. Diese ganzen Supplemente sind auch besonders „im Fitnessstudio“ bei vielen beliebt.
Spezielle Strategien, um sich ausreichend mit Carnitin, Taurin, Kreatin und Cholin bei veganer Ernährung zu versorgen, sind sehr wahrscheinlich für fast alle Veganer:innen nicht notwendig.
Für Cholin unterschreiten sicherlich einige Veganer:innen wie auch Mischköstler:innen die Zufuhrempfehlungen (USA/EFSA). Ob das relevant ist, ist aber unbekannt. Ich glaube, für die allermeisten ist es das nicht. Die Zufuhrempfehlung für Cholin spiegelt nicht den Cholinbedarf wider (der ist unbekannt) und die Herleitung dieser Zufuhrempfehlung steht auf wackeligen Beinen. Proteinreiche Lebensmittel, besonders Hülsenfrüchte, aber auch Vollkorn, Nüsse und Samenkerne, sind reich an sehr vielen Nährstoffen und eine wichtige Grundlage einer gesunden Ernährung – und sie liefern Cholin. Weizenkeime sollen auch reich an Cholin sein – das sollte mal jemand in Deutschland testen lassen.
Stimmt es, dass die Eigensynthese bestimmter Nährstoffe wie z.B. Carnitin oder Taurin bei manchen Menschen nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken?
Das ist eine sehr weitgefasste Frage. Es gibt seltene angeborene Defekte, die dazu führen, dass man eine bestimmte Substanz zuführen muss, egal wie man sich ernährt, z. B. Carnitin. Es gibt auch Personen, die um zu überleben ganz spezielle, künstlich hergestellte Fettsäuren bräuchten, die extrem teuer und praktisch nicht finanzierbar sind. Das sind seltene Extremfälle.
Es gibt zudem immer Menschen, die einen leicht höheren Bedarf an bestimmten Nährstoffen haben, z.B. an Protein. Die allermeisten Veganer:inner müssen sich sicher nicht um Carnitin und Taurin kümmern. L-Carnitin ist – wie auch Kreatin, Beta-Alanin/Carnosin und Citrullin – als Supplement für Hochleistungssportler:innen bekannt, besonders für anaeroben Sport wie Gewichtheben oder Sprint.
Auch in Bezug auf vegane Ernährung sind diese manchmal als „carninutrients“ bezeichneten Nährstoffe (ein bei antiveganen Propagandist:innen beliebter Begriff) nichts Neues, siehe z. B. hier. Sie wurden aber bisher in Vegan-Büchern nicht ausführlich thematisiert (eine Ausnahme ist z.B. Vegan for life* von Jack Norris und Virginia Messina), weil diese Themen für Laien, auch wenn das arrogant klingen mag, nicht wichtig sind. In Ausnahmefällen könnten sie bei einigen Veganer:innen nützlich sein – sehr wahrscheinlich aber nur bei einem geringen Anteil.
Ganz wissenschaftlich kann man diese Frage mit „Man weiß es nicht“ beantworten, weil man in der Wissenschaft ziemlich ausführliche Evidenz braucht, um etwas einigermaßen sicher zu wissen. Es gibt aber viele Millionen Veganer:innen auf der Welt, und die allermeisten supplementieren sicherlich kein Carnitin, Kreatin, Beta-Alanin/Carnosin oder Taurin – und auch kein Cholin. Und die Studienlage bisher zeigt, dass vegane Ernährung gar nicht schlecht abschneidet. Eine gute (wenn auch unvollständige) Übersicht von Gina Segovia- Siapco und Joan Sabaté gibt es z.B. hier.
Es gibt z.B. auch die Hypothese, dass bei manchen Veganer:innen die Cholesterinwerte „zu niedrig“ sein könnten und sie daher von einem regelmäßigen Kokosöl-Verzehr profitieren könnten. Das ist aber extrem unsicher – und viele Kardiolog:innen würden einen Herzinfarkt bekommen, wenn man so etwas laut sagt. Hypothesen aufstellen kann man unendlich viele, aber Hypothesen sind nur wilde Spekulationen.
