„Eine historische Pflicht“ – Interview mit Russlands Botschafter Netschajew zum 80. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland

Am 9. Mai jährt sich zum 80. Mal der Sieg der Alliierten, allen voran der Sowjetunion, über Nazideutschland und damit das Ende des Krieges in Europa. Aus diesem Anlass betont Russlands Botschafter in Deutschland Sergej J. Netschajew im Interview mit den NachDenkSeiten die historische Pflicht der Erinnerung an 27 Millionen sowjetische Opfer des Nationalsozialismus. ErWeiterlesen

Apr 29, 2025 - 08:05
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„Eine historische Pflicht“ – Interview mit Russlands Botschafter Netschajew zum 80. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland

Am 9. Mai jährt sich zum 80. Mal der Sieg der Alliierten, allen voran der Sowjetunion, über Nazideutschland und damit das Ende des Krieges in Europa. Aus diesem Anlass betont Russlands Botschafter in Deutschland Sergej J. Netschajew im Interview mit den NachDenkSeiten die historische Pflicht der Erinnerung an 27 Millionen sowjetische Opfer des Nationalsozialismus. Er kritisiert die „Hysterie“ vor einem angeblichen russischen Angriff und die Ablehnung russischer Teilnahme an den Gedenkfeiern in Deutschland. Stattdessen lädt er Deutsche zur gemeinsamen Erinnerung ein. Wir sprachen mit ihm nach dem medial viel beachteten Besuch des Botschafters auf den Seelower Höhen. Dabei ging es vor allem um die historische Bedeutung des Tages, bei dem auch die aktuelle Situation eine Rolle spielt. Das Gespräch mit Russlands Botschafter Sergej J. Netschajew hat Éva Péli geführt.

Éva Péli: Vor nunmehr 80 Jahren besiegte die sowjetische Armee gemeinsam mit ihren Alliierten den deutschen Faschismus. Welche Rolle spielt die Erinnerung an den Sieg über den Faschismus am 9. Mai 1945 heute in Russland, für die Gesellschaft, aber auch in politischer Hinsicht?

Sergej J. Netschajew: Der Tag des Sieges ist einem jeden russischen Bürger heilig. Keine sowjetische Familie blieb vom Großen Vaterländischen Krieg verschont. 27 Millionen Sowjetbürger sind gefallen, der Großteil von ihnen waren friedliche Zivilisten. Die Nazis haben von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, einen Vernichtungskrieg gegen die UdSSR führen zu wollen, der unter anderem in der Leningrader Blockade seinen Ausdruck fand. Die Führung Hitlerdeutschlands stellte die Aufgabe, diese Stadt und die gesamte Stadtbevölkerung zu vernichten. Während der Leningrader Blockade sind mehr als eine Million Zivilisten durch Hunger, Kälte und Bombenangriffe gestorben. Russland wird sich weiterhin konsequent dafür einsetzen, dass die Verbrechen des Dritten Reiches und seiner Handlanger auf dem Territorium der UdSSR als Genozid an den Völkern der Sowjetunion anerkannt werden. Wir rechnen darauf, dass die neue Bundesregierung und der neue Bundestag den Mut finden, einen entsprechenden Beschluss zu fassen.

Wie wird Russland, als Nation und als Gesellschaft, und wie werden die russischen Menschen diesen 80. Jahrestag des Sieges über das Deutsche Reich begehen? Welche Aktivitäten plant die russische Botschaft in Deutschland aus diesem Anlass?

An diesem Tag wird an Familienangehörige erinnert, die an den Kampfhandlungen teilgenommen, im sowjetischen Hinterland gearbeitet haben oder den Krieg als Kinder erleben mussten. Viele Russen werden sich an der Aktion „Unsterbliches Regiment“ beteiligen, die auch in großen deutschen Städten, einschließlich Berlins, abgehalten werden soll. Wir danken unseren Landsleuten für diese Initiativen und den Behörden hierzulande für die Zustimmung zur Durchführung dieser Aktionen.

