Nach Vance-Rede: Europa wacht in einer neuen Welt auf
Trumps stürmische Hinwendung an Russland und Vance’ Wahlkampfhilfe für die AfD ergänzen sich perfekt. Ziel ist eine Destabilisierung Europas

Trumps stürmische Hinwendung an Russland und Vance’ Wahlkampfhilfe für die AfD ergänzen sich perfekt. Ziel ist eine Destabilisierung Europas
Was Pessimisten schon für den 20. Januar erwartet hatten, ist nun mit knapp drei Wochen Verspätung doch in Europa – ich entschuldige mich gleich für die bellizistische Wortwahl – eingeschlagen: die neue Realität. Donald Trump und seine Regierung interessieren sich für die Belange ihres alten Verbündeten Europa nicht mehr die Bohne.
Ein erstes Gefühl davon vermittelte Trumps Vize JD Vance am Dienstag dieser Woche, als er in Paris beim KI-Gipfel die neue Zeit umriss: Sein Präsident arbeite gerne mit allen auf der Welt zusammen, versicherte Vance, aber zu seinen Bedingungen und vor allem dann, wenn es für die USA von Vorteil sei. Ansonsten verzichte man gerne, erst recht, wenn die Europäer wie mit dieser Zusammenkunft bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz anderen ihre Regeln und Bedenken aufhalsen wollten.
Sprach’s, und verließ mit seinem Tross wieder den Saal. Vance’ Desinteresse am Rest der Runde war so dröhnend, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen konsterniert einige Augenblicke warten musste, bevor sie antworten konnte. Nur: Wem wollte sie da eigentlich noch antworten?
Europa ist auf sich allein gestellt
Mit Spannung wurde daher Vance’ zweiter großer Auftritt erwartet – Freitagnachmittag bei der Sicherheitskonferenz in München. Und auch wenn man seine Botschaft schon ahnte, es wurde doch eine denkwürdige Rede: wegen der Themen, die er ansprach, und wegen der Themen, die er gerade nicht ansprach.
Ausführlich riet der amerikanische Vizepräsident den versammelten europäischen Politikern, auch populistische und extreme Parteien wie die AfD in ihre Regierungsarbeit einzubeziehen. Die größte Bedrohung der Demokratie in Europa komme nicht von außen, von Ländern wie China oder Russland, sondern von innen durch eine Unterdrückung des Wählerwillens, wenn man diese Parteien dauerhaft von der Macht ausschließe. Die Lage in der Ukraine oder mögliche Gespräche mit Russland erwähnte Vance mit keinem Wort.
Das war auch verkraftbar, denn Trump selbst hatte die Linie ja schon vorgegeben: Nach einem Telefonat mit Wladimir Putin hatte Trump sinngemäß mitgeteilt, die Beziehungen zwischen den USA und Russland stünden vor einer wunderbaren Blüte. Man muss zwar noch diesen lästigen Konflikt in der Ukraine loswerden, aber dafür räumte Trump schon mal die größten Hindernisse aus Sicht der Russen aus dem Weg: Keine NATO-Mitgliedschaft des Landes, stattdessen müsse die Ukraine den Verlust ihrer Gebiete akzeptieren. Und die weitere Sicherung eines Waffenstillstands zwischen Russen und Ukrainern sei Sache der Europäer. Erst danach rief Trump Wolodymyr Selenskyj an, auf ein Gespräch mit den Europäern (mit wem auch?) verzichtete er gleich ganz.
Eine Woche für die Geschichtsbücher
Es spricht viel dafür, dass Historiker dieser Woche Mitte Februar 2025 einmal einige Absätze in ihren Geschichtsbüchern widmen werden. Nicht, dass die Ereignisse unvorhergesehen kamen, im Gegenteil, sie zeichneten sich lange ab. Nur, dass die Europäer und allen voran die Deutschen die absehbare Abkehr der Amerikaner aus Europa nicht wahrhaben wollten. Oder irgendwie darauf hofften, es werde schon nicht so schlimm werden.
Am Ende dieser Woche sehen wir jedoch: Trumps stürmische Hinwendung an Russland und Vance’ Wahlkampfhilfe für die AfD ergänzen sich sogar perfekt. Die neue US-Administration ist offenbar fest entschlossen, einen wirtschaftlichen Machtblock wie die EU – und immerhin das ist der Zusammenschluss der europäischen Staaten noch – nach allen Kräften zu zersetzen. Nichts wäre dafür hilfreicher als starke radikale Kräfte in Deutschland, Österreich und Frankreich, gegen die sich keine Regierung mehr bilden ließe und die die EU strikt ablehnen. Diese Einmischung von außen ist ungewöhnlich, aber sie ist konsequent, denn sie dient Trumps einzigem Ziel: America first.
STERN PAID 08_25 IV Historiker Frankopan 15:14
Die neue Realität, Trumps Realität, sie ist eine komplette Verdrehung der alten Welt, in der Europa und die USA stets eng zusammenstanden, mit ähnlichen Werten und Ideen von Freiheit, Regeln und Rechtsstaatlichkeit.