Wie sieht deine eigene Supplementation denn aktuell aus, und was empfiehlst du einer Person, die sich vegan ernähren möchte und dich um Rat beim Thema Supplemente bittet?
Ich selber nehme das „Vegan Society VEG1“-Supplement. Ich nehme das, weil es B12, Vitamin D, Jod und Selen enthält. Für alpha-Linolensäure (Omega-3) esse ich gemahlene Leinsamen, Leinöl, Rapsöl oder Walnüsse etc. Für Kalzium streue ich manchmal ein bisschen Lithothamnium calcareum-Pulver ins Müsli oder die Tomatensoße. Wenn ich auf Reisen bin, nehme ich es aber nicht so genau.
Ich experimentiere auch manchmal mit Zink-Supplementen, habe aber persönlich noch nie irgendeine Wirkung bemerkt (z.B. wenn ich erkältet war). Ich empfehle das, was ich selber mache und was ich publiziert habe. Eine kurze Zusammenfassung meiner Empfehlungen findet sich auch hier.
Und wie sieht es mit kritischen Lebensphasen wie Schwangerschaft, Stillzeit und Beikost aus?
Eine Schwangerschaft sollte, meiner Meinung nach, geplant sein, und davor sollte man möglichst gesund sein. Besonders wichtig während Schwangerschaft, Stillzeit und Beikost ist das Abdecken des Vitamin B12-Bedarfs. Ganz wichtig – und bisher oft vernachlässigt in der veganen Community – ist auch Jod (nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel). Jod ist wichtig für die Gehirnentwicklung und Intelligenz des Kindes. Zudem ist Deutschland ein Jodmangel-Land und Kuhmilch ist aufgrund von Futtermittelanreicherung und jodhaltigen Desinfektionsmitteln die Hauptquelle für Jod.
Es gibt die Empfehlung, dass vegane Schwangere Cholin supplementieren sollten. Es ist unsicher, ob das notwendig ist, aber es spricht auch wenig dagegen und manche vegane Multipräparate und pränatale Präparate enthalten zumindest ein bisschen Cholin. Cholinsupplementierung könnte das Risiko für Neuralrohrdefekt (Supplementierung auch schon vor der Schwangerschaft) senken und die Gehirnentwicklung günstig beeinflussen. Das gilt für Mischköstler:innen und (vermutlich) Veganer:innen. Das bedeutet aber nicht, dass eine solche Supplementierung notwendig ist (anders als bei B12 – absolut notwendig), sondern dass eine solche Supplementierung möglicherweise nützlich sein könnte.
Die vegane Ernährung ist ja auch weit davon entfernt cholin-frei zu sein. Soja enthält viel Cholin. Wer meint, mehr Cholin sei besser, kann Cholin auch einzeln supplementieren, aber am besten nicht mehr als die Tagesempfehlung, also ca. 400–500 mg pro Tag während der Schwangerschaft und Stillzeit.
Zusätzlich wird während der Schwangerschaft oft ein EPA/DHA-Supplement empfohlen (der tatsächliche Benefit davon ist aber unsicher) sowie mit Kalzium angereicherte Lebensmittel (für die Knochengesundheit der Schwangeren/Stillenden). In meinem eigenen Beikost-Heft sind auch Empfehlungen für die Supplementierung während der Stillzeit enthalten.
Es gibt zu veganer Schwangerschaft bisher sehr wenige Studien. Aus wissenschaftlicher Sicht kann man also kaum irgendetwas mit Sicherheit sagen. Niemand kann einem garantieren, dass eine vegane Ernährung während der Schwangerschaft mehr oder weniger gefährlich ist als eine landesübliche Mischkosternährung. Ich würde empfehlen auf die klassischen zehn potenziell kritischen Nährstoffe zu achten, also besonders Vitamin B12 und Jod und außerdem Kalzium, Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren, Eisen, Zink, Selen, Vitamin A und Protein. Es gelten praktisch dieselben Nährstoffempfehlungen wie für andere vegane Frauen.