Auf dem Territorium der Bundesrepublik gibt es mehr als viertausend Grabstätten, in denen über 700.000 Sowjetsoldaten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Zusammen mit den anderen russischen Auslandsvertretungen setzt die Botschaft ein umfassendes Veranstaltungsprogramm zum 80. Jahrestag des Sieges um. Es geht insgesamt um ca. dreihundert Veranstaltungen. Dabei handelt es sich unter anderem um Gedenkstunden, Begegnungen, Ausstellungen, Konzerte, Filmvorführungen und andere kulturelle, humanitäre sowie Bildungs- und Informationsveranstaltungen. Traditionsgemäß wollen wir zusammen mit den Veteranen, Landsleuten und Vertretern deutscher Vereine die zentralen sowjetischen Soldatengräber und Erinnerungsstätten besuchen und dort Blumen und Kränze niederlegen. Auch werden wir uns an „Gedenk-Subbotniks“ beteiligen, einer Aktion, bei der Angehörige der russischen Auslandsvertretungen, Schüler der Schule bei der Russischen Botschaft und freiwillige Helfer sowjetische Soldatengräber in Ordnung bringen. Wir danken den deutschen Gemeinden und Kommunen und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge für den respektvollen Umgang mit den sowjetischen Soldatengräbern.

Foto: Russlands Botschafter S. Netschajew bei der Gedenkfeier in Selow am 16. April 2025

Laut der Berliner Zeitung empfiehlt das Auswärtige Amt, russische und belarussische Vertreter von Gedenkveranstaltungen auszuschließen – notfalls per Hausrecht. Das deutsche AA warnt in seinem Schreiben vor „Propaganda, Desinformation und geschichtsrevisionistischer Verfälschung“. Wie reagieren Sie darauf?

Die Empfehlungen des Auswärtigen Amtes an die Landes- und Kommunalbehörden, von der Einladung offizieller russischer und belarussischer Vertreter zu Veranstaltungen anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus abzusehen, sind äußerst bedauerlich. Dabei brauchen wir keine besondere Einladung, um an öffentlich zugänglichen Orten das Andenken an die sowjetischen Befreier und die Opfer des Nazismus zu ehren und den Tag des Sieges feierlich zu begehen. Wir hoffen, dass alle geplanten Veranstaltungen, einschließlich der Gedenkmärsche des „Unsterblichen Regiments“, würdevoll durchgeführt werden.

Am 16. April waren Sie an den Seelower Höhen im Oderbruch, darüber wird jetzt überall berichtet, am Ort der letzten großen Schlacht der Roten Armee. Was haben Sie dort erlebt?

Es war in der Tat eine einmalige und in jeder Hinsicht denkwürdige Veranstaltung. Die Anwesenheit von etwa 800 Menschen, wie Journalisten berichteten, unterstreicht die Bedeutung des Gedenkens an die gefallenen sowjetischen Soldaten. Die gewaltige Schlacht um Berlin hängt mit einem tragischen Opfergang unzähliger Rotarmisten zusammen.

Die beeindruckende Gedenkstätte mit den Kriegsgräbern, in denen schätzungsweise 30.000 sowjetische Soldaten ihre letzte Ruhe fanden, ist ein wichtiger Ort der Erinnerung. Besonders hervorzuheben ist die wertvolle Arbeit unserer Abteilung für Gedenkarbeit, die in den vergangenen Monaten 100 weitere Namen unbekannter Gefallener identifizieren konnte. Die Kolleginnen und Kollegen in Seelow haben diese Informationen dankenswerterweise aufgenommen und drei zusätzliche Ehrentafeln mit diesen Namen angefertigt, die wir gestern enthüllen durften.

