Arktis: Jenseits des Krieges: In diesem Dorf leben Ukrainier und Russen friedlich zusammen
Auf dem Archipel Svalbard schürfen Russen und Ukrainer seit Jahrzehnten gemeinsam nach Kohle. Bis heute. Die Siedlung Barentsburg soll Heimat für alle sein. Dafür brauchen die Menschen im Dorf viel Nähe, guten Willen und die Abgeschiedenheit der Arktis

Auf dem Archipel Svalbard schürfen Russen und Ukrainer seit Jahrzehnten gemeinsam nach Kohle. Bis heute. Die Siedlung Barentsburg soll Heimat für alle sein. Dafür brauchen die Menschen im Dorf viel Nähe, guten Willen und die Abgeschiedenheit der Arktis
Eine träge Truppe Walrosse hat der "Polargirl" bei der Ausfahrt aus dem Hafen von Longyearbyen zugeschaut. Draußen an Deck gibt es für die Passagiere Zwergwal-Steaks vom Grill, Eissturmvögel gleiten haarscharf über die Wellen. Und unter Deck, wo ein Seemann Kaffee ausschenkt, erklärt ein Russe mit amerikanischem Pass einem Ukrainer mit russischem Pass die Weltlage. Der Russe regt sich auf: Dass in manchen Läden im ukrainischen Lwiw Kunden, die Russisch sprechen, nicht mehr bedient würden, das sei Faschismus, sagt er. "So hat es doch damals mit den Juden in Deutschland auch angefangen."
Der Krieg mit an Bord
Der Ukrainer starrt in seine Kaffeetasse. Seit Kriegsbeginn tingelt er durch die Welt, weil er sich weder in der Ukraine noch in Russland sicher fühle. Er hat in Thailand, Armenien und in den Niederlanden gewohnt und offensichtlich schon zu viel über Russen und Ukrainer geredet. Aber auch hier, nah am Nordpol und fern der Welt, ist der Krieg mit an Bord.
Die "Polargirl" wird in wenigen Stunden im Hafen von Barentsburg anlegen. Die beiden Männer sind Touristen. Sie bereisen einen kalten, großen und zerklüfteten Flecken Erde, einen Archipel, der früher Spitzbergen genannt wurde und nun schon länger Svalbard heißt.
Das Bergarbeiterdorf Barentsburg an der Westküste Svalbards ist für die Männer besonders interessant, weil dort – weit entfernt von der eigentlichen Heimat – Landsleute leben. Russen und Ukrainer. Zusammen. Schon sehr lange, und immer noch. Trotz Krieg. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen: Sie leben in einer russischen Siedlung auf einer von Norwegen verwalteten Insel.
Versteck vor der Welt
Kann diese Siedlung eine Heimat für alle bieten? Vielleicht kühlt die Luft der Arktis den Konflikt. Vielleicht hilft der Abstand, die Dinge, die so kompliziert klingen, klarer zu sehen. Eines ist Barentsburg auf jeden Fall: ein guter Ort, um sich vor der Welt zu verstecken.
Während die "Polargirl" auf Barentsburg zusteuert, sieht man zunächst die schneebedeckten Hügel am Grønfjord. Weit hinten am Horizont erhebt sich das Prinz-Karl-Vorland, die lang gestreckte Insel, die der Seefahrer Willem Barents 1596 vermutlich zunächst sah, als er das sagenumwobene "Neue Land" zum ersten Mal erblickte.
"Unser Ziel ist der Kommunismus"
262 hölzerne Stufen führen vom Anlegekai hinauf in den Ort, vorbei an zugenagelten Bruchbuden, um die ein Polarfuchs streunt. Am Hochufer stehen eine Leninbüste und ein Denkmal mit der Aufschrift "Unser Ziel ist der Kommunismus". Auf dem Förderkran für die Kohle, die unter Barentsburg liegt, wehen drei Flaggen: die russische, die sowjetische und die Flagge des Minenbetreibers Arktikugol: ein Eisbär, der auf dem Nordpol spazieren geht.
