Vier Gründe für Chinas Vorsprung in der Autobranche

Statt Nachahmer zu sein, setzen Chinas Autobauer neue Standards: kurze Zyklen, klare Strukturen, hohe Löhne für Talente und Fokus auf Nutzererlebnis. Der Beitrag Vier Gründe für Chinas Vorsprung in der Autobranche erschien zuerst auf Elektroauto-News.net.

Mai 8, 2025 - 06:00
 0
Vier Gründe für Chinas Vorsprung in der Autobranche

Am 6. Mai 2025 stand Berlin ganz im Zeichen der Transformation der Automobilindustrie. Oder zumindest ein Teil davon. Auf dem Event Automotive Masterminds sprach Dr. Heiko Rauscher, Senior Managing Director bei FTI Consulting, über eine Entwicklung, die noch vor wenigen Jahren undenkbar schien: die Dominanz chinesischer Autohersteller im eigenen Markt – und zunehmend auch darüber hinaus. Rauscher betonte eingangs, dass ein solcher Vortrag vor zehn Jahren nicht möglich gewesen wäre, da chinesische Unternehmen damals noch als bloße Nachahmer galten. Inzwischen habe sich die Wahrnehmung völlig gewandelt: „Heute geben sie in vielen Bereichen das Tempo vor.“

Die präsentierten Zahlen zur Leichtfahrzeugproduktion in China unterstreichen diesen Trend eindrucksvoll. Während internationale Marken im Jahr 2020 rund 14 Millionen Fahrzeuge in China produzierten und damit deutlich vor den chinesischen Herstellern lagen, die auf 10,8 Millionen kamen, zeigte sich bereits zwei Jahre später ein umgekehrtes Bild: 14,2 Millionen Einheiten chinesischer Marken standen nur noch 12 Millionen internationaler gegenüber. Für 2024 prognostiziert FTI Consulting 20,6 Millionen Fahrzeuge aus chinesischer Produktion – mehr als doppelt so viele wie die 9,7 Millionen der internationalen Konkurrenz.

Gleichzeitig verschiebt sich auch das technologische Image. Eine aktuelle Umfrage von Civey unter 5000 deutschen Bürger:innen zeigt, dass 42 Prozent der Befragten mehr Vertrauen in digitale Innovationen chinesischer Hersteller haben als in die deutscher Hersteller – nur 25 Prozent sehen Deutschland vorn. Diese Entwicklung sollte ein klares Warnsignal für westliche Marken sein, so Rauscher. „Die Wahrnehmung digitaler Innovationskraft hat sich dramatisch verschoben – das war vor fünf Jahren noch unvorstellbar.“

Auch im Zuliefersegment vollzieht sich ein Umbruch. Während 2021 nur sieben chinesische Unternehmen unter den Top 100 der globalen Automotive Zulieferer zu finden waren, sind es laut FTI-Analyse 2024 bereits 15. Dabei stechen nicht nur die Volumina hervor – etwa beim Batteriehersteller CATL mit einem Umsatz von rund 55 Milliarden Euro –, sondern auch das Tempo: Viele dieser Unternehmen wiesen in den vergangenen fünf Jahren zweistellige jährliche Wachstumsraten auf. Die großen Treiber seien Elektrifizierung und Digitalisierung, aber auch klassische Komponentenhersteller würden zunehmend in Mitleidenschaft gezogen.

Diese Erfolgsfaktoren prägen Chinas Voranschreiten in der Automobilindustrie

Rauscher legte offen, dass dieser Erfolg nicht zufällig entstehe, sondern auf vier zentralen Erfolgsfaktoren beruhe: Innovation, Geschwindigkeit, Kostenführerschaft und Talent. Chinesische Unternehmen hätten ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse der eigenen Konsumenten entwickelt, was sich in relevanten, nutzerorientierten Produkten widerspiegelt – insbesondere im Bereich Connectivity, Infotainment und Software. Anders als westliche Hersteller, die neue Technologien oft zunächst in High-End-Modellen testen, bevor sie in die Breite gehen, bringe China neue Features „mit hohem Tempo direkt in den Massenmarkt“.

Anne Großmann Fotografie | Dr. Heiko Rauscher, Senior Managing Director bei FTI Consulting während seines Vortrags

Die Geschwindigkeit sei ein besonders auffälliger Vorteil: Während westliche Hersteller durchschnittlich über vier Jahre für die Entwicklung einer neuen Plattform benötigen, arbeiten chinesische Hersteller bereits mit Entwicklungszyklen von rund zwei Jahren. Diese sollen perspektivisch auf unter 18 Monate sinken. Rauscher erklärt, dass dies durch den konsequenten Einsatz vorgefertigter Lösungen, die Nutzung nationaler GB/T-Standards und die enge Verzahnung von Design-, Test- und Entscheidungsprozessen möglich werde.