Die Atmosphäre während der Veranstaltung war sehr freundlich und von Respekt geprägt. Anzeichen von Entfremdung oder Ablehnung waren in keiner Weise erkennbar. Ich bin den Kolleginnen und Kollegen der Stadt Seelow im Oderbruch und der breiten Öffentlichkeit sehr dankbar für die Verbundenheit mit der Erinnerungskultur und die freundschaftlichen Gefühle, die mir entgegengebracht wurden. Diese bewegende Veranstaltung wird mir lange in guter Erinnerung bleiben.

In welcher Form gedenken die getrennten Völker der Sowjetunion gemeinsam des Sieges über den Faschismus? Welche Rolle spielt der gemeinsame Kampf für Russland?

Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die Opfer, die dafür gebracht werden mussten, machten und machen weiterhin unser gemeinsames Gut beziehungsweise die gemeinsame Erinnerung aller Völker der UdSSR aus. Russland hat weder die heldenhaften Leistungen der Sowjetsoldaten noch die Tränen ihrer Mütter nach Nationalitäten geteilt und will das auch nicht tun. Der Sieg war nur durch die gemeinsamen Anstrengungen möglich.

Zu den offiziellen Feierlichkeiten anlässlich des Siegestages in Moskau kommen in diesem Jahr fast alle Staatschefs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der BRICS-Länder, Staats- und Regierungschefs einiger europäischer Länder sowie andere hohe internationale Besucher zusammen. Die Gästeliste wird immer länger.

Auch wir werden in Deutschland zusammen mit Kollegen aus den diplomatischen Vertretungen der GUS-Länder Gedenkveranstaltungen stattfinden lassen und sie zu unseren Aktionen einladen. Die zentrale Gedenkstunde wird nach guter Tradition am 9. Mai im Berliner Treptower Park am Sowjetischen Befreierdenkmal stattfinden. Dazu laden wir russische Landsleute und alle deutschen Bürger ein, denen diese Erinnerung nicht gleichgültig ist.

Gibt es irgendwelche Kontakte zu Ukrainern?

Wissen Sie, die Ukrainer haben einen bedeutenden Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus geleistet – ebenso wie Angehörige anderer Republiken der damaligen Sowjetunion. In den Kriegsgräbern in Deutschland ruhen Menschen aus allen ehemaligen Sowjetrepubliken Seite an Seite. Für uns gibt es da keine Unterscheidung nach Nationalität – ob Ukrainer, Belarussen, Kasachen oder andere, sie alle waren Opfer dieses Krieges.

Ukrainische Mitbürger, die sich derzeit in Deutschland aufhalten und mit uns gemeinsam gedenken möchten, sind jederzeit herzlich willkommen. Wir schließen niemanden aus.

Obwohl wir keine Kontakte zur ukrainischen Botschaft oder anderen ukrainischen Stellen pflegen, gilt unser Gedenken allen gefallenen Soldaten der damaligen Sowjetunion, unabhängig von ihrer Nationalität.

Wie wird dabei heute der damalige gemeinsame Kampf mit den Alliierten, mit Großbritannien, den USA und Frankreich, gesehen, auch angesichts der aktuellen Entwicklung?

Wir sind davon überzeugt, dass die Erinnerung an die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges nicht davon abhängen sollte, was jeweils aktuell politisch geschieht. Das gilt voll und ganz auch für den Beitrag der Alliierten zur Zerschlagung des Nazismus. Wir würden uns freuen, auch Vertreter dieser Länder zu den geplanten Gedenkveranstaltungen zu begrüßen, einschließlich der für den 25. April in Torgau angesetzten Gedenkstunde, die sich dem 80. Jahrestag des „Handschlags an der Elbe“ widmen wird, als sich die sowjetischen und die amerikanischen Truppen dort getroffen haben.

Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass europäische Politiker am 9. Mai zu einer alternativen 80-Jahr-Feier in Kiew erwartet werden?