Es ist kurz vor Mittsommer, nicht gerade die beste Reisezeit für Svalbard. Tauwetter in Barentsburg, der Schnee schmuddelt, und es ist kein Nachschub in Sicht. Stattdessen plätschert überall Wasser. Es prasselt als Regen vom Himmel, ergießt sich in kleinen Fällen von den Felsen, plätschert bergab. Alles sieht bei diesem Wetter natürlich grau aus. Auch der "Fernseher" – so nennen die Menschen in Barentsburg die Aussichtsplattform über der Bucht.
Ein Mann mit zwei Gesichtern
Dort steht später an diesem Tag ein fast noch junger, schmaler Mann, den Blick ins Nirgendwo gerichtet. Das ist eines der Phänomene von Svalbard: dass der Blick oft nirgendwo haften bleibt. Über dem Mann steht ein Himmel mit außerordentlich tiefen Wolken. Vor ihm breitet sich die milchige See aus.
Igor Gorschkow, 35 Jahre alt, Fremdenführer, hat jetzt doch etwas zum Draufschauen gefunden: Ein Schiff der Linie Hurtigruten, ein Katamaran, fährt in gehöriger Entfernung vorüber. Gorschkow sagt: "Ich würde gern wissen, was sie dort drüben über uns erzählen. Ob sie den Krieg überhaupt erwähnen?" Seit Kriegsbeginn boykottiert Hurtigruten Barentsburg und steuert den Anlegekai nicht mehr an. Touristen, wenn sie denn kommen, wie die beiden von der "Polargirl", reisen mit kleinen russischen Agenturen, die von Longyearbyen aus Touren anbieten. Auch die dürfen auf dem norwegisch verwalteten Svalbard weiterhin arbeiten.
Igor Gorschkow ist ein Mann mit zwei Gesichtern. Manchmal geht er durch Barentsburg, und wenn er jemanden trifft, hebt er nur knapp die Hand zum Gruß, was unüblich ist für diesen Ort, an dem jeder jede kennt und ein paar Worte im Vorbeigehen zum guten Ton gehören. Ein anderes Mal wieder redet er so schnell, wie er denkt, ohne Punkt und Komma.
In diesen Minuten auf der Aussichtsplattform ist Redezeit. Er vermutet seine ehemalige Kollegin Natalja auf dem Katamaran, erzählt Gorschkow. Er habe gehofft, das Schiff würde näherkommen. "Vielleicht hätten wir uns winken können, vielleicht sogar etwas zurufen." Dieses Mal nicht. Der Katamaran wird bereits wieder zur Silhouette. Die dunklen Leiber von zwei Walrossen dümpeln unten im Fjord. Gorschkow wendet sich ab.
"Ich hoffe, der Krieg wird bald vorbei sein"
Es ist jetzt sein dritter Sommer in Barentsburg, er sieht ein wenig müde aus und überlegt, wie es mit ihm weitergehen soll. Er könnte nach Südostasien gehen, denkt er laut nach, ein Freund arbeitet in Vietnam als Lehrer. Oder nach Deutschland, er hat Familie im Ostallgäu. Auf keinen Fall will er zurück dorthin, wo er herkommt, nach Nowgorod im Westen Russlands.
Igor Gorschkow kam im Februar 2022 mit einem der letzten Linienflüge, die Moskau in Richtung Oslo verließen. Danach griffen die europäischen Sanktionen – auch für russische Fluggesellschaften. Gorschkow flog weiter nach Longyearbyen, der norwegischen Siedlung auf Svalbard, dann weiter nach Barentsburg und fing dort als Tourguide an.
