Weil sie es wollte: Diese Frau hat 62 Tage in absoluter Dunkelheit verbracht

Warum geht man ins Dunkelretreat, und was passiert da mit einem? Saskia John, 62, hat es schon dreimal getan – und immer noch nicht genug davon. Und da wir uns angesichts der Weltlage auch gerade am liebsten unter einer dunklen Decke verkriechen würden, haben wir sie gefragt, was ihr das gebracht hat. 

Mär 17, 2025 - 13:00
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Weil sie es wollte: Diese Frau hat 62 Tage in absoluter Dunkelheit verbracht

Warum geht man ins Dunkelretreat, und was passiert da mit einem? Saskia John, 62, hat es schon dreimal getan – und immer noch nicht genug davon. Und da wir uns angesichts der Weltlage auch gerade am liebsten unter einer dunklen Decke verkriechen würden, haben wir sie gefragt, was ihr das gebracht hat. 

BRIGITTE: Sie haben 62 Tage Ihres Lebens in einem dunklen Raum verbracht. Warum tut man sich das an?

Saskia John: Bei einem Aufenthalt in der Dunkelheit können ganz andere Innenwelten bewusst werden als im Alltag, wo man viele Ablenkungen und To-dos hat. Schon vor vielen Jahren bin ich auf einen Artikel von Holger Kalweit gestoßen, der das Dunkelretreat in Deutschland bekannt gemacht hat. Die Vorstellung hat mich gleichzeitig total fasziniert und geängstigt. Diesen Zwiespalt habe ich ein Jahr lang mit mir herumgetragen, dann rief ich Holger an. Er hat mir die Angst genommen, und 2003 habe ich für meine ersten zwölf Tage zugesagt.

Die Angst ist absolut nachvollziehbar – Dunkelhaft ist eine Foltermethode.

Wenn man es freiwillig macht, ist das etwas komplett anderes. Aber natürlich tauchen die Ängste vor der Dunkelheit trotzdem auf, die sind ja in uns drin. Ich hatte wirklich Angst, wahnsinnig zu werden oder Geister zu sehen – stattdessen habe ich tiefe, schöne und berührende Erfahrungen mit mir selbst gemacht.

Zunächst: Wie müssen wir uns so einen Dunkelraum vorstellen?

Mein letztes Retreat fand im Haus der Naturtherapeutin Gertrud Niehaus statt, die mich dabei begleitet hat. Ich hatte ein Zimmer mit Bett, Tisch, einem Meditationskissen und einer Matte, ein Bad und einen Flur. Alles war vollständig mit dicken, schweren Vorhängen verdunkelt. Jeden Tag kam Gertrud für ein einstündiges Gespräch zu mir. Bei ihr konnte ich mir Rückmeldung holen, wenn ich nicht mehr wusste, wo ich gerade bin in mir selbst.

Waren Sie mal versucht, die Vorhänge zu lüften?

Im Gegenteil: Wäre irgendwo Licht reingekommen, hätte ich versucht, den Spalt zu schließen. Im ersten Retreat habe ich das erfolglos versucht, bis ich merkte: Das sind meine inneren Lichter.

Sie haben im Dunkeln innere Lichter gesehen?

Vor allem im dritten Retreat, im ersten und zweiten noch nicht so stark. Da war es vor allem noch darum gegangen, den Keller meines inneren Hauses aufzuräumen. 

Lagern dort die dunklen Seiten der Vergangenheit?

In unserem kollektiven Keller landet alles, was unsere Ahnen verdrängt haben. Im Dunkelraum konnte ich zum Beispiel verstehen, warum ich so eine schwierige Beziehung zu meiner Mutter hatte. Sie war von ihren Gefühlen abgeschnitten, weil sie im Angstfeld des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen war und das nicht verarbeiten konnte. Als Kind stieß ich mit meiner Offenheit auf ihre Geschlossenheit, und da ich keine Verbindung zu meiner Mutter aufnehmen konnte,  entstand in mir eine Todesangst, die ich ebenfalls verdrängen musste. Das meine ich mit Keller aufräumen: dass ich mich diesen Ängsten annähere und in Kontakt trete zu dem Kind in mir, das diese Angst hatte. Dann kann es sich entspannen und loslassen, und das fühle ich in meinem ganzen Körper. Was ich als Kind ausgelagert habe, kann wieder in mich hinein und ich werde vollständiger.