Diese Tatsache deutet unweigerlich auf eine Politisierung dieses historischen Gedenktages hin. Ob dies im Sinne einer angemessenen Würdigung der Toten geschieht, mag unterschiedlich bewertet werden. Auffällig ist, dass es europäischen Politikern offenbar freisteht, solche Veranstaltungen in Kiew zu besuchen, während Reisen nach Moskau untersagt werden. Diese Diskrepanz erscheint in der Tat merkwürdig und wirft Fragen auf, etwa wie man den Tag des Sieges über den Nazismus in den Städten begehen kann, wo Straßen den Namen von Bandera und anderen nationalsozialistischen Helfershelfern tragen, wo Denkmäler für sowjetische Helden, die die Ukraine befreit haben, zerstört werden. Eine befremdliche Situation für mich.

In Deutschland wird zunehmend politisch und medial die Erinnerung daran verdrängt, dass die Sowjetunion die Hauptlast im Kampf gegen das Deutsche Reich trug und den entscheidenden Anteil am Sieg über den Faschismus hatte. Welche Erklärung haben Sie dafür, und wie gehen Sie damit um?

In der Tat müssen wir es mit einer Verdrehung beziehungsweise Vertuschung von grundlegenden Fakten zu tun haben. Vor allem gilt es für den entscheidenden Beitrag der Roten Armee zur Niederschlagung des Nazismus und für die immensen Opfer, die das Sowjetvolk für den Sieg erbringen musste. Die Frage nach der deutschen Verantwortung wird in den letzten Jahren überwiegend in Bezug auf die Verbrechen des Holocaust gestellt. Die erschreckenden Grausamkeiten, die das Dritte Reich und seine Handlanger auf dem Territorium der Sowjetunion während des Vernichtungskrieges, einschließlich der Leningrader Blockade, begangen haben, würden einige Vertreter aus der deutschen Politik von sich aus lieber nicht ansprechen.

Wir erleben aktuell, wie versucht wird, die sowjetischen Kriegsopfer nach Nationalitäten einzuteilen. Die Genesis des Zweiten Weltkrieges wird durch die Unterstellung einer vermeintlich „gleichen Verantwortung der totalitären Regime“ ersetzt, und die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Nachkriegszeit geht mit den Verweisen auf das angebliche Ablösen der einen Diktatur durch die andere einher. Die Versöhnung der Nachkriegszeit zwischen den Menschen in unseren Ländern, die Dankbarkeit gegenüber den Sowjetmenschen, die den Hass gegen den einstigen Feind abgelegt haben und dem deutschen Volk die Hand zur Freundschaft reichten sowie Hilfe bei dem Wiederaufbau anboten, lässt man nun dem Vergessen anheimfallen.

Es ist schlichtweg unmöglich, über den Umbau von Museumsausstellungen hinwegzusehen, bei dem im Geiste der aktuellen politischen Gegebenheiten ein „Umdenken“ hinsichtlich der heldenhaften Leistungen des Sowjetvolkes stattfindet. Die deutsche Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, ein weiteres Symbol der deutsch-russischen Aussöhnung, hat kürzlich beschlossen, die Mitgliedschaft Russlands und Belarus‘ in ihrem Kuratorium auszusetzen.

Die Versuche, die Geschichte umzuschreiben, das Verdrängen der Realitäten, die die Grundlage für die Nachkriegsordnung bildeten, die rückwirkende Verdrehung von historischen Ereignissen und von deren Kausalität in einem für die Russen so sensiblen Bereich wie dem des Großen Vaterländischen Krieges tragen nicht zur Normalisierung der Beziehungen zwischen unseren Staaten und Gesellschaften bei.

Welche Rolle spielt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in den aktuellen politischen Diskussionen zwischen Russland und Deutschland?

Der politische Dialog zwischen unseren Ländern findet de facto nicht statt, die meisten einzigartigen Formate für die vielfältigen deutsch-russischen Kooperationen wurden auf Betreiben der deutschen Seite auf Eis gelegt. Das war nicht unsere Entscheidung. Doch leider ist es so, wie es ist.