Im Krieg gegen die eigene Familie kämpfen? Keine Option
Er erzählt Touristen, dass die berühmte russische Ballerina Maja Plissezkaja als Kind vier Jahre in Barentsburg lebte. Ihr Vater war der erste Minendirektor. Er zeigt die Turnhalle und berichtet, dass bis vor Kurzem Norweger aus Longyearbyen zu Wettkämpfen eingeflogen kamen. Wegen des Krieges ist auch damit Schluss. "Ich hoffe, der Krieg wird bald vorbei sein und wir können uns wieder treffen."
Gorschkow sagt, er ist heilfroh, dass er damals den letzten Flug nach Oslo erwischt hat. Seine Mutter stammt aus Donezk in der Ostukraine, sein Großvater und einige Cousins und Cousinen wohnen in Tschernihiw, einer Stadt bei Kiew. Als Soldat eingezogen werden und dann im Krieg gegen die eigene Familie kämpfen? "Das ist keine Option", sagt Igor Gorschkow.
Wenn er Gäste in Barentsburg begrüßt, erzählt er vom Krieg. Und er sagt: "Die meisten hier sind dagegen." Die Touristen aus Deutschland, Japan oder den USA wissen dann nicht genau, ob das bloß Gorschkows Wunsch ist oder der Realität entspricht.
Für Igor Gorschkow stimmt der Satz. Er hat einen Weg gefunden, aus Russland fortzugehen und gleichzeitig unter Russen zu leben.
Mitten im wieder erstarkten Kalten Krieg
Die Russen und ihre Vorfahren kommen schon lange nach Svalbard. Zunächst waren es vor vielen Hundert Jahren die Pomoren aus Nordrussland. Sie segelten über das Weiße Meer und jagten auf dem Archipel Eisbären und Füchse. Lange war Svalbard ein Niemandsland, ein staatenloses Gebiet ohne Souverän. Ein Zustand, der allerdings nicht ewig währen durfte. In den diplomatischen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg erhielt Norwegen die Souveränität über den Archipel. Der "Spitzbergen-Vertrag" erklärt Svalbard zu einem entmilitarisierten Gebiet und regelt außerdem, dass alle Unterzeichner auf Svalbard ohne weitere Bedingungen arbeiten und Handel treiben dürfen. Auch die Sowjetunion ratifizierte den Vertrag.
So wurde das sowjetische Minenunternehmen Arktikugol 1931 auf Svalbard gegründet. Ein Jahr später übernahm Arktikugol einige Minen, die bis dahin ein niederländisches Unternehmen betrieben hatte. Darunter Barentsburg.
Und heute: Schwebt der Ort mitten im wieder erstarkten Kalten Krieg in einem Dazwischen. Eine norwegische Verwaltung und norwegische Gesetze bestimmen über Svalbard und damit auch über das Stück kalten Felsen, auf dem Barentsburg liegt. Andererseits gehören die Mine, der Grund und Boden, einem russischen Staatsunternehmen; der Minendirektor ist so etwas wie der Bürgermeister von Barentsburg.
Für den Tourguide Igor Gorschkow ist dieser Zwischenzustand im Moment das Beste, was er finden konnte. Er wohnt unter Russen und Ukrainern. Das Handynetz ist norwegisch, das Internet frei. "Es gibt hier nur den Sicherheitsdienst der Mine", sagt Gorschkow. "Die Polizei ist norwegisch und hat ihre Station in Longyearbyen." Man sieht und hört in Barentsburg wenig vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, dafür gibt es sehr viel Aljonka-Schokolade und das Lenindenkmal.
Igor Gorschkow wollte fort aus Russland. Aber ganz Abschied nehmen wollte und musste er nicht.
Wie häufig, wenn es um die jüngere russische Vergangenheit geht, handelt auch die Geschichte der Siedlung Barentsburg von vergangener Größe. In sowjetischer Zeit lebten 2400 Menschen in dem Ort, heute sind es knapp 400, im Sommer noch weniger. Am Tag bevor die "Polargirl" in Barentsburg anlegte, wurden acht Schulabgänger aus der Barentsburger Schule verabschiedet. Die meisten Mädchen und Jungen, ihre Eltern und Lehrer flogen anschließend für die dreimonatigen Sommerferien mit Helikoptern fort gen Heimat.
