Im bunten Gewimmel II

Um achtzehn Uhr habe ich einen schnellen Blick auf die Hochrechnungen geworfen. Hätte ich vorher auf gewisse Ergebnisse gewettet, ich hätte diesmal ordentlich abgeräumt. Aber es gab auch schon andere Wahlabende in den letzten Jahrzehnten, das ist also leider keine besonders verlässliche Begabung, die ich gewinnbringend umsetzen könnte. Und es bringt einem auch nichts, bei... Der Beitrag Im bunten Gewimmel II erschien zuerst auf Buddenbohm & Söhne.

Feb 24, 2025 - 09:18
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Im bunten Gewimmel II

Um achtzehn Uhr habe ich einen schnellen Blick auf die Hochrechnungen geworfen. Hätte ich vorher auf gewisse Ergebnisse gewettet, ich hätte diesmal ordentlich abgeräumt. Aber es gab auch schon andere Wahlabende in den letzten Jahrzehnten, das ist also leider keine besonders verlässliche Begabung, die ich gewinnbringend umsetzen könnte. Und es bringt einem auch nichts, bei so etwas richtig zu liegen, es macht einen nicht glücklicher. Vielleicht im Gegenteil. Wie die Herzdame gerade sagte, während ich schrieb: „Wir liegen richtig, aber gut ist das nicht.“

Ich prüfte dann noch kurz, ob die geschätzten Kolleginnen aus den diversen Wahlforschungsabteilungen meiner Brotberufbranche halbwegs richtig gelegen haben. Eine gewisse Verbundenheit mit dem Thema fühle ich doch stets mit. Auch wenn es über 25 Jahre her ist, dass ich mit Wahlforschung direkt etwas zu tun hatte und ich seitdem nur im administrativen Bereich tätig, also verlässlich vollkommen unschuldig an veröffentlichten Ergebnissen bin. Es ist mir dennoch wohler, wenn es nicht katastrophal danebengeht.

Zehn Minuten später konnte ich es alles auf einmal nicht mehr sehen und brauchte dringend eine Politikpause, sofort, unverzüglich. Ich habe das Notebook fast ruckartig zugeklappt und bin rausgegangen. Wo viele andere Menschen auch gerade mit Spaziergängen beschäftigt waren, enorm viele sogar, und wo das ganze Nachrichtenelend nicht stattfand. Wo alles normal aussah, urban as usual.

Im Hauptbahnhof stand ich eine Weile oben auf der Galerie in der Wandelhalle und sah planlos zu, wie sie da unter mir durcheinandergingen. Die Hunderte, Tausende von Leuten aus zehn, zwanzig, dreißig und sicher noch mehr Nationen, Herkunftsländern, Hintergründen etc. Wie sie da alle durchreisten, ankamen, abreisten, sich begrüßten, verabschiedeten, zu Zügen eilten, einkauften, aßen, tranken und redeten, sich umarmten, küssten und einander zuwinkten. Und es war alles ganz normal.

Was man sich ab und zu einmal klarmachen sollte, was sich vermutlich viel mehr viel öfter klarmachen sollten. Dass das alles läuft. Dass das längst so ist, dass es vollkommen normal ist. Ohne Aufregung, ohne Krawall, ohne dass sich alle an die Gurgel gehen. Die Menschen wimmeln ameisenhaft gekonnt durcheinander, sie stoßen keineswegs dauernd zusammen, sie kollidieren dabei nicht alle paar Schritte. Und eine überwältigende Mehrheit, wie man im Wahlkontext immer sagen muss, eine überwältigende Mehrheit benimmt sich normal, unverdächtig, unauffällig, alltagskonform. Sie gucken dabei nicht einmal aufs Smartphone, sie lesen dabei nicht einmal die sich überschlagenden Politiknachrichten mit. Sie machen einfach ihr Ding.

Eine Stunde Hauptbahnhof, das kann auch lehrreich sein. In den Nachrichten, lokal und auch bundesweit, ist dieser Bahnhof oft wegen der Vorfälle, wegen der Kriminalität, Drogen, Elend etc. Aber wenn man sich nur auf diese Meldungen verlässt, verkennt man eindeutig die Normalität. Man verkennt die 99% der Tage und Stunden. Wieder fällt mir das neulich erwähnte und weiterhin bedenkenswerte Zitat von Anne Tyler wieder ein (hier war es): „… and on the whole they behave, they behave very well.“

Es ist ein Satz, mit dem man sich, so banal er klingt, noch etwas beschäftigen kann.

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Beeindruckend fand ich außerdem dieses Interview beim Deutschlandfunk mit der ukrainischen Autorin Tanka Maljartschuk, der „kämpferischen Pessimistin“, wie es im Titel heißt. Nachvollziehbare, wenn auch vermutlich nicht überall willkommene Gedanken zum Thema Hoffnung und zum unerbittlichen, vorwärtstreibenden Dennoch. Den Blauwal der Erinnerung habe ich einmal von ihr gelesen, weiß ich noch, ihren Essayband merke ich jetzt vor.

Außerdem gehört, einigermaßen unpassend ist es hinter der erstgenannten Sendung: Ein Kalenderblatt zu Clarence Nash, der Stimme von Donald Duck. Na, es gab Propagandafilme gegen die Nazis von Disney, auch mit Donald. Dann ist man erneut beim Widerstand, dann passt es wieder.

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Wir winken schließlich Bill Fay. Im Guardian gibt es einen Nachruf mit eingebettetem Video zum einzigen Live-Auftritt in den späten Jahren, mit dem wunderbaren „Never ending happening.“ Den Titel eines seiner Alben, „Life is people“, habe ich in der letzten Woche erst als Appell in einem Gespräch gehört, fällt mir ein. So läuft das hier nämlich wieder ab mit den Zufällen. Dachte er und guckte skeptisch.

Und damit ab in den Tunnel der Woche.

Tunnel der U2 im Hamburger Haupptbahnhof

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