In den eher seltenen Gesprächen in verschiedenen Stellen versuchen wir, unsere Positionen zu vermitteln. Unter anderem bringen wir die Hoffnung zum Ausdruck, dass im Jahr des 80. Jahrestages der Befreiung Deutschlands und Europas vom Nationalsozialismus die Behörden vor Ort sich nicht den Menschen in den Weg stellen werden, die der Sowjetsoldaten gedenken wollen, und die Praxis der beleidigenden Verbote aus den letzten Jahren aufgeben, als das Zeigen der Symbole des Sieges und der russischen Staatsflagge bei den Gedenkveranstaltungen zum 8. und 9. Mai untersagt wurde. Wir hoffen, dass wir damit Gehör finden, auch in den Bundesländern.

Wie erleben Sie die Reaktionen in der bundesdeutschen Gesellschaft auf diesen Jahrestag?

Vertreter lokaler Behörden und Gemeinden, insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, Vereine, einfache deutsche Bürger sind trotz alledem bereit, russische Delegationen zu gemeinsamen Feierstunden einzuladen und zusammen mit uns an den Gedenkfeiern und anderen von der Botschaft organisierten Veranstaltungen teilzunehmen. Die Erinnerung an die Heldentat der sowjetischen Befreier ist im deutschen Volk immer noch lebendig. Wir sind dankbar für die Bewahrung dieser Erinnerungskultur.

Wie erklären Sie sich die totale Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland seit der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Deutschen Bundestag vor nunmehr 24 Jahren? Das hat ja nicht mit dem Konflikt in der Ukraine angefangen.

Russland war immer daran interessiert, wirklich gutnachbarliche, partnerschaftliche Beziehungen zu Deutschland zum beiderseitigen Vorteil zu gestalten, und hat dafür alles in seiner Macht Stehende getan. Das Verhältnis zwischen unseren Ländern war in vielerlei Hinsicht richtungsweisend für Europa. Gleichzeitig haben wir natürlich damit gerechnet, dass Berlin uns entgegenkommen und unsere grundlegenden Interessen, einschließlich derer im Sicherheitsbereich, berücksichtigen wird.

Auch heute sind wir bereit, mit der neuen Bundesregierung und mit allen legitimen politischen Kräften, die das deutsche Volk vertreten, zusammenzuarbeiten. Das Abbrechen der Brücken, die Einstellung des Dialogs, die Ausweisungen der Diplomaten, die Schließung der diplomatischen Vertretungen und der Abbau der Zusammenarbeit sind nicht Teil unserer Politik. Wir werden das neue Bundeskabinett an seinen Taten messen, nicht an der Wahlkampf-Rhetorik. Wir hoffen, dass Berlin die Konsequenzen zieht und die früheren Fehler nicht wiederholt. Es ist für jeden offensichtlich, dass die Politik der „Zeitenwende“ gegenüber Russland gescheitert ist. Die Versuche, Russland eine strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld zuzufügen, unser Land von innen zu destabilisieren und mit Sanktionen zu strangulieren, unsere Wirtschaft zu zerfetzen – all das funktioniert nicht. Russlands Interessen müssen berücksichtigt werden, besser früher als später. Nach unserer Beobachtung gibt es in der deutschen Gesellschaft ein wachsendes Verlangen nach einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland.

Können Sie sich vorstellen, dass die deutsche Diplomatie in der Lage ist, eine vermittelnde Rolle im Krieg in der Ukraine zu spielen?

Bisher sind solche Bemühungen öffentlich kaum wahrnehmbar. Stattdessen dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung oft die Forderung, die Ukraine müsse aus einer Position der Stärke agieren, Russland eine strategische Niederlage erleiden, die russische Wirtschaft durch Sanktionen zerrüttet und Langstreckenwaffen für Angriffe auf russisches Territorium geliefert werden.