Generell kann man sich an etablierte Bücher halten, wie die von Reed Mangels, Sandra Hood oder Markus Keller. Diese Leute haben viele Jahrzehnte praktische und wissenschaftliche Erfahrung.
Niko Rittenau empfiehlt insbesondere in kritischen Lebensphasen wie Schwangerschaft und Stillzeit die Integration von Eiern in die vegane Ernährung. Er argumentiert, dass Eier eine besonders hohe Nährstoffdichte aufweisen und viele Nährstoffe enthalten, die in pflanzlichen Lebensmitteln nur schwer zu finden sind. Was ist deine Meinung dazu?
Warum irgendjemand gerade Hühnereier empfehlen sollte, ist mir schleierhaft. Hühnereier enthalten sicherlich viele Nährstoffe. Das wird auch immer gerne über Leber gesagt. Kuhmilch enthält auch viele Nährstoffe. Daher wird gerade oft von Wissenschaftler:innen kritisiert, dass manche Milch-Alternativen im Vergleich sehr nährstoffarm aussehen, besonders wenn sie nicht angereichert sind.
Die Aussage, dass Eier eine besonders hohe Nährstoffdichte aufweisen und viele Nährstoffe enthalten, ist aber sehr vage. Welche Nährstoffe? Wenn es um Cholin geht, können vegane Schwangere entweder gute vegane Cholinquellen konsumieren (besonders Soja) oder Cholin supplementieren, um die relativ hoch liegenden Zufuhrempfehlungen (USA und EFSA) zu erreichen. Ob aber eine solche besondere Beachtung der Cholinzufuhr wirklich relevant ist, ist wie oben bereits erwähnt unklar.
Hühnereier sind außerdem, im Gegensatz zu Kuhmilch, keine besonders gute Quelle für einige Nährstoffe, deren Zufuhr bei veganer Ernährung oft niedrig ausfallen kann: u.a. Vitamin B12, Kalzium und Jod. Müssen vegane Schwangere daher Kuhmilch trinken? Nein, aber sie brauchen Vitamin B12 und Jod sowie (für ihre eigenen Knochen) Kalzium. Ethisch sind Hühnereier und Milch bedenklich und aus gesundheitlicher Sicht notwendig sind sie nicht.
In den sozialen Medien melden sich immer mal wieder Menschen zu Wort, die nach einer veganen Ernährung gesundheitliche Probleme entwickelten und sich nach der Wiedereinführung tierischer Produkte besser fühlten. Wie bewertest du das?
Erstens ist es wichtig zu verstehen, dass solche Anekdoten theoretisch auch frei erfundener Quatsch sein könnten und deshalb keinen wissenschaftlichen Wert haben – sie sind aber deswegen nicht unbedingt irrelevant. Es kann sein, dass manche dieser Leute einen ernährungsbedingten Mangel oder mehrere Mängel hatten, die auch von der Art der veganen Ernährung abhängen könnten. Es könnte aber auch an einem komplett anderen Faktor liegen. Ganz typisch bei jungen Frauen ist z. B. Eisenmangel (auch bei ovo-lakto-vegetarischer Ernährung). Relativ typisch bei jungen männlichen hochaktiven Sportlern ist ein zu geringer Proteinanteil in der Ernährung (keine bzw. wenig Hülsenfrüchte, Nudeln mit Tomatensoße, Cola, Obst etc.).
Gäbe es in solchen Fällen eines ernährungsbedingten Mangels immer eine vegane Lösung? Vielleicht ja – hunderprozentig sicher kann man das nicht sagen. Es könnte theoretisch auch Fälle geben, in denen eine vegane Ernährung einen angeborenen metabolischen Defekt deutlicher zum Vorschein bringt. Sicherlich sind Nährstoffmängel manchmal, aber nicht immer, auch nur ein Vorwand. Es ist nun mal praktischer, in einer nicht-veganen Welt nicht vegan zu sein. Wie wohl alle langjährigen Veganer kenne ich viele Ex-Veganer:innen, und von denen sind alle aus „praktischen“ Gründen nicht mehr vegan. Viele sind aber noch überwiegend vegan.