Eine von Rauscher präsentierte Fallstudie zeigt, wie ein chinesischer Zulieferer für smarte Cockpits und Fahrerassistenzsysteme durch eine klare Technologie- und F&E-Strategie sowie gezielte Partnerschaften binnen weniger Jahre von einem lokalen Anbieter zum globalen Player wurde. In weniger als zehn Jahren stieg der Umsatz von unter einer Milliarde (ca. 122 Mio. Euro) auf über 20 Milliarden Renminbi (ca. 2,4 Mrd. Euro) – getrieben durch modulare Plattformansätze, agile Softwareentwicklung und flexible Anpassungen an globale Hersteller und Märkte.

Nicht kopieren – verstehen: Die eigentliche Lektion für Europas Hersteller

Kostenführerschaft wird in China nicht über Lohnverzicht oder Abstriche bei der Qualität erreicht, sondern durch ein durchdachtes System aus Standardisierung, Skalierung und Flexibilität. Rauscher macht deutlich, dass viele chinesische Hersteller nicht bei null beginnen, sondern bewusst bestehende Produktionskapazitäten gemeinsam nutzen oder modular erweitern. Anstelle teurer, maßgeschneiderter Fabriken setzen sie auf standardisierte Maschinenparks, die universell einsetzbar sind. Das senkt sowohl Investitions- als auch Wartungskosten.

Parallel dazu spielt die Beschaffung eine entscheidende Rolle. Kurze, regional organisierte Lieferketten senken nicht nur Transportkosten, sondern machen die Unternehmen auch widerstandsfähiger gegen globale Störungen. Durchgängig digitalisierte Einkaufsprozesse und eine hohe Bereitschaft zur vertikalen Integration – also dem Zukauf oder Aufbau ganzer Produktionsstufen – verschaffen den chinesischen Herstellern weitere Effizienzvorteile. Ein zentrales Element dabei: die konsequente Nutzung von Off-the-Shelf-Komponenten. Wer nicht jedes Modul neu entwickelt, spart Zeit und Geld – ohne die Qualität zu gefährden.

Auch in der Personalstruktur zeigt sich dieser pragmatische Ansatz. Viele chinesische Unternehmen setzen auf flexible Beschäftigungsmodelle, in denen temporäre Kräfte zur Abdeckung von Auftragsspitzen gezielt eingesetzt werden. Überstunden werden dabei nicht als Ausnahme, sondern als legitimes Mittel zur kurzfristigen Kapazitätserweiterung betrachtet. Gleichzeitig sorgen klar strukturierte Arbeitsplätze und gezielte Schulungen dafür, dass neue Mitarbeitende schnell produktiv sind. Verwaltungsstrukturen bleiben bewusst schlank, die Gemeinkosten niedrig.

Diese Effizienz setzt sich auch bei der Rekrutierung von Schlüsselpersonal fort – allerdings mit einem ganz anderen Mindset. Die Gehälter für zentrale F&E-Positionen wie CTOs für intelligente Fahrfunktionen, Direktoren für Cockpitarchitekturen oder BMS-Algorithmen-Spezialisten liegen in China heute auf dem Niveau großer Technologiekonzerne. Rauscher stellt klar, dass es chinesischen Unternehmen zunehmend gelingt, Talente aus Branchen wie Künstlicher Intelligenz oder Softwareentwicklung zu gewinnen – und dafür auch bereit sind, „klassische“ Gehaltsbänder zu durchbrechen. Jahresgehälter von 500.000 bis 700.000 US-Dollar sind in vielen Unternehmen Realität.

Was dabei auffällt: Die Unternehmen sehen diese Investitionen nicht als Risiko, sondern als strategische Notwendigkeit. Fehlgriffe werden in Kauf genommen, Anpassungen schnell vorgenommen. „Wer die besten Köpfe will, muss bereit sein, entsprechend zu investieren – und genau das geschieht inzwischen“, fasst Rauscher zusammen. Während westliche Hersteller vielfach noch an tarifliche Strukturen gebunden sind, agieren chinesische Unternehmen agiler und mit einem deutlich höheren Tempo.

Für Rauscher ist klar: Europäische Hersteller müssen diese Mechanismen nicht kopieren, aber verstehen – und daraus eigene Antworten entwickeln. Denn je schneller neue Plattformen und Technologien in China an den Markt kommen, desto größer wird der Rückstand. „Für viele technologieaffine Kund:innen ist nicht mehr allein das Produkt entscheidend, sondern auch, wie schnell es verfügbar ist.“

Der Beitrag Vier Gründe für Chinas Vorsprung in der Autobranche erschien zuerst auf Elektroauto-News.net.