Die Häuser in Barentsburg erzählen noch ein wenig von der guten alten Zeit. Auf einem Hof, wo heute Schlittenhunde vor ihren Hütten dösen, lebten früher Schweine, gezüchtet, um den Fleischbedarf zu decken; in einem Gewächshaus wuchsen Gurken. Im Kulturzentrum hockt ein Mitarbeiter zwischen Tausenden sowjetischen Filmrollen und einem mechanischen Projektor, aus dem ein strenger chemischer Geruch strömt. Der Zuschauersaal fasst 500 Plätze. In der Bibliothek von Barentsburg stehen 24 000 Bücher, fast alle vor 1990 erschienen. Auf Deutsch steht da der Wälzer "Demokratisierung". Das Schwimmbecken nebenan misst stattliche 25 Meter.
Arktikugol war mal eine sowjetische Energiegröße. Bis zu 350 000 Tonnen Kohle wurden jedes Jahr in Barentsburg auf Schiffe verladen. Sie brachten Strom, Licht und Wärme in die Städte des Nordens: nach Murmansk, Archangelsk und Petrosawodsk. Und weil das traditionelle Kohlegebiet der Sowjetunion in der Ostukraine lag, kamen viele Minenarbeiter, die in Barentsburg anheuerten, von dort. So ist es bis heute. Barentsburg ist eine Mine der Arbeiter aus dem Donbas, wo der Krieg schon vor über zehn Jahren begann, als das außerhalb der Ukraine kaum jemand wahrhaben wollte.
Den ersten Stollen, der von Barentsburg aus unter den Berg namens Olaf getrieben wurde, nennen die Minenarbeiter "Die Mutter, die uns ernährt". In diesen Stollen steigen die Arbeiter noch heute hinab, um von dort aus immer weiter zu graben, bis zu 500 Meter tief, und Kohle zu fördern.
An den Wänden des hölzernen Korridors, der zum Schacht führt, hängen verblasste Sowjet-Poster. Dort geht an einem Tag Alexander Jazunenko mit schweren Schritten Richtung Sonnenlicht. Jazunenko, 45 Jahre alt, ist ein Schlaks mit langem Gesicht, es ist schwarz von Kohlenstaub. Seine Schicht ist zu Ende, mehrere Stunden lang hat er in einem Schacht gearbeitet, der 30 Zentimeter zu niedrig für ihn ist. Zehn Männer wie er arbeiten dafür, dass die Stollenvortriebsmaschine reibungslos läuft.
Jazunenko knipst die Taschenlampe an seinem roten Helm aus, legt Messgeräte und die schweren Stiefel in der Garderobe ab und trinkt hastig ein Glas Wasser. Viel später, nach einem Friseurbesuch und einer langen Mahlzeit in der Kantine, erzählt Alexander Jazunenko ausgiebig davon, wie das Leben in Barentsburg ist – und ein wenig von dem Krieg in seiner Heimat.
Jazunenko stammt aus einer Kleinstadt etwa 60 Kilometer entfernt von Donezk. Er selbst nennt diese Gegend "Volksrepublik Donezk", so bezeichnet auch Russland selbst das 2014 eroberte Gebiet in der Ostukraine. Jazunenkos Vater war Bergmann, und sein Großvater auch. Niemand hat den Jungen Alexander je gefragt, was er werden wollte. Es war klar, dass auch er in eine Mine gehen würde.
