Psychologie : Warum bewerten wir eigentlich so gern?
Das Bewerten von Situationen, Dingen und Personen liegt in der menschlichen Natur. Manchmal ist dieser Mechanismus, der fast immer unterbewusst abläuft, sogar lebensnotwendig. Ein Psychologe klärt auf.

Das Bewerten von Situationen, Dingen und Personen liegt in der menschlichen Natur. Manchmal ist dieser Mechanismus, der fast immer unterbewusst abläuft, sogar lebensnotwendig. Ein Psychologe klärt auf.
Letztens fuhr ich mit einer Bekannten Straßenbahn. Eine Frau mit pinkem Kurzhaarschnitt setzte sich gegenüber von uns in den Vierer, prompt flüsterte meine Begleiterin mir ins Ohr: "Die pinken Haare sehen ja schräg aus."
Seitdem fällt mir auf, dass entweder die Menschen um mich herum – oder auch ich selbst – alles Mögliche bewerten, und zwar rund um die Uhr. Die Brötchen beim Bäcker sind klein, die Verkäuferin lacht seltsam, der Chef hat zugenommen. Es sind Wertungen, die zwar nicht immer laut ausgesprochen werden, weil wir durch erlernte soziale Werte und Normen wissen, dass es sich nicht gehört, die wir aber trotzdem denken.
Warum bewerten wir so gern?
Bewertung von Situationen, Dingen und Personen machen einen Großteil unseres Alltags aus. Das ist zunächst auch gar nicht schlimm, denn die Bewertung einer Situation hilft uns, eine Entscheidung zu treffen. So etwas wie das Auto fährt sehr schnell, ich sollte besser warten, bevor ich die Straße überquere oder die Person, die mich abends auf dem Weg nach Hause anquatscht, sieht nicht vertrauenswürdig aus, ich sollte ihr aus dem Weg gehen. Indem wir werten und daraufhin entscheiden, wägen wir mögliche Konsequenzen unseres Handelns ab und vermeiden beispielsweise potenzielle Gefahrensituationen.
Was jedoch meist nicht notwendig für unseren eigenen kleinen Kosmos ist, ist das Aussehen oder das Handeln von anderen Menschen zu bewerten, besonders derjenigen, die uns fremd sind. Dennoch tun wir es. Rund 40 Prozent der Deutschen fänden es laut einer repräsentativen Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts "YouGov" gut, über das Verhalten ihrer Mitmenschen offiziell urteilen zu können. Social Media hat diese Bewertungskultur noch verstärkt. Auf Facebook kann jede:r mit einem 'Daumen hoch' seine Meinung kundtun, auf Instagram gibt es dafür ein Herz. Das Verquere ist: Wir alle bