Lars Vollmer: Sind Deutschlands Führungskräfte verantwortungsscheu?
Ein häufig geäußerter Vorwurf gegen Führungskräfte lautet: Sie wollten keine Verantwortung übernehmen. Aber ist das wirklich das Problem? Lars Vollmer sieht persönliche Defizite nicht als Ursache

Ein häufig geäußerter Vorwurf gegen Führungskräfte lautet: Sie wollten keine Verantwortung übernehmen. Aber ist das wirklich das Problem? Lars Vollmer sieht persönliche Defizite nicht als Ursache
Der Koalitionsvertrag der neuen Regierung ist überschrieben mit „Verantwortung für Deutschland“. Ich war versucht, mich darüber zu amüsieren, denn generischer geht es kaum. Genauso gut könnte sich eine Fußballmannschaft für die neue Saison auf die Fahnen schreiben, Spiele zu gewinnen. Ja, was denn sonst?
Aber dann habe ich doch lieber darüber nachgedacht, dass das mit der Verantwortung so eine Sache ist. Nicht nur in der Politik, sondern auch in den Unternehmen.
Die Sache mit der Verantwortung
Ich hatte in der letzten Kolumne bereits erwähnt, dass ich temporär wieder in einige Beratungsprojekte involviert bin. Dabei ist mir aufgefallen, wie oft mir ein Geschäftsführer oder eine Inhaberin auf die Frage nach ihrem größten Problem antwortet: „Meine Führungskräfte übernehmen einfach zu wenig Verantwortung.“ Das liege – zumindest zum Teil – daran, dass es den jeweiligen Personen wahlweise an Mut oder Weitsicht fehle oder sie eben schlichtweg entscheidungsschwach seien.
Es werden also persönliche Defizite als Ursache identifiziert. Doch wenn wir dann tiefer bohren, stellt sich fast immer heraus, dass die individuelle Verantwortungsunterlassung nicht das Problem ist. Sie ist vielmehr eine Lösung. Für ein anderes Problem.
Die Sache mit der Torte
Dieses andere Problem kann ganz unterschiedlich gelagert sein, doch ein Muster wiederholt sich.
Dazu eine Analogie. Die spitzt zugegebenermaßen etwas zu und hat ihre Grenzen, aber sie veranschaulicht sehr schön eine weitgehend unbekannte Eigenschaft von Verantwortung.
Verantwortung ist nämlich endlich. Wie eine Torte.
Die Analogie geht so: Stellen Sie sich vor, der Chef bringt in die Runde seiner Führungskräfte am Morgen eine Torte mit und präsentiert sie stolz. Alle bewundern diese und hätten gerne etwas davon ab.
Der Chef schneidet die Torte in zwölf Stücke, bedient sich selbst als Erster und schaufelt fünf Stücke auf seinen Teller. Die sieben restlichen schiebt er auf einen anderen Teller und platziert ihn vor dem leeren Stuhl neben sich. Dieser Stuhl ist reserviert für all die Regeln, Methoden, Policys und Leitlinien, die im Unternehmen gelten.
Und wenn der Chef dann mit vollen Backen und noch kauend den anderen am Tisch vorwirft, dass sie sich gar nichts von der Torte einverleiben, ist das fast schon zynisch. Denn de facto ist keine mehr übrig.
So ist das auch mit der Verantwortung.
Die Sache mit den Regeln
Sobald in einem Bereich für alles Regeln gelten, liegt Verantwortung nicht mehr in der Hand der Führungskräfte: Die Verantwortung ist an die Regeln delegiert, denn diese geben schließlich vor, was zu tun ist bzw. an was man sich zu orientieren hat.
Im Extremfall muss die Führungskraft gar nicht mehr selbst denken. Und noch mehr: Oft SOLL sie noch nicht einmal mehr selbst denken. Sie hat einfach nur den Prozess zu durchlaufen und die Regeln einzuhalten.
Diese Situation bringt Führungskräfte in ein Dilemma. Wenn sie trotzdem Verantwortung übernehmen und anders entscheiden, umgehen sie eine Vorschrift. Begehen also eine gewisse Form von Illegalität.
Ich denke nicht, dass es unter diesen Umständen einer Führungskraft vorzuwerfen ist, wenn sie sich an die Vorschriften hält, oder?
Die Sache mit der Konsistenz
Wenn Sie jetzt einwenden, dass in einem Unternehmen doch nicht jede Führungskraft entscheiden kann, wie sie will, weil dann alles auseinanderfällt, gebe ich Ihnen gerne recht. Natürlich braucht es über eine Company hinweg eine Entscheidungskonsistenz. Wenn Sie jedoch gleichzeitig Verantwortungsübernahme einfordern, erreichen Sie dies nicht mit Regeln. Denn Regeln sind dumm, sobald die Umwelt nicht mehr stillhält.
Dann braucht ein Unternehmen eine handlungsleitende Strategie. Und die fehlt erstaunlich häufig.
Die Banalität des „Ja“
Irgendeine Strategie hat zwar heute jedes Unternehmen. Doch viele erschöpfen sich in Aussagen wie „Wir wollen Weltmarktführer werden“. Das ist keine Strategie, sondern eine Trivialität.
Eine handlungsleitende Strategie ist dagegen eine, die zu solchen Entscheidungen „Nein“ sagt, die für das Unternehmen ebenfalls plausibel wären. Anders ausgedrückt: Wenn das Gegenteil der Strategie niemand mit Verstand ernsthaft verfolgen würde, ist es keine Strategie. Und nur der ausschließende Charakter macht eine Strategie im Alltag für Führungskräfte handhabbar.
Dann kann diese nämlich aus fünf realistischen Entscheidungsoptionen drei ausschließen, weil die Strategie „Nein“ dazu sagt. Sie wahrt die Entscheidungskonsistenz über das Unternehmen hinweg und kann gleichzeitig Verantwortung übernehmen: Sie ist frei in der Entscheidung für eine der zwei verbliebenen Optionen.
Die Lösung eines Problems
Fehlt eine solche handlungsleitende Strategie, liegt es nahe, dass Führungskräfte ihre Entscheidungen zunächst einmal nicht treffen. Lieber warten sie ab, ob es von irgendwoher ein Signal gibt, welche der Optionen gut zu den Entscheidungen der anderen passen könnte. Oder sie fragen gleich den Chef, damit der ihnen die Entscheidung und damit die Verantwortung abnimmt.
Passiert das häufiger, wird das als individuelle Entscheidungsunfähigkeit und Verantwortungsscheu interpretiert. Dabei ist dieses Verhalten im Grunde nur eine organisationale Lösung für das Problem, Entscheidungskonsistenz ohne Strategie herbeizuführen.
Doch zurück zur Torte der Verantwortung.
Die Verteilung der Torte
Ich bin wirklich gespannt, wie die neue Regierung gedenkt, diese Torte zwischen sich und den Bürgern aufzuteilen: Nimmt sie sich den größten Teil und beschwert sich später über das verantwortungsaverse Wahlvolk? Oder gibt sie einen großen Teil der Torte an die Bürger weiter?
Als freiheitlich denkender Mensch wäre mir das Zweite lieber. Aber viel Hoffnung habe ich nicht.