Bundeshaushalt: Die Steuerschätzung ist kein Grund zur Panik

Steuerschätzungen sind wichtig und eine Orientierung, aber auch nur eine Momentaufnahme. Wer reflexartig interpretiert, dass die Spielräume enger werden, übersieht zwei wichtige Faktoren

Mai 16, 2025 - 19:24
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Bundeshaushalt: Die Steuerschätzung ist kein Grund zur Panik

Steuerschätzungen sind wichtig und eine Orientierung, aber auch nur eine Momentaufnahme. Wer reflexartig interpretiert, dass die Spielräume enger werden, übersieht zwei wichtige Faktoren

Allgemein gilt eine 100-Tage-Frist, in der notorische Nörgler und insbesondere Journalisten aufgefordert sind, möglichst nachsichtig mit einer neuen Regierung umzugehen. Kleinere Fehler, Irritationen oder Verzögerungen soll man bitte nicht zu kritisch begleiten, da neue Ämter und Aufgaben eine gewisse Einarbeitungszeit erfordern. 

Die Wirklichkeit kennt eine solche Schonfrist nicht. 

Diese Erfahrung musste an diesem Donnerstag Lars Klingbeil machen, seit etwas mehr als einer Woche nun Bundesfinanzminister, ein Amt, das schon erfahrenere Vorgänger wahlweise in die Überforderung oder in die Verzweiflung getrieben hat. Mehr als 80 Mrd. Euro weniger Steuereinnahmen bis zum Jahr 2029 für Bund, Länder und Gemeinden meldeten am Donnerstag die Steuerschätzer ins Berliner Ministerium, das ist eine Hausnummer.

Die Summe passt ins Bild: Die Wirtschaft läuft schlecht, viele Unternehmen halten sich zurück, drosseln die Produktion und bauen zunehmend sogar Jobs ab – ein Phänomen, dass man lange selbst in Krisen in Deutschland nicht beobachtet hat. In den letzten Wochen ist es leicht geworden, für die Flaute vor allem dem US-Präsidenten und seinem wirren Handelskrieg die Schuld zu geben – doch Donald Trump taugt als Erklärung allenfalls für die jüngste Verunsicherung von Unternehmen, nicht aber für inzwischen drei Jahre Stagnation. Die wirtschaftliche Dauerdepression hat etliche strukturelle Ursachen hier bei uns. Die Folge ist inzwischen auch ein verfestigter Mangel an so etwas wie den Glauben an und die Zuversicht in die eigenen Stärken und Fähigkeiten. Kein Wunder, dass in dieser Lage auch die Steuereinnahmen von Halbjahr zu Halbjahr schlechter laufen als gedacht. 

Steuerschätzungen überzeichnen die Entwicklung

Allerdings, die verbreitete Einordnung von Klingbeils Zahlen – die Spielräume werden enger, der Spar- und Konsolidierungsbedarf wird größer, schmerzhafte Strukturreformen umso dringlicher – übersehen gleich zwei wichtige Faktoren, die in den kommenden Wochen für die Haushaltsplanung noch wichtig werden. Zum einen neigen Steuerschätzungen immer dazu, die gegenwärtige Lage durch eine Fortschreibung in die Zukunft zu überzeichnen. Das gilt im Guten wie im Schlechten – sie sind quasi ein permanenter Verstoß gegen das 11. Gebot: Du sollst nicht extrapolieren.

Steuerschätzungen sind wichtig, sie geben Orientierung und auch einen Rahmen, sie mahnen gerade in diesen Zeiten zur Vorsicht. Aber sie sind immer auch eine Momentaufnahme, die die vielen möglichen Entwicklungen in der Zukunft nur zu einem ganz kleinen Teil einfangen. Für Klingbeil und die kommende Bundesregierung bedeutet das: Es gibt zwar einige Risiken, dass es auch noch schlechter kommen kann (vor allem, wenn sich Trumps Handelskrieg mit der EU und/oder die Konfrontation mit Russland zuspitzt). Angesichts der bedrückten Stimmung im Land kann es von jetzt an aber vor allem auch besser werden als gedacht. Darauf deuten inzwischen auch zahlreiche Frühindikatoren hin, die zumindest etwas Hoffnung machen: Die wichtigsten Stimmungsbarometer der Wirtschaftsforschungsinstitute wie Ifo und ZEW sind zuletzt gestiegen, und das auch schon mehrere Monate in Folge. 

