Bedarfsmeldungen

Ob ich nicht vielleicht einen Euro hätte, fragt mich jemand aus liegender Position am Wegesrand aus einem Schlafsack heraus, schon bei meinem ersten Gang vor die Tür. Ob ich Kleingeld hätte, das fragt ein anderer Mensch etwas später. Ob ich irgendetwas hätte, und das geht dann immer so weiter, durch das kleine Bahnhofsviertel, durch die... Der Beitrag Bedarfsmeldungen erschien zuerst auf Buddenbohm & Söhne.

Mai 18, 2025 - 07:30
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Bedarfsmeldungen

Ob ich nicht vielleicht einen Euro hätte, fragt mich jemand aus liegender Position am Wegesrand aus einem Schlafsack heraus, schon bei meinem ersten Gang vor die Tür. Ob ich Kleingeld hätte, das fragt ein anderer Mensch etwas später. Ob ich irgendetwas hätte, und das geht dann immer so weiter, durch das kleine Bahnhofsviertel, durch die Innenstadt. Die Fragen fahren in der S-Bahn mit und reichen bis Altona. Ob ich gerade mal einen Schein hätte, ein paar Münzen oder irgendwas an Geld. Eine kleine Spende, etwas Hilfe, eine Unterstützung. Ob ich denn nicht etwas übrig hätte. Alle formulieren etwas anders, und manche strecken einem die leeren Hände dabei bettelnd entgegen, manche nicht. Crackjunkies sind dabei, welche die Hände gar nicht ausstrecken können, weil sie die fortwährend auf die Eingeweide drücken müssen, in denen es krampft.

Pappbecher werden mir entgegengehalten, leere Dosen, eine Mütze, ein Hundefressnapf.

Manche der Bettelnden lächeln. Manche haben längst leere Gesichter, ein Mann weint. Aber der, würden manche wohl einschränken, und das kennt man schon von dem, der weint ja immer. Und dann zählt es weniger, meinen sie vermutlich damit, und ich weiß nicht, ob sie Recht haben. Aber es stimmt, er weint immer, wenn man ihn sieht.

Sie sammeln jedenfalls alle Geld, ich sammele die Varianten der Wünsche.

Ob ich einen Kaffee ausgeben könnte. Ob ich ein Brötchen abgeben könnte, aus meiner Papiertüte da. Und es wird darauf gezeigt, auf diese Tüte, denn die sieht groß aus, es ist eben eine Familientüte. Ob ich vielleicht was zum Kiffen hätte, ob ich eine Zigarette hätte, eine Schachtel Zigaretten, irgendetwas zum Rauchen oder, lachend gefragt, sonstige Drogen, nein? Ob ich ein paar Bier holen könnte.

Ob ich einen Moment Zeit hätte. Ob ich helfen könnte, ob ich kurz mal gucken könnte. Das Letzte wird in gebrochenem Deutsch gefragt. Eine Frau spricht mich an und zeigt zur Erklärung auf eine kleine Gruppe weiter hinten, vor einem Supermarkt. Da steht eine zu mir gestikulierende Frau, die etwas besser Deutsch spricht als die, die mich angesprochen hat, aber auch nicht sicher. Und die wiederum spricht mit einer alten Frau, die im Rollstuhl sitzt und zahnlos um Hilfe bittet. Die Frauen verstehen nicht, worum sie bittet, aber sie nehmen die Lage ernst, wie es aussieht. Hier braucht jemand etwas, da kümmert man sich. Dieses eine Wort, welches die Frau im Rollstuhl so oft wiederholt, das kennen sie aber nicht. Und dann haben sie mich gesehen.

Ich sehe sowohl einheimisch als auch ansprechbar aus, muss ich wohl ableiten. Letzteres ist eine eher neue und mich überraschende Entwicklung, aber es bestätigt sich in letzter Zeit immer wieder. Ich entwickle mich, sicherlich alters- und kleidungsbedingt, zum Grüßgesicht und zur Vertrauensperson mit Betreuer-Ausstrahlung. Ohne dem in den meisten Fällen auch nur ansatzweise gerecht werden zu können.

Die Frau im Rollstuhl spricht Deutsch, ich spreche das auch. Ich verstehe also gleich, worum sie bittet, nämlich um eine Tube Meerrettich. Da haben wir die seltsame Vokabel. Gibt es Meerrettich in der türkischen Küche, das müsste ich erst nachschlagen. Aber nicht sofort, das wäre unhöflich und würde im falschen Augenblick ablenken.