Wenn man die Frage nach echten wissenschaftlichen Fallberichten (im Gegensatz zu Anekdoten) stellt: Viele Fallberichte sind interessant und oft auch relevant. Sie können aber die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines solchen Falls nicht angeben. Außerdem sind Fallberichte oft von Ärzt:innen geschrieben, die sich mit Ernährung nicht besonders gut auskennen. Einige Fallberichte sind auch (absichtlich oder unabsichtlich) verzerrt dargestellt, trotz Publikation in einem Journal mit Peer Review. Über ein Beispiel berichte ich hier.
In letzter Zeit erreichen uns viele Nachrichten von Leser:innen, die durch die teils widersprüchlichen Aussagen zur veganen Supplementation verunsichert sind. Wie gelingt es dir, in diesem Dschungel aus Studien, Social-Media-Beiträgen und Expertenmeinungen die für dich relevanten Informationen zu filtern?
Expertenmeinungen zählen in der Wissenschaft nicht viel. Es mag wiederum arrogant klingen, aber wenn es nicht auf PubMed ist, lese ich es (mit gewissen Ausnahmen) normalerweise nicht mehr. Und PubMed-Artikel in bestimmten Journals lese ich mittlerweile auch fast nicht mehr.
Alles, was ich über die oben bereits angesprochenen Aussagen zu Kreatin, Carnitin, Carnosin, Arachidonsäure, Cholin etc. gehört habe, passt in dieses Schema: Es kann die Hypothese aufgestellt werden, dass Nährstoff XY unter gewissen Umständen kritisch sein könnte. Das ist aber nur Spekulation. Wenn man noch eine Quellenangabe hinzufügt, wird daraus keine evidenzbasierte Aussage. Und man kann daraus auch keine Empfehlung ableiten wie „Veganer:innen müssen Nährstoff XY supplementieren, weil es hypothetisch sein könnte, dass das hilfreich und nicht schädlich wäre.“
Es gibt ja auch viele Vegan-Interessierte, die z. B. Ernährungswissenschaften studieren, oder auch andere wissenschaftliche Bereiche. Aus meiner eigenen Erfahrung: Grundlegend wichtig wäre es erst mal, dass solche Leute gut ausgebildet sind – und sich auch eigenständig gut bilden.
Erschreckend ist, dass selbst manche Student:innen der Ernährungswissenschaften, anscheinend nicht wissen, was „evidenzbasiert“ bedeutet, und anscheinend nicht unterscheiden können zwischen Online-Fortbildung, „Online-Uni“ und einem Studium an einer richtigen Universität – und auch nicht zwischen Hypothese, Theorie und einem einigermaßen gesicherten Zusammenhang, zwischen Studie und Kommentar, zwischen verschiedenen Studientypen oder zwischen (z.B.) Evolutionsbiologie und Ernährungsepidemiologie.
Erschreckend ist auch, wie manche Leute heutzutage irgendeine Frage bei Google oder irgendeiner AI eingeben und die Antwort direkt glauben, wie es dem verblendetsten Religionsfanatiker peinlich wäre. Erschreckend ist, wenn Studenten – selbst manche Promotionsstudenten – auf YouTube „recherchieren“. Erschreckend ist, wenn die „Führungsetage“ von veganen Organisationen es nicht auf die Reihe kriegt, mal eine:n Wissenschaftler:in zu fragen.
Erschreckend ist, wenn selbst promovierte Leute anderer Fachrichtungen (d.h. nicht Ernährungswissenschaften) irgendwelche Zusammenhänge „logisch“ finden und daher selber irgendwelche Empfehlungen „entwickeln“, nach dem Motto „Was logisch ist, muss helfen“ (z.B. dass man jeden Tag 2.000 mg Vitamin C supplementieren sollte oder dass Veganer:innen Kreatin zum Schutz vor Depression supplementieren sollten). Mit Logik allein kommt man in der Ernährungsepidemiologie nicht weit. Logisch kann alles klingen, selbst die verrücktesten Hypothesen.
