Stellantis: Was uns stark gemacht hat, reicht nicht mehr aus

„Was uns erfolgreich gemacht hat, reicht nicht mehr aus“ – Stellantis fordert Tempo, Kooperation und ein neues Selbstverständnis in der Branche. Der Beitrag Stellantis: Was uns stark gemacht hat, reicht nicht mehr aus erschien zuerst auf Elektroauto-News.net.

Mai 6, 2025 - 07:06
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Stellantis: Was uns stark gemacht hat, reicht nicht mehr aus

Beim Branchenevent Automotive Masterminds trafen sich Anfang Mai Entscheider:innen aus Entwicklung, Digitalisierung und Strategie führender Automobilhersteller und Zulieferer, um über die zentralen Herausforderungen und Zukunftstrends der Branche zu diskutieren. Wir von Elektroauto-News.net waren ebenfalls vor Ort und haben darauf gehört, was die Branche bewegt.

Einer der eindrücklichsten Vorträge kam dabei von Dr. Joachim Kahmann, Senior Vice President Purchasing EE & Modules bei Stellantis. Unter dem Titel „From hardware to code: Transforming OEMs and suppliers into software-driven innovators“ zeigte Kahmann in bemerkenswerter Offenheit auf, wie tiefgreifend der Wandel zur softwaredefinierten Mobilität OEMs wie Zulieferer gleichermaßen betrifft – und forderte nichts weniger als einen radikalen Mentalitätswechsel in der gesamten Wertschöpfungskette.

Im Zentrum seiner Ausführungen stand die Erkenntnis, dass nicht nur neue Technologien, sondern vor allem ein neues Denken gefragt sei, um in einer Branche zu bestehen, deren Spielregeln sich gerade grundlegend verändern. Die Herausforderungen sind vielschichtig: vom Übergang zur Elektromobilität über die zunehmende Digitalisierung bis hin zur Frage, wie klassische Hersteller mit der Geschwindigkeit und Innovationskraft neuer Marktteilnehmer mithalten können. Kahmann ließ keinen Zweifel daran, dass der Wandel nicht mehr aufzuhalten sei – und dass es jetzt darauf ankomme, ihn aktiv mitzugestalten.

Die Spielregeln haben sich verändert – für alle

„Wir sind mitten in einem Goldrausch“, sagte er mit Blick auf die Vielzahl neuer Wettbewerber, insbesondere aus China. „Die Spielregeln haben sich verändert – nicht nur für Stellantis, sondern für alle etablierten Hersteller.“ Das gelte nicht nur für technologische Fragen, sondern auch für Strukturen, Prozesse und Rollenverständnisse innerhalb der Unternehmen. Wer weiterhin in den Mustern der Vergangenheit denke, riskiere, von der Realität überholt zu werden.

Besonders eindrucksvoll unterstrich Kahmann die Dringlichkeit des Wandels mit einem Blick zurück auf die Mobilfunkindustrie – und dem Hinweis auf ein historisches Lehrstück technologischer Disruption. „2007 hat Steve Jobs nicht einfach ein neues Handy vorgestellt“, erinnerte er. „Er hat ein neues Paradigma geschaffen: einen Computer für die Hosentasche, der Kommunikation, Mediennutzung und Internet in einem Gerät vereint.“ Marken wie Nokia, Motorola oder Siemens, die bis dahin den Markt dominiert hatten, verschwanden innerhalb weniger Jahre fast vollständig – verdrängt von neuen Akteuren mit digitaler DNA und Plattformdenken.

Anne Großmann Fotografie | Kahmann während seinem Vortrag bei den Automotive Masterminds

Diese Entwicklung, so Kahmann, sei eine Blaupause für das, was der Automobilindustrie nun bevorsteht. „Wir sehen heute ein ähnliches Muster. Wer Autos nur weiterentwickelt wie bisher, verpasst den Umbruch.“ Denn auch hier verändert sich das Produkt grundlegend – vom mechanischen Fortbewegungsmittel hin zum softwaredefinierten, vernetzten Ökosystem. Hersteller wie Tesla, BYD, Zeekr oder Nio seien nicht nur Autohersteller, sondern digitale Plattformanbieter. Sie besetzen Kundenschnittstellen, denken Entwicklung aus der Software heraus – und setzen neue Maßstäbe in Geschwindigkeit, Individualisierbarkeit und Geschäftsmodell.

„Das Auto wird zum ultimativen mobilen Device“, so Kahmann. „Und wer das nicht erkennt, läuft Gefahr, denselben Fehler zu machen wie die Handyhersteller von damals.“ Die zentrale Lehre aus der Vergangenheit: Disruption trifft nicht die Schlechtesten – sondern die, die den Wandel unterschätzen.

Wir fragmentieren Innovation, statt sie zu bündeln

Für etablierte OEMs bedeutet diese Entwicklung eine tiefgreifende Neuverortung. Kahmann zeichnete das Bild eines notwendigen Rollenwandels: Weg vom klassischen Autobauer, der Komponenten integriert und Systeme verwaltet – hin zum Systemdesigner, der aktiv neue Architekturen gestaltet und mit spezialisierten Technologiepartnern auf Augenhöhe zusammenarbeitet. „Der OEM der Zukunft ist nicht mehr alleiniger Innovationsmotor, sondern Koordinator eines Ökosystems“, so Kahmann. Das setze nicht nur technisches Know-how voraus, sondern vor allem die Fähigkeit zur Kooperation und zur gemeinsamen Verantwortung.

