Fotografie: Ein Bild und seine Geschichte: Der Tod der Regina Lisso

In den letzten Kriegstagen 1945 nehmen sich viele Deutsche das Leben. Auch die Familie Lisso in Leipzig, deren Leichen die US-amerikanische Journalistin Lee Miller fotografiert 

Mär 24, 2025 - 19:44
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Fotografie: Ein Bild und seine Geschichte: Der Tod der Regina Lisso

In den letzten Kriegstagen 1945 nehmen sich viele Deutsche das Leben. Auch die Familie Lisso in Leipzig, deren Leichen die US-amerikanische Journalistin Lee Miller fotografiert 

Sie kommt ihrem Modell ganz nah. Nimmt die junge Frau genau ins Visier. Den zurückgelegten Kopf und die helle Haut im kühlen Licht. Die blonde Haarsträhne, so fein, als würde sie von der Atemluft bewegt. Der Arm, den sie schützend über ihren Mantel gelegt hat, als wäre ihr kalt. Lee Miller, Korrespondentin der Modezeitschrift "Vogue", fotografiert die vor ihr liegende Regina Lisso so intensiv, so lebendig, als könnte diese jeden Augenblick erwachen und sich von ihrem Ledersofa erheben. Dabei ist die 20-Jährige an diesem 20. April 1945 schon seit zwei Tagen tot. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Vater, dem stellvertretenden Oberbürgermeister von Leipzig, hat Regina Lisso Zyanidkapseln geschluckt, um der US Army, die in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs auf die Stadt vorrückt, nicht in die Hände zu fallen.

Es ist eine morbide Szene, die sich Lee Miller und anderen Reportern und Fotografinnen im Gefolge der amerikanischen Truppen im Neuen Rathaus von Leipzig bietet. Kurt Lisso, zu Lebzeiten maßgeblich zuständig für die Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Einwohner, sitzt am Schreibtisch, den Kopf zwischen Papieren auf die Arme gestützt. Seine Frau ist im Sessel davor zusammengebrochen, eine getrocknete Blutspur zieht sich über ihr Kinn. Die Tochter Regina liegt auf dem Sofa. Sie trägt noch immer die Binde des Roten Kreuzes am Ärmel. Putz, der bei den Gefechten um das Rathaus von den Wänden gerieselt ist, bedeckt ihren Mantel – und wie Puder die Haut. Miller geht nah an ihr Gesicht heran, sodass der leicht geöffnete Mund zu sehen ist, mit den "außergewöhnlich hübschen Zähnen", wie die Fotografin sie beschreibt.

Millers Aufnahmen gehen an die Schmerzgrenze

Keiner ihrer anwesenden Kollegen und Kolleginnen lichtet die Leichen in dieser Nahsicht ab. Millers Porträt geht bis an die Schmerzgrenze, ihr schonungsloser Blick wird zum Kennzeichen ihrer Fotografie und geht weit über die bloße Dokumentation hinaus. Vielleicht ist das Close-up auch ihrer Tätigkeit als Modefotografin geschuldet. Doch statt, wie von der "Vogue" gewünscht, über die neuen Trends in Europa zu berichten, ist die 37-Jährige längst der Faszination des Krieges erlegen.

Die Erinnerung daran wird die Fotografin, deren Karriere als Modell begann und als Kriegsberichterstatterin ihren Höhepunkt erreicht, bis zu ihrem Tod verfolgen. Der Übergang von Kriegs- zu Friedenszeiten will ihr nicht gelingen. Ihre Fotos vergräbt Lee Miller in Kisten und Koffern und lagert sie auf dem Dachboden des Gutshauses im Süden Englands, in dem sie nach dem Krieg mit ihrem Mann Roland Penrose lebt – und in ihrer Erinnerung. Unfähig, die Aufnahmen zu ordnen oder zu archivieren. "Mir schlug alles über dem Kopf zusammen. Den Gestank von Dachau habe ich nie mehr aus meiner Nase bekommen", sagt sie noch Jahre später. Sprechen aber tut sie über das Erlebte kaum, versucht sich durch Alkohol und Tabletten zu beruhigen.

Erst ihr Sohn entdeckt ihre Arbeiten wieder

Erst nachdem Lee Miller im Juli 1977 an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben ist, entdeckt ihr Sohn Antony Penrose zusammen mit seiner Frau Suzanna mehr als 60.000 Negative und Abzüge, Artikel und Filmrollen in Kisten und Pappkartons auf dem Dachboden seines Elternhauses.

Er findet ihre experimentellen Aufnahmen aus ihrer Zeit mit Man Ray, die Fotos der Leipziger Familie Lisso, die Schrecken von Buchenwald und Dachau, die Pariserinnen im Siegestaumel. Und auch: seine Mutter in Hitlers Badewanne. Er erst macht das Bild durch die nachträgliche Veröffentlichung bekannt und berühmt: Denn die ikonische Aufnahme war nur einmal, im Juli 1945, in einem ihrer Artikel klein abgedruckt und nie mehr wieder gezeigt worden. Ähnlich wie so viele andere Aufnahmen, die damals in London nicht publiziert wurden, weil die Bevölkerung am Ende des Krieges "keine Lust auf weiteres Leid hatte", wie die Chefredakteurin der britischen "Vogue" in späteren Jahren zutiefst beschämt zugab.