Vor sechs Jahren kam Jazunenko nach Barentsburg. Seine Erfahrung konnten sie in der Arktis gut gebrauchen, und das Gehalt war etwa dreimal so hoch wie in der Ukraine. Ihm gefiel Barentsburg von der ersten Minute an. "Mich befiel sofort eine Ruhe, die ich bis dahin nicht kannte. Es ist still hier, und alles läuft langsam." Jazunenko spaziert nach seiner Schicht gern an der Küste entlang vom Ort in Richtung Helikopterlandeplatz. Das sind mehrere Kilometer. Seine Frau und seine beiden Söhne sieht er, wenn er im Jahr drei bis vier Monate Urlaub macht. Er sagt: "Barentsburg fühlt sich für mich an wie ein sicherer Hafen in dieser tobenden Welt."
In dieser absurden Welt produziert auch die Mine von Arktikugol schon längst nicht mehr profitabel. Die Pressesprecherin teilt mit, hier liefen jährlich etwa 100 000 Tonnen Kohle über die Förderbänder. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Mine so keinen Profit abwirft. Vor dem Krieg in der Ukraine ging die Barentsburger Kohle vor allem nach Großbritannien. Seit die europäischen Sanktionen greifen, wird alles nach Murmansk verschifft (siehe Kasten Seite 96). Allein 30 000 Tonnen Kohle werden allerdings jedes Jahr gebraucht, um Barentsburg selbst mit Strom und Wärme zu versorgen. Die Mine ist inzwischen kaum mehr als ein großes und sehr teures Heizwerk am Ende der Welt. Die Pressesprecherin schreibt: "Wir haben nicht vor, die Kohleförderung aufzugeben. Wir werden auf demselben Niveau weiterarbeiten."
In dieser wirren Welt bestimmt das russische Staatsunternehmen Arktikugol über fast alles, was in Barentsburg passiert oder nicht passiert. Die Barentsburger erzählen, der Minendirektor Ildar Newerow habe ein Faible für die Sowjetunion, deshalb bleiben die alten Denkmäler stehen, und deshalb wehen die sowjetischen Fahnen.
Das Unternehmen bezahlt die Gehälter der Minenarbeiter, der Automechaniker, der Hubschrauberpiloten, der Lehrerinnen und des Kulturdirektors. Es übernimmt auch die Wohnungsverwaltung und verteilt alle Angestellten und ihre Familien auf vier Plattenbauten, den größten, vier Stockwerke hoch, nennen die Einwohner den "arktischen Wolkenkratzer". Bargeld gibt es in Barentsburg nicht, bezahlt wird mit der firmeneigenen Bezahlkarte. Der Betrag wird direkt vom Lohn abgezogen.
Arktikugol sorgt dafür, dass jeden Tag in der Kantine drei Mahlzeiten auf die Tische kommen und dass im einzigen Lebensmittelgeschäft wenigstens einmal im Monat frisches Obst auftaucht. Der Konzern ließ zwei Hotels in Barentsburg bauen und beschäftigt Frauen und Männer, die den Tourismus ankurbeln sollen. Deshalb bezahlt Arktikugol auch das Gehalt des Tourguides Igor Gorschkow, der sich vor dem Krieg versteckt.
Der Minenarbeiter Alexander Jazunenko sagt: "Meine Arbeit fühlt sich sinnvoll an. Ich mache die richtige Sache für die richtigen Leute." Also: für Russland. Auch Jazunenko spricht über den Krieg, aber er nennt ihn nicht so. Er sagt: "Wir sind alle Russen. Es gibt nichts zu trennen."
Man darf sich Barentsburg nicht als Hort des Widerstands vorstellen. Es wohnen dort knapp 400 Männer, Frauen und Kinder, und jede Person hat ihren eigenen Grund, auf diesem Archipel im arktischen Ozean zu leben. Manche glauben, dass in der Ukraine Nazis an der Macht sind. Andere haben auf einen guten Posten in Sankt Petersburg verzichtet, auf viel Geld und Karriere, weil sie mit Russland nichts mehr zu tun haben möchten. Der russische Staat wiederum hat ein strategisches Interesse an Barentsburg: Er will seine Präsenz auf einem norwegisch verwalteten Gebiet auf keinen Fall aufgeben.
