Soziale Milieus und paternalistische Eliten [Gesundheits-Check]
Kennen Sie einen Sozialpolitiker der SPD namens Türmer? Vermutlich nicht. Philipp Türmer ist seit Ende 2023 Bundesvorsitzender der Jusos, der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD. Er ist Jurist, macht einen sehr sympathischen Eindruck, Typ Schwiegersohn, kommt aus bestem Elternhaus und meint es sicher auch gut. Mit der Welt, mit uns und denen,…
![Soziale Milieus und paternalistische Eliten [Gesundheits-Check]](https://s0.wp.com/i/blank.jpg)
Kennen Sie einen Sozialpolitiker der SPD namens Türmer? Vermutlich nicht. Philipp Türmer ist seit Ende 2023 Bundesvorsitzender der Jusos, der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD. Er ist Jurist, macht einen sehr sympathischen Eindruck, Typ Schwiegersohn, kommt aus bestem Elternhaus und meint es sicher auch gut. Mit der Welt, mit uns und denen, denen es nicht so gut geht.
In einem aktuellen Interview betont er mit Blick auf die anstehenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD, es dürfe nicht „irgendwelche Kompromisse“ geben, die „an den Alltagssorgen der Menschen vorbeigehen“. Das wäre natürlich schön. Aber wie gut kennt er diese „Alltagssorgen“, vor allem die der Menschen, die aus ganz anderen Milieus kommen wie er? Ich will das nicht als ad hominem verstanden wissen, sondern als Frage, inwiefern die Distanz der Herkunftsmilieus die Sprache über diese „Alltagssorgen“ entdifferenziert und im vorliegenden Fall sozialpolitisch einen gutmeinenden Paternalismus befördert. Philipp Türmer sagt beispielsweise:
„Ein gutes Leben darf kein Luxus sein, sondern muss für alle Menschen bezahlbar sein. Deswegen braucht es einen höheren Mindestlohn von 15 Euro (…)“.
Seit 1. Januar 2025 liegt der Mindestlohn bei 12,82 Euro. Im letzten Jahr waren es 12,41 Euro. Da wären 15 Euro natürlich spürbar mehr: bei einer 40-Stunden-Woche im Monat ca. 2.600 Euro statt jetzt 2.220 Euro. Das würde vielen Mindestlöhner:innen das Leben leichter machen, keine Frage. Aber muss man es unnötig schönreden, zur Grundlage eines „guten Lebens“? Es geht um den Bruttolohn, davon gehen Sozialversicherungsbeiträge und Steuern ab. Was dann nach der Miete noch für ein „gutes Leben“ bleibt, ist nicht mehr viel.
Es wird zudem mit großer Wahrscheinlichkeit in den Koalitionsverhandlungen nicht durchzusetzen sein. Welches Narrativ gilt dann? Auf der anderen Seite der sozialen Schere ist Türmer extrem vorsichtig, er möchte, dass „die reichsten der Reichen dafür etwas mehr belastet“ werden. Die Reichsten der Reichen etwas mehr? Sehr rücksichtsvoll. Da geht vielleicht sogar die Union mit, zumindest ihr Sozialflügel, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA). Früher hörten sich die Jungsozialisten nicht an wie die Jugendorganisation der CDA.
Das Wahlergebnis der SPD bewertet Türmer zu Recht kritisch:
„Das Ergebnis war schlecht, richtig schlecht. Und deshalb braucht es jetzt nicht nur Floskeln, sondern wir müssen auch handeln, um das Vertrauen der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Angestellten zurückzugewinnen.“
Deshalb muss jetzt das Vertrauen der Menschen zurückgewonnen werden? Weil das Wahlergebnis so richtig schlecht war? Das kann er nicht ernst gemeint haben. Hoffe ich.
Und weiter:
„Wir brauchen eine sozialdemokratische Zukunftserzählung. Im Moment wirkt die SPD wie eine Partei des Status quo. Wir müssen aber das Bedürfnis nach Veränderung befriedigen – und den Menschen zeigen, wo das Land mit unserer Politik in 20 oder 30 Jahren stehen könnte.“
Abgesehen davon, dass ein Blick in eine so ferne Zukunft mit Sicherheit eins ist, nämlich falsch, was meint er damit konkret? Dass in 20 oder 30 Jahren auch eine Verkäuferin im Supermarkt sich keine Sorgen mehr machen muss, ob sie ihre Miete bezahlen kann? Dass auch eine Facharbeiterfamilie sich wieder Wohneigentum leisten kann? Dass die Renten in 20 Jahren alle, die ihr Leben lang gearbeitet haben, vor Altersarmut schützen? Dass wir die ökologische Transformation geschafft haben und alle, auch die Ärmeren, davon profitieren? Und vor allem: Was ist bis in 20 oder 30 Jahren? Nur die Mohrrübe vor der Nase ist keine gute Sozialpolitik. Wie Türmer vorher richtig festgestellt hat: „Und deshalb braucht es jetzt nicht nur Floskeln“.
Den Abschluss des Interviews bildet dieser Passus:
„Um in Zukunft wieder Wahlen zu gewinnen, muss die Basis der SPD als linke Volkspartei immer die Anbindung an die Arbeiterinnen und Arbeiter, sowie die Angestellten schaffen. Die Menschen müssen wieder den Eindruck bekommen, dass wir ihre Interessen und Lebensrealitäten kennen, ihre Probleme wahrnehmen – und natürlich auch lösen.“
Ist da nicht nicht wiederum die Zweck-Mittel-Relation falsch herum? Die Anbindung nur als Mittel zum Zweck des Wahlengewinnens? Müsste es nicht genau anders herum gehen? Vielleicht liegt hier ein Teil des Problems der SPD, dass ihre Funktionäre heute überwiegend nicht mehr aus den traditionellen Arbeiter- und Angestelltenmilieus kommen und deren „Lebensrealitäten“ in der SPD zu sehr zur rhetorischen Figur, zur Floskel in der Werbung um die Wählergunst geworden sind. Da hätte die SPD übrigens durchaus eine Gemeinsamkeit mit dem künftigen Koalitionspartner.