Sie haben sich sozusagen Ihres inneren Kindes angenommen.

Die ersten Etagen meines inneren Hauses sind die Kelleretagen meiner Kindheit, und wo ich keine Erinnerungen mehr habe, sind die Etagen dunkel. Dass das Licht ausgegangen ist, hat mit schmerzvollen Momenten zu tun: Ich schalte mich aus, ich mache mich dunkel, ich fühle nichts mehr, und weil ich nichts mehr fühle, kann ich irgendwie weiterleben, aber ich funktioniere nur. Ich musste als Kind das Fühlen "abdrehen", weil keiner da war, der mich emotional begleitet hat, denn meine Eltern waren selbst blockiert. Im Dunkelretreat war ich wieder mit den schmerzhaften Gefühlen meines inneren Kindes konfrontiert, ich konnte es halten und das Verdrängte nachträglich verarbeiten. Das ist der Moment, wo in der Etage das Licht angeht. Ich habe Etage für Etage das Licht angemacht und so in Heilung gekommen.

Und beim letzten Retreat war dann alles erleuchtet?

Da ging es dann schon stark um die lichtvollen Ebenen – die höheren Seinsqualitäten, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt, weil ich noch keinen Zugang zu ihnen hatte.

Was können wir uns unter "lichtvollen Ebenen" vorstellen?

Das sind emotional warme, stille, erhabene, friedvolle, kraftvolle Ebenen, ein Gefühl von: Hier bin ich zutiefst zu Hause, hier ist bedingungslose Liebe, hier bin ich mit jeder Faser meines Seins angenommen. Weite, Offenheit, Wahrhaftigkeit, unendliche Güte, Weisheit und schöpferische Herrlichkeit – das mögen alles nur Worte sein, aber das alles ist fühlbar. Und es ist sehr schön, das fühlen zu können.

Konnten Sie das Erlebte in den Alltag hinüberretten?

Ich kann diese inneren Prozesse zunehmend in meinem Alltagsbewusstsein verankern. Was ich im Dunkelraum in den tiefen Schichten meiner Persönlichkeit erarbeitet habe, ist ja da – auch, wenn ich das mal vergessen sollte. Die lichtvollen Ebenen sind wie eine Ressource, die mich durchs Leben trägt. Sie gibt mir auch in schwierigen Momenten Halt und Sicherheit, bis ich sie gemeistert habe und daran gewachsen bin. Ich habe das Gefühl, dass das innere Wachstum nie endet.

Heißt das, Sie begeben sich wieder in die Dunkelheit?

Ja, das nächste Mal will ich 49 Tage in die Dunkelheit wie die tibetischen Mönche. Ich möchte noch tiefere Seinsebenen erfahren – und dafür brauchte ich eine sehr lange Phase des Rückzugs.


© Reichel Verlag
Zur Person: Saskia John wurde 1961 in der ehemaligen DDR geboren und studierte dort Veterinärmedizin. Nach der Wende absolvierte sie eine Ausbildung zur Heilpraktikerin und arbeitet seit 1994 in eigener Praxis. Sie verbrachte insgesamt 62 Tage im Dunkelretreat und hat mehrere Bücher über ihre Erfahrungen geschrieben. Ihr neuestes Buch heißt "Im Dunkelretreat – 26 Tage Dunkelheit – Ein Bewusstseinsexperiment" (19,90 Euro, Reichel Verlag). Weitere Infos unter www.saskiajohn.de.