Barentsburg ist weit entfernt von allem, was jeden Tag die Welt bewegt. So weit sogar, dass der Krieg manchmal in den Hintergrund rückt. Von Svalbard aus geht es nicht mehr viel weiter, nur noch zurück. "Wir reden nicht viel über den Konflikt", sagt Alexander Jazunenko.
In der Garderobe, in der sich die Angestellten der Mine umziehen, begegnen sich zwei Frauen, zwei Nataljas. Die jüngere ist Russin und führt Touristen durch den Ort und auch ein paar Hundert Meter in die Mine hinein. Die ältere stammt aus der Ostukraine und prüft als Geologin den Stollen. In zwei Tagen wird sie Barentsburg verlassen, zurückziehen in die Ukraine. "Ich vermisse die Rosen in meinem Garten." Die Frauen umarmen sich. Die Jüngere sagt: "Es war mir eine Freude, mit Ihnen zu arbeiten. Ich wünsche Ihnen, dass zu Hause alles gut wird." Die Ältere antwortet: "So Gott will."
Von der einstigen Größe ist in Barentsburg nicht viel übriggeblieben. Aber der Zusammenhalt ist noch da. Igor Gorschkow besucht einen Puschkin-Abend im Kulturhaus und lächelt selig, als russische Gedichte rezitiert werden. Alexander Jazunenko spielt mit ein paar Kollegen in der Turnhalle Floorball, bis von seinen grauen Schläfen der Schweiß in Strömen fließt.
Für so eine kleine Siedlung passieren in Barentsburg erstaunlich viele Dinge. Es gibt eine Band, eine Yoga-Klasse, Schachturniere, die Bewohnerinnen und Bewohner treffen sich zum Kino, zum gemeinsamen Kochen, zum Tangotanzen und in der Sauna. Und die Laienspielgruppe plant die Aufführung eines Theaterstücks von Tschechow. Wenn jemand aus dem mehrmonatigen Urlaub zurückkehrt, wird er mit Umarmungen begrüßt.
Wer in Barentsburg ein Gebäude betritt, legt Jacke und Schuhe ab und zieht Pantoffeln an. Das ist Tradition bei den Minenarbeitern und ihren Familien und gilt immer und überall: ob man die Kantine besucht, das Krankenhaus oder die Forschungsstation, es wirkt, als spaziere man von Wohnzimmer zu Wohnzimmer. Viele, die hier leben, haben Familie und Heimat zurückgelassen. Das heißt, dass sie nun füreinander Familie und Heimat sein müssen.
Manchmal aber drängt das Weltgeschehen bis nach Svalbard. Der "Tag des Sieges" zum Gedenken an das Kriegsende 1945 wurde auch schon früher in Barentsburg gefeiert. Doch im Mai 2023 fuhr erstmals eine Kolonne aus allen verfügbaren Fahrzeugen und Schneemobilen mit russischen Fahnen durch die Siedlung. Über der Parade kreiste ein Hubschrauber. Angeführt wurde sie vom russischen Generalkonsul in Barentsburg.
Eine russische Siegesparade auf norwegischem Verwaltungsgebiet. Das hat den Norwegern nicht gefallen. Und manchem Russen in Barentsburg auch nicht. Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem neuen Kalten Krieg zwischen Europa und Russland ist auch der diplomatische Ton auf Svalbard deutlich frostiger geworden. Die Inselgruppe liegt zwischen den USA und Europa. Das verleiht ihr geostrategische Bedeutung für die NATO. Und macht sie zum potenziellen Zankapfel im Falle eines Konflikts zwischen Ost und West. Für den russischen Staat geht es in Barentsburg um mehr als um ein paar 100 000 Tonnen Kohle.