Der andere Faktor für die Haushaltsplanung sind die zahlreichen kleinen Stellschrauben, die sich Kanzler Friedrich Merz und sein Finanzminister wohlweislich in den Koalitionsvertrag und die neuen Regeln für die Schuldenbremse eingebaut haben. Sie sind ziemlich kompliziert und von außen kaum nachzuvollziehen, werden unterm Strich aber dazu führen, dass die neue große Koalition absehbare Haushaltsengpässe ganz anders wird parieren können als ihre Vorgängerregierungen unter dem Regime der alten Schuldenbremse.

So können Union und SPD im neuen Haushalt sehr viel freier als bisher bestimmen, was sie zu den Ausgaben für Bundeswehr und Verteidigung zählen, die ab diesem Jahr nur noch zu einem kleinen Teil (ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts) in die Kalkulation für die Schuldenbremse einbezogen werden. Dinge, die bis jetzt stets im regulären Haushalt standen, können nun auch über neue Kredite finanziert werden und damit wiederum Geld im Kernhaushalt freimachen. Auch das neue Sondervermögen für Investitionen und Infrastruktur bietet einige Verrechnungsmöglichkeiten mit dem regulären Haushalt. Alles in allem schätzen Experten, dass Klingbeil so leicht um die 10 Mrd. Euro hin- und herschieben kann, was wiederum den Spardruck reduziert. 

Investitionen haben Vorrang vor einer harten Sparpolitik

Die Bekenntnisse zu einer sparsamen und soliden Haushaltsführung, die am Donnerstag nach der Präsentation der Steuerschätzung sofort zu hören waren, sollte man daher mit Vorsicht behandeln. Ja, aus den laufenden Einnahmen werden die Spielräume für die neue Regierung kleiner, eine knallharte Sparpolitik mit tiefen Einschnitten etwa bei den üblichen Sozialtransfers wird es dennoch nicht geben. Und angesichts der wirtschaftlichen Lage ist das auch richtig. Vorrang vor harten Einsparungen sollten jetzt Maßnahmen haben, die Unternehmen und Arbeitnehmer animieren, ihr Geld auszugeben und zu investieren. Denn nur so wird auch das Wachstum wieder zurückkehren. 

Das Bekenntnis etwa des neuen Außenministers Johann Wadepfuhl, Deutschland werde in den kommenden sieben bis acht Jahren seine Verteidigungsausgaben auf bis zu fünf Prozent des BIP jährlich steigern, zeigt, wohin die Reise in Wahrheit geht: Diese Regierung wird so viel Geld für Investitionen, Infrastruktur und Rüstungsgüter ausgeben wie keine vor ihr seit sehr langer Zeit. Allein ein Ziel von 3,5 Prozent für Rüstung und Verteidigung würde bedeuten, dass Deutschland gegenüber heute pro Jahr zwischen 60 und 70 Mrd. Euro mehr für die Bundeswehr ausgeben wird. Hinzu kommen ab 2026 oder 2027 jährlich Dutzende Milliarden extra für die Sanierung von Straßen, Schienen, Brücken, Schulen und Krankenhäusern. Das wird die Rahmenbedingungen für Unternehmen sehr grundlegend verändern – eine Aussicht, die sich in den Annahmen für die Steuerschätzer aber noch gar nicht sinnvoll abbilden ließ. 

Man kann das nun bedenklich finden, die vielen Schulden ebenso wie die notorisch überschaubaren Fähigkeiten der öffentlichen Verwaltung, viel Geld schnell und zugleich sinnvoll auszugeben. Aber was wäre denn die Alternative? Nichts zu tun und darauf zu warten, dass irgendwann die Welt, allen voran China und die USA wieder eifrig Maschinen und Autos aus Deutschland bestellen? Diese Zeit ist vorerst vorbei und sie wird so schnell auch nicht zurückkommen. Anders als in früheren Krisen, als die USA oder China zuverlässig die Welt mit gigantischen Wirtschaftsprogrammen rauspaukten, werden sich Deutschland und Europa diesmal selbst aus ihrer misslichen Lage befreien müssen. 

Die Vorhersagen der Steuerschätzer ändern daran wenig, im Gegenteil: Sie zeigen nur, dass diese Regierung nun schnell loslegen muss.