Das letzte Aufgebot : Hitlerjungen: mit Orden ausgezeichnet und gnadenlos verheizt
Wilhelm Hübner gehörte zum letzten Aufgebot des Dritten Reiches. Er wurde vor laufender Kamera ausgezeichnet, traf Adolf Hitler und erkannte, in welchem Zustand diese war.

Wilhelm Hübner gehörte zum letzten Aufgebot des Dritten Reiches. Er wurde vor laufender Kamera ausgezeichnet, traf Adolf Hitler und erkannte, in welchem Zustand diese war.
Am 20. März 1945 zeichnete Adolf Hitler im Hof der Reichskanzlei Mitglieder der Hitlerjugend aus. Es sind die letzten öffentlichen Filmaufnahmen vor seinem Tod. Einer der Jungen, die Hitler vor der Kamera tätschelt, war Wilhelm Hübner. Schon einige Wochen zuvor war der damals etwa 16-Jährige in der Wochenschau zu sehen, zusammen mit dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Die Wochenschau, ein zentrales Propagandainstrument der Nazis, sollte in den letzten Kriegsmonaten den Eindruck eines ungebrochenen Kampfwillens vermitteln.
Nur der Hitlerjunge strahlt
Gegen Kriegsende wuchs die Bedeutung von Goebbels im engeren Machtzirkel um Hitler. Die letzte Mission des Reichspropagandaministers war es, Hitler darin zu bestärken, den längst verlorenen Krieg weiterzuführen. In Lauban, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt in Schlesien, der 1945 eine der letzten Bastionen der Wehrmacht gegen die vorrückende Rote Armee war, zeichnete Goebbels am 8. März 1945 Soldaten aus. In einer kleinen Offensive war es deutschen Truppen zuvor gelungen, die Sowjets einige Kilometer zurückzudrängen.
© Bundesarchiv
Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass die Aufnahmen für Propagandazwecke kaum brauchbar waren. Die Soldaten, die Goebbels begleiten, wirken noch vorzeigbar. Doch die Kämpfer aus Lauban nehmen trotz des hohen Besuchs nur mühsam Haltung an. Sie sind abgekämpft, erschöpft – man sieht ihnen an, dass sie froh sind, überhaupt überlebt zu haben. Bis auf einen: Wilhelm Hübner, Mitglied der Hitlerjugend. Auch er wirkt nicht wie ein fanatischer Kämpfer. Der Junge strahlt über beide Pausbacken, als stünde er vor dem Weihnachtsbaum in der guten Stube und nicht auf dem zerschossenen Marktplatz.
Nach dem Krieg siedelte Hübner nach Bayern über, wo er ein neues Leben begann, doch die Erinnerungen an Lauban prägten ihn bis ins hohe Alter. In einer Defa-Dokumentation gab er Ende der 1980er-Jahre Auskunft über seinen Einsatz. Sein Bericht löste Betroffenheit aus, da er die naive Sicht eines Kindes auf den Krieg schonungslos offenbarte. Mit dem Filmteam fuhr er zurück an den Ort der Kämpfe, ins heute polnische Luban. Für Hübner war der Krieg damals ein großes Abenteuer. "Genau dahinter liegt das Wäldchen, wo wir als Kinder gespielt haben", erzählt er in die Kamera. "Es war das ideale Kinderspielgelände. Wir haben Krieg gespielt. Und 1945 wurde es grausame Wahrheit."
Ein Kind im Krieg
Das Gelände wurde zum Kriegsgebiet. 1945 diente der Junge als Melder in den vierwöchigen Gefechten um Lauban. Um jedes Gebäude in dem Ort wurde erbittert gekämpft. Hübner zeichnete sich durch seine Ortskenntnis und seinen Mut aus – der wohl eher einer kindlichen Unbeschwertheit entsprach. "Der Gedanke war tatsächlich da: Was werden jetzt deine Verwandten sagen, wenn es heißt, der Wilhelm ist in Lauban für uns gefallen?", erinnert er sich als fast 60-jähriger Mann.
Dass er überlebt hat, führt Hübner auch auf seine Größe zurück. Er sei immer der Kleinste gewesen, die Kugeln seien über ihn hinweggeflogen. Und auf sein Glück: "Ohne Glück bist du im Krieg nichts." Auf seinen Schulhof seien vier oder fünf Granaten von Stalinorgeln, sowjetischen Mehrfachraketenwerfern, die mit ihrem massiven Beschuss Angst und Zerstörung verbreiteten, eingeschlagen. "Ich lag mitten in dem Feuerzauber – kein Kratzer."
Der Krieg ist in Hübners Erinnerung ein Abenteuer wie die Schatzinsel. Sein Gedächtnis hat die schlimmsten Erlebnisse verdrängt. Er erinnert sich genau an einzelne Häuser und die Positionen ausgebrannter Panzer, doch Tote und Verletzte nehmen in seinem Gedächtnis keine Gestalt an, als seien sie sorgsam ausradiert.
"In der Gasse gab es einen Schnapsladen. Da habe ich mir eine Flasche Eierlikör geholt, mich mit meiner Flinte hinter einer Mauer versteckt, mich erst mal volllaufen lassen, wie man so schön sagt, und dann ab und zu einen Schuss abgegeben und mich wieder hinter der Mauer versteckt." Nur einmal wird Hübner nachdenklich und sagt, es sei eine große Erleichterung, dass er nie gesehen habe, ob seine Schüsse jemanden getötet hätten.
Hitler war ein gebrochener Mann
Nach dem Besuch von Goebbels kam die Einladung nach Berlin, zunächst ins Gästehaus des Reichsjugendführers Artur Axmann und am 19. März in die Reichskanzlei. Die Gruppe sei in einem Hof angetreten, erinnert sich Hübner. Dann sei Hitler gekommen, physisch geschwächt und von der drohenden Niederlage gezeichnet, und habe jeden begrüßt. "Nach meiner Meldung hat er mir die Wange gestreichelt und ungefähr gesagt: 'Brav, mein Junge'." Anschließend sei Hitler mit seinem Schäferhund wieder gegangen. Während der Begegnung habe er vor Aufregung kaum nachdenken können, berichtet Hübner. Später habe er erkannt, dass Hitler ein "gebrochener Mann" war, das habe man gesehen. Er habe nur gedacht: "Unser Adolf ist ein alter Mann geworden."