Was lange vorbei schien, geht jetzt wieder los: der Wettbewerb der Systeme. Die Bewohner in Barentsburg rühmten sich einst, die nördlichste Brauerei der Welt zu betreiben. Bis sie in Longyearbyen, noch weiter nördlich, ihr eigenes Bier zu brauen begannen. In dem norwegischen Ort finden Gäste eine Universität, ein Thai-Restaurant, einen Discgolf-Platz. Im russischen Barentsburg steht eine Bar namens "Roter Bär", in der die Bedienung einen Schnaps ausschenkt, der so viele Volumenprozent haben soll wie der Breitengrad, auf dem Barentsburg liegt: 78.
"Barentsburg ist wie ein Raumschiff: Es gibt alles, was man zum Überleben braucht, aber man kann hier nicht weg." Diesen Satz sagt Witalij Schatilow, er ist der Arzt von Barentsburg, in einem viel zu großen Krankenhaus mit zig leeren Patientenzimmern und sogar einem Operationssaal, der nicht mehr genutzt wird, weil niemand da ist, der operieren kann. Immerhin: der Seiteneingang des Krankenhauses ist Tag und Nacht geöffnet. Er soll als Zuflucht beim Angriff eines Eisbären dienen.
Witalij Schatilow wurde Arzt, weil seine Eltern dagegen waren. Sie meinten es gebe bessere Wege, um reich zu werden. Schatilow kam vor knapp zwei Jahren nach Svalbard. Er hatte in einer Sankt Petersburger Poliklinik gearbeitet. "Ich war müde nach der Covid-Pandemie, ich habe zu viele schwerkranke Patienten gesehen." In Barentsburg arbeitet Schatilow nun zusammen mit einer Zahnärztin, einer Traumatologin, einer Psychologin und zwei Krankenschwestern. Er ist ein Landarzt mit viel Land und wenig Patienten.
Der beständigste und hoffnungsvollste Patient in dieser Klinik ist der Zitronenbaum im Obergeschoss, um den sich Schwester Maryna seit Jahren kümmert und der am liebsten durch die Decke wachsen möchte. Schatilow schätzt, es sei der größte Baum auf dem gesamten Archipel.
Am Morgen trinkt die Belegschaft zusammen Tee. Die Patienten, wenn sie überhaupt kommen, treten nicht vor zehn Uhr ein. Witalij Schatilow kümmert sich, wenn ein Kind Fieber hat, wenn Frauen über starke Menstruationsschmerzen klagen, im Winter rutscht manchmal jemand auf Glatteis aus, vielleicht hatte auch ein Besuch in der Bar "Roter Bär" etwas damit zu tun, dann mischt die Traumatologin Gips an. Für alle anderen Fälle gilt: stabilisieren und dann den Transport organisieren, zunächst nach Longyearbyen, von dort aus auf das norwegische Festland.
"In Barentsburg darf man nicht sterben." Das ist ein beliebter Witz in der Siedlung. Aber ein bisschen stimmt es auch. Auf jeden Fall dürfen im tauenden Permafrostboden keine Leichen bestattet werden. Und Geburten sind in Barentsburg anders als vor einigen Jahrzehnten auch nicht mehr erlaubt. Schwangere Frauen werden früh ausgeflogen.
Trotz des zu einem "Wolkenkratzer" aufgetürmten Betons, trotz des Schwimmbeckens und des Tangoabends – Barentsburg bleibt ein Ort der Extreme, nur erreichbar aus der Luft, über den Ozean und im Winter mit Schneemobilen. In der Frischetheke des Lebensmittelgeschäfts liegen in diesen Tagen nur drei verbogene Möhren. Witalij Schatilow wartet seit zwei Monaten auf die Kalligrafiestifte, die er online bestellt hat. Er ist nicht ungeduldig. Lieferungen ans Ende der Welt dauern eben.