Welche Herausforderungen und Chancen siehst du für eine evidenzbasierte und gleichzeitig praktikable vegane Ernährung?
Die große Chance ist, dass antivegane Übertreibungen wissenschaftlich nicht haltbar sind, und dass die Wissenschaft viele Antworten liefern kann, wie wir das „vegane Leben“ verbessern können.
Eine große Herausforderung sind die großen Herausforderungen der Gegenwart, z.B. Donald Trump, Krieg, Klimakatastrophe, völlig irrationale politische Strömungen etc. Das sind keine guten Voraussetzungen für ethische Fortschritte. Auch der Mangel an Ethik in der Wissenschaft und Medizin ist ein großes Problem in vielerlei Hinsicht. Die große Macht der Superreichen und der „Algorithmen“, die sensationellen Content bevorzugen, ist ein großes Problem.
Eine große Chance ist es, dass sich wohl die Alternativprodukte durchsetzen werden, die keinerlei Nachteile gegenüber den tierischen Varianten mehr aufweisen. Diese Produkte, nicht nur Lebensmittel, werden auch durch die Wissenschaft immer besser werden. Diese Alternativen könnten Tierprodukte innerhalb von Jahrzehnten fast vollständig verdrängen.
Die Grundlagen der veganen Ernährung sind bekannt. Wie man vegane Ernährung und Gesundheit allgemein genau optimieren und personalisieren kann, lässt sich durch das große wissenschaftliche Interesse hoffentlich immer besser herausfinden. Eventuell werden auch vermehrt ganz einfache Tests entwickelt, die man z.B. zu Hause anwenden kann. Momentan gibt es so was kaum. Anreicherung ist ein wichtiges Thema und organisationsübergreifende Kooperationen zum Thema „Weg von Tierprodukten – jeder Minischritt zählt“ wären gut.
Seriöse vegane Ernährungsberater:innen, aber auch vegane Organisationen, sind wahrscheinlich wichtig. Tierethisch denkende Menschen in allerlei gesellschaftlichen Positionen sind wichtig.
Wie siehst du die Zukunft der veganen Ernährung?
Mir fällt dazu immer eine Aussage von Jonathan Safran Foer ein, dass es einen gesellschaftlichen Austausch geben muss zum Thema Tierrechte und Veganismus (er hat wahrscheinlich eher gesagt Tierethik und Vegetarismus). Bei diesem Prozess wird es sehr viele extreme Meinungen geben. Sehr hilfreich wäre es, wenn diese Diskussion möglichst zielführend von der „veganen Community“ mitgeführt werden würde und man, wo möglich, gemeinsame Nenner sucht. Wenn irgendjemand also eine nicht-vegane Ernährung während der Schwangerschaft empfiehlt, könnte das ja bedeuten, dass man sich zumindest auf die Aussage „vegane Ernährung ist bei nicht-schwangeren Erwachsenen gut möglich“ einigen kann.
Wenn man die Frage stellt „Wird sich vegane Ernährung weiter verbreiten?“, würde ich sagen: Das kann gut sein, wenn sich die Idee von Gerechtigkeit an sich (z. B. auch Menschenrechte) weiter etabliert oder etabliert hält und wenn sich auch gleichzeitig die Idee der Ungerechtigkeit der weitgehenden Ausklammerung der Tiere aus dem ethischen Diskurs – mit dem Ergebnis brutale Tierausbeutung und -tötung – weiter verbreitet. Ohne eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Tierethik, steht die Idee und Praxis von Veganismus auf wackeligen Füßen, würde ich sagen.
Als Wissenschaftler sollte man jetzt hinzufügen: Eine finanzielle Förderung der Erforschung, wie die Verbreitung von Veganismus effektiv und effizient vollzogen werden kann, ist unabdingbar.
Weiterführende Beiträge
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- Wie supplementiert die beVegt-Community?
- Vegane Ernährung: Welche Supplemente verwenden wir (und warum)?
- Blutwerte bei veganer Ernährung: Diese Werte solltest du testen lassen
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