In den düstersten Ahnungen war diese Wende erahnbar, aber in diesem Tempo ist sie doch spektakulär. Europa muss künftig weitgehend allein klarkommen mit Russland, ist darauf aber, mal wieder, nicht vorbereitet. Klar haben die Europäer viel getan, um die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen, die Deutschen haben ihr berühmtes „Sondervermögen“ über 100 Mrd. Euro. Aber all das, das ist die ganz konkrete Erkenntnis dieser Woche, wird nicht reichen, wenn Europa weiter einigermaßen in Frieden und Freiheit leben will.
Vance Rede wird teuer
Allein für den Ausbau der eigenen Verteidigungsfähigkeit, den Schutz ihres Territoriums, werden Europas Staaten schon sehr bald nicht 2, sondern eher 3 bis 3,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung ausgeben müssen. Für Deutschland bedeutet dies Mehraushaben von 60 bis 70 Mrd. Euro pro Jahr. Und weil sogar die weitere Finanzierung des heutigen Zwei-Prozent-Ziels der Nato spätestens ab 2028 nicht gesichert ist, kommen da in drei Jahren noch mal 30 Mrd. Euro dazu, ebenfalls pro Jahr. Macht tatsächlich 100 Mrd. Euro für Rüstung, Waffensysteme und zusätzliche Soldatinnen und Soldaten sowie deren Ausrüstung. Das war es mit der Schuldenbremse, da können sich Friedrich Merz und seine CDU/CSU vor der Wahl noch so winden und zieren. Sie sollten nur darauf hoffen, dass sie mit der Wahl in gut einer Woche auch noch eine Mehrheit für eine Reform zusammenbekommen.
Und auch damit wird es nicht getan sein. Für den atomaren Schutz Europas – den immerhin hat Trump noch nicht infrage gestellt – wird der US-Präsident einen zusätzlichen Preis verlangen. Nur die Zahlungsbedingungen sind noch offen: Akzeptiert werden eventuell auch überproportionale NATO-Beiträge, Naturalien in Form höherer Bestellungen bei US-Rüstungskonzernen und lukrative Energiedeals.
Analyse Verfassungskrise USA 5.30
Und dann ist da eben noch die Schutztruppe für die Ukraine und die Aufrüstung der ukrainischen Armee. Für eine Militärmission zur Sicherung der ukrainischen Grenze kalkuliert die Sicherheitsexpertin Claudia Major bis zu 150.000 Soldaten aus Europa (US-Soldaten hat Trump ja schon ausgeschlossen) – nur, wo sollen die herkommen? Vor allem, wenn man nicht die restliche Ostflanke der NATO vernachlässigen will? Und auch die Aufrüstung der Ukrainer wird Trump den Europäern überlassen – selbst, wenn er Panzer und Material liefern sollte, er wird es sich mit Sicherheit von Europa bezahlen lassen. In der Summe sind die fünf Prozent des BIP für Verteidigung, die Trump fordert, gar nicht so unrealistisch.
Es gibt auch gute Nachrichten
Nun kann man einwenden, wozu all die Aufregung – im Falle eines Friedens sei die Aufrüstung doch überflüssig und vielmehr die Rückkehr zum alten Status quo ante von vor dem Kriegsbeginn 2022 wieder möglich. Aber wollen wir wirklich Europas Sicherheit und Zukunft ab jetzt in die Hand des russischen Präsidenten legen und darauf hoffen, dass er wieder einfach nur gute Geschäfte machen will? Das ist eine wirklich drängende Frage für die letzten Tage des Wahlkampfs.
Dennoch lässt sich dieser Woche, auch ganz ohne Naivität, noch etwas Gutes abgewinnen. Denn auch wenn die Europäer künftig allein klarkommen und militärisch massiv aufrüsten müssen, so haben sie dazu immer noch alle Möglichkeiten – finanziell sowieso und technologisch auch. Das junge Unternehmen Helsing etwa, gerade mal vier Jahre alt, baut äußerst fähige Kampfdrohnen für Europas Armeen und für die Ukraine. Erst diese Woche gab das Start-up aus München eine Entwicklungsallianz mit dem französischen KI-Spezialisten Mistral bekannt. Helsing wird mit mehr als 5 Mrd. Euro bewertet und es ist längst nicht das einzige junge Unternehmen aus dem Bereich, das sich plötzlich sehr großen Interesses erfreut.
Auch angestammte Rüstungs- und Technologiekonzerne wie Rheinmetall, KNDS, und Airbus, selbst Konzerne wie Siemens werden davon profitieren, wenn Europa und Deutschland mehr in die eigene Sicherheit investieren. In Görlitz etwa übernimmt der Panzer-Hersteller KNDS ein traditionsreiches Alstom-Werk zum Bau von Zügen. Wer sich gerade etwas verunsichert fragt, wie Europa zwischen den USA, China und Russland bestehen soll, dem sei gesagt: genau so, mit diesen technischen und finanziellen Fähigkeiten. Hier hat Europa Russland unendlich viel voraus.
Wohl niemand hat sich gewünscht, dass 35 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wieder ein Aufrüstungswettlauf beginnt. Aber, und das ist eine sehr alte Realität: Auf Wünsche hat diese Welt noch nie Rücksicht genommen.