Das bislang etablierte Modell, bei dem Innovation durch den Einkauf nach unten in die Lieferkette gedrückt wird, sei nicht mehr tragfähig. „Wir fragmentieren Innovation, statt sie zu bündeln“, kritisierte er – und verwies auf lange Vorlaufzeiten, ineffiziente Schnittstellen und verteilte Zuständigkeiten. Stattdessen brauche es agile Strukturen, modulare Plattformen und ein Umdenken in der Zusammenarbeit mit Zulieferern: vom transaktionalen Lieferanten zum strategischen Partner.

Auch für die Zulieferindustrie sei dies ein Weckruf: „Es reicht nicht mehr, Komponenten zu liefern. Wer Teil der neuen Wertschöpfung sein will, muss Lösungen mitentwickeln und Verantwortung übernehmen.“ Das beginne beim frühzeitigen Einbezug in Softwarearchitekturen und gehe bis zur Mitgestaltung datengetriebener Geschäftsmodelle. Wer dagegen an klassischen Strukturen festhält, riskiere, abgehängt zu werden.

Ein zentrales Spannungsfeld in der Transformation betrifft laut Kahmann die Frage nach Erschwinglichkeit. Während Software und Digitalisierung neue Potenziale eröffnen, darf das Auto gleichzeitig nicht teurer werden – zumindest nicht, wenn es im Massenmarkt bestehen soll. „Beim Smartphone war es möglich, den Preis mit jeder Generation zu erhöhen. Das Auto hat diese Freiheit nicht – denn nicht jeder kann sich ein immer teureres Produkt leisten“, stellte Kahmann klar. Das bedeute: Neue Technologien müssten nicht nur funktionieren, sondern auch kosteneffizient umgesetzt werden.

Das heutige Auto ist ein kostspieliges Chaos

Gerade hier offenbart sich ein gravierender Nachteil gewachsener Strukturen. Kahmann nannte das heutige Elektronikdesign vieler Autos ein „kostspieliges Chaos“ – eine Folge davon, wie über Jahrzehnte Steuergeräte, Kabelbäume und Softwaremodule separat entwickelt und eingebaut wurden. „Wir haben kein System, sondern einen Flickenteppich“, so sein Befund. Die Folge seien unnötige Komplexität, hohe Kosten und eine Architektur, die sich Innovationen oft in den Weg stelle, statt sie zu ermöglichen.

Für Kahmann ist daher klar: „Wir müssen das Auto von Grund auf neu denken – von der Architektur über das Businessmodell bis zur Zusammenarbeit mit Partnern.“ Es gehe nicht mehr um inkrementelle Verbesserungen, sondern um radikale Vereinfachung und ganzheitliche Systemneugestaltung. Nur so lasse sich der notwendige Innovationssprung mit bezahlbarer Mobilität in Einklang bringen.

Anne Großmann Fotografie | Kahmann verteidigt im anschließenden Panel seine Standpunkte

So entschieden Kahmann auf technologische und strukturelle Defizite verwies, so deutlich machte er auch: Der eigentliche Hebel liegt im Denken. „Die Technik ist nicht das Problem – der größte Engpass ist unsere eigene Denkweise“, sagte er. Was die Branche brauche, sei kein weiteres Effizienzprogramm, sondern eine tiefgreifende Transformation im Kopf. Statt in etablierten Kategorien zu verharren, müsse man bereit sein, jedes System, jede Schnittstelle, jede Rolle infrage zu stellen.

Im Zentrum stehe für Kahmann das Prinzip „Innovation & Value-to-Cost“ – also der Anspruch, echten Kundennutzen mit Effizienz und strategischer Relevanz zu verbinden. Doch dafür müssten alte Glaubenssätze fallen. „Wir dürfen nicht mehr in Programmen denken, sondern in IP-Roadmaps. Nicht mehr in Volumenlogik, sondern in Geschwindigkeit. Nicht mehr in Lieferantenbeziehungen, sondern in Partnerschaften.“

 Die Karten werden neu gemischt

Besonders kritisch sieht er das klassische Verhältnis von Einkauf und Entwicklung. Zu oft strukturieren sich Innovationsarbeit nach Einkaufslogik: fünf Teams, die an demselben Bauteil arbeiten – aber aus isolierten Blickwinkeln. „Da entsteht kein gutes System, sondern nur Reibung und Redundanz“, warnte Kahmann. Neue Akteure hingegen – insbesondere aus China – arbeiteten integrativ, zielgerichtet und mit direktem Zugriff auf technologische Kompetenzen. Sie entwickelten nicht nur Produkte, sondern ganze Systeme von Grund auf – und setzten damit neue Maßstäbe.

Kahmanns Appell: „Wir müssen nicht nur technische Kompetenzen aufbauen, sondern auch unser Selbstverständnis hinterfragen. Was uns erfolgreich gemacht hat, wird in dieser neuen Realität nicht mehr ausreichen.“  Besonders eindrücklich war seine Warnung vor einem Rückfall in alte Denkmuster. Der Versuch, etwa durch Protektionismus den Markt vor Konkurrenz zu schützen oder klassische Antriebe künstlich am Leben zu erhalten, sei ein gefährlicher Irrweg. „Das wäre so, als würde man Siemens auffordern, noch einmal ein C-Netz-Telefon zu bauen“, sagte Kahmann. Der Applaus blieb an dieser Stelle nicht aus – die Botschaft war klar: Wer heute glaubt, sich durch Abschottung oder Nostalgie über Wasser halten zu können, verkennt die Dynamik des Wandels.

„Die Karten werden neu gemischt“, so Kahmann abschließend. Die nächste Runde der Automobilindustrie werde nicht nach alten Regeln entschieden – sie werde gerade ganz neu geschrieben. Und sie werde bestimmt von jenen, die bereit seien, mit Tempo, Offenheit und neuen Allianzen zu handeln – und das Auto nicht als Produkt der Vergangenheit, sondern als Plattform der Zukunft begreifen.

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