Und natürlich ist Barentsburg ein Dorf. Man weiß ja, dass das sehr schön, aber auch sehr anstrengend sein kann. Es gibt diese Nähe, die manchmal zu viel wird, offene Ohren und Haustüren überall. Witalij Schatilow sagt: "Es wirkt mitunter wie in einer Sitcom." Eben noch hat er eine Frau wegen Unterleibsschmerzen behandelt, zwei Stunden später reicht ihm dieselbe Frau in der Kantine den Kompott.
Schatilow weiß noch nicht, was er tun soll, wenn sein Vertrag in Barentsburg endet. Verlängerung oder Rückkehr? Er sagt: "Die Lage in meiner Heimat macht es schwer, an die Zukunft zu denken."
Nach Feierabend spielt er in einem der vielen leeren Räume des Krankenhauses Tenorblockflöte. Er übt gerade die Suite Nr. 1 von Bach. Und jeden Sonntagmorgen versinkt der praktizierende Buddhist Schatilow trotz immerwährender Rufbereitschaft zwei Stunden lang in tiefe Meditation.
Er lebt nun in einer Siedlung mit Russen und Ukrainern, Menschen aus zwei Ländern, die sich im Krieg befinden. Es braucht sehr viel Nähe und guten Willen und vielleicht auch die Weite und Ruhe der Arktis, die Eisbären und die Gletscher, um diesen Konflikt auszuhalten. Witalij Schatilow sagt: "Dieser Ort ist so Zen."
Endlich hat der Regen aufgehört. Die kürzeste Nacht des Jahres naht. Und endlich liegt auch ein großes Schiff im Hafen, die "Agattu". Über ein Fließband rauscht Kohle in den Bauch des Frachters. Die Kindergärtnerin unternimmt mit vier Kindern einen Ausflug zum "Fernseher", zur Aussichtsterrasse.
Als viele Stunden später die Mitternachtssonne hoch am Himmel steht, wirkt Barentsburg wie verzaubert. Die Luft ist klar, das Wasser steht still, am Ortsrand grasen Rentiere. In der Bar läuft auf dem Fernseher ohne Ton ein Film über den Fall der Berliner Mauer, dann John F. Kennedy auf dem Roten Platz. Draußen scheint die Sonne grell in die Gesichter derjenigen, die nicht in den Schlaf finden.
Der Arzt Witalij Schatilow legt sich mit Melatonin schlafen, er ist immer im Dienst und kann sich Übermüdung nicht leisten. Den Minenarbeiter Alexander Jazunenko trägt die Erschöpfung in sein Bett. Vor dem Abschied hat er noch ein Gedicht vorgetragen: "Nur diejenigen wissen unsere Sonne zu schätzen, die unter Tage waren." Morgen früh wird er wieder im tiefschwarzen Stollen verschwinden.
Der Tourguide Igor Gorschkow sitzt an der Hotelrezeption und schaut auf einem Radar zu, wie Schiffe an Barentsburg vorbeifahren. Gorschkow sagt, er verstehe, dass Europa Sanktionen gegen Russland verhängt habe, aber er vermisse die norwegischen Nachbarn aus Longyearbyen: "Wir sind hier allein. Das muss alles schnell ein Ende haben."
Noch weit nach Mitternacht wird Gorschkow durch Barentsburg wandern, den Blick gesenkt. In dieser sonnenhellen Nacht wirkt der Archipel wie der friedlichste Ort der Welt. Svalbard war nie für die Menschen vorgesehen. Es gehört den Walrossen, Rentieren, Schneeammern, blühenden Moosen.
Am Berg Olaf hat die Sonne einen Schriftzug aus Steinen freigeschmolzen, der seit Sowjetzeiten dort liegt. Die Tourguides tragen den Spruch auf ihren T-Shirts. Die Angestellte im Lebensmittelladen trägt ihn auch. Der Staatsbetrieb Arktikugol verbreitet ihn über die sozialen Netzwerke. Und in Russland werden Aktivisten verhaftet, weil sie ein Banner mit diesem Schriftzug durch die Straßen tragen. Er lautet: "Miru Mir" – "Frieden für die Welt".