Die kolportierten, teils alarmierenden Zukunftsszenarien – wie ein angeblich geplanter Krieg gegen Deutschland – entbehren jeglicher Grundlage und scheinen reine Spekulation zu sein.

Im Gegensatz zu den Initiativen anderer internationaler Akteure, wie den Friedensbemühungen Chinas, Brasiliens und afrikanischer Staaten, sind Friedenspläne oder konkrete Versuche einer friedlichen Konfliktlösung aus Berlin bislang nicht öffentlich geworden.

Bemerkenswert ist in diesem Kontext der auffallende Unterschied zur neuen US-Administration, von der Signale zu hören sind, die wenigstens ein Bemühen um das Verständnis für die Sicherheitsinteressen Russlands und um die Entwicklung von Friedensvorschlägen erkennen lassen, die über eine reine Waffenpause hinausgehen und einen dauerhaften Frieden anstreben. Solche Äußerungen sind aus Europa derzeit kaum vernehmbar.

Wie kann man junge Menschen für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs sensibilisieren und ihnen die Bedeutung von Frieden und Völkerverständigung vermitteln?

Zu diesem Zweck ist es vor allem erforderlich, die Fakten sorgfältig zu behandeln und die Kausalität des einen oder anderen Abschnitts der modernen Geschichte ehrlich darzustellen. Dann werden auch die Schlussfolgerungen daraus richtig sein.

Ein Blick in die Gegenwart: In einer wahren Welle der Hysterie verbreiten bundesdeutsche Politiker, Medienvertreter und auch Historiker ausgerechnet 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Angst und Panik vor einem angeblich russischen Angriff in den nächsten Jahren. Nun hat der mutmaßlich künftige Kanzler gesagt, dass die Lieferung der Taurus-Raketen der nächste Schritt für die Ukraine sein könnte, um die Krim-Brücke anzugreifen. Wie wird das bewertet? Wo ist die rote Linie?

Ich möchte Ihre Definition für dieses Phänomen nicht bestreiten. Die Angst vor einem angeblich unvermeidlichen russischen Angriff auf einen NATO-Mitgliedstaat wird von einigen Politikern und Medien auf völlig künstliche Weise geschürt. Diese Rhetorik entbehrt jeder Grundlage. Der Präsident der Russischen Föderation hat wiederholt öffentlich auf die Absurdität eines solchen Szenarios hingewiesen. Wir haben keinen Grund, in einen Krieg gegen Deutschland oder andere NATO-Mitgliedsländer zu ziehen, mit einer Ausnahme: Sofern Russland selbst nicht angegriffen und sein Existenzrecht nicht in Frage gestellt wird. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass wir in diesem Fall – wie schon oft in der Geschichte – für die Verteidigung unserer Heimat bis zum Ende gehen werden. Will etwa jemand, dass ein regionaler Konflikt zu einem dritten Weltkrieg eskaliert und in einen globalen Atomkonflikt mündet? Wer also über das Thema „baldiger Krieg“ mit Russland leichtsinnig spekuliert, treibt ein sehr gefährliches und unverantwortliches Spiel. Wir verurteilen diese Demagogie aufs Schärfste. Die Übergewinne der Rüstungskonzerne sind es nicht wert, die Welt an den Rand einer Katastrophe zu bringen.

Was können aus Ihrer Sicht die Menschen in Deutschland tun, um an den Tag der Befreiung zu erinnern und der Opfer, auch vor allem der sowjetischen, zu gedenken?

Deutsche Bürgerinnen und Bürger sind herzlich eingeladen, zu unseren Veranstaltungen zu kommen und gemeinsam mit uns der sowjetischen Befreier zu gedenken. Wir freuen uns auf jeden, der Interesse hat.

Herr Botschafter, vielen Dank für das Gespräch.

Titelbild: Russlands Botschafter in Deutschland Sergej J. Netschajew