Eine blaue Tube Meerrettich hätte sie gerne, wie sie gleich darauf präzisiert, und die Farbe wird stark betont. Womöglich gibt es auch andersfarbige Tuben, die dann aber falsch wären, die will sie nicht. Sie habe leider kein Geld, sagt sie, fast gar kein Geld, und zuhause nur noch trocken Brot. Warum sagt man trocken Brot und nicht trockenes Brot, aber egal. Sie hätte jedenfalls so furchtbar gerne Meerrettich dazu, und zwar den aus der blauen Tube, aus der blauen! Aber kein Geld habe sie nicht, sagt sie, fast nichts habe sie. Und mit dem Rollstuhl komme sie ja auch gar nicht durch diesen engen Bahnhofs-Supermarkt, in dem es tatsächlich volksfesthaft voll ist, und der sei doch auch so eng. Und dann mit dem Rollstuhl.

Die beiden Frauen, die mich angesprochen haben, sehen unserem Dialog noch kurz zu und gehen dann weiter. Sie sind hier fertig und hatten so weit Erfolg.

Ich habe Zeit und ich habe auch genug Geld für eine Tube Meerrettich. Ich gehe in den Laden, suche das Zeug und stehe dann Zeit in der Warteschlange an der Kasse ab. Es ist mir aber alles recht, ich höre Musik dabei und sortiere Playlists. Dabei kann man ruhig noch etwas anderes machen und sogar fremden Leuten helfen, wenn es sich so ergibt. Draußen nimmt die Frau im Rollstuhl die Tube entgegen und sagt mit deutlicher Überraschung in der Stimme: „Und dann kauft der sogar das Richtige!“

Als hätten, wie in einem Märchen vielleicht, sechs falsche Prinzen vor mir schon falsche Tuben gekauft. Dabei habe ich im Markt nachgesehen, es gibt den da überhaupt nur in blauen Tuben. Wie auch immer, die Frau wirkt äußerst erfreut, strahlt und will mir dann doch noch ein paar Münzen in die Hand drücken, die ich nicht nehmen möchte. Ich winke ab und gehe weiter. Sie ruft mir laut Lob und Dank hinterher. Durch die Bahnhofshalle ruft sie, dass die Passanten sich kurz umsehen.

Unfreundlichkeiten und Schmähungen werden einem in dieser Stadt leichter und häufiger nachgerufen, denke ich und setze die Kopfhörer wieder auf. Und dass das jetzt immerhin ein positiver Moment an diesem Tag gewesen sei, das denke ich auch. Manchmal muss man sich selbst darum kümmern, dass es welche davon gibt, und dann kosten sie gerade so viel wie eine blaue Tube Meerrettich. Manchmal fallen sie einem einfach zu, diese Momente, aber dann fallen sie weniger auf.

Ob ich von hier sei, werde ich ein paar Meter weiter gefragt. Mit einer vagen Geste, die etwas zaghaft und unsicher durch die Bahnhofshalle kreist. Als ob irgendwer von da sei. Ich sage: Mehr oder weniger. Und erkläre, denn das wollten die Städtereisenden wissen, die mich da gefragt haben, wo die Züge nach Flensburg abfahren. Lost in Altona.

Ein Gleis am Bahnhof Altona

Ob ich einen Euro hätte, werde ich zehn Meter weiter wieder gefragt. Oder Kleingeld oder etwas Essbares. Ob ich etwas kochen könne, fragt schließlich ein Sohn, aber da bin ich schon wieder zuhause. Ob ich mir die Philosophie-Arbeitsblätter des anderen Sohnes mal ansehen könne, das fragt mich die Herzdame. Die Blätter zu den deontologischen Entscheidungen. Was auch immer das sein mag, den Begriff habe ich nie gehört. Oder ich habe ihn vergessen.

Es werden so lange Bedarfe angemeldet, bis man sich selbst am Abend fragt, ob man nicht auch ins Bett gehen könnte, ob man lesen könnte, chillen könnte, schlafen könnte, unzuständig für alles.

Ob ich bitte etwas Nettes träumen könnte, frage ich noch ins Ungewisse. Und dann habe ich keinen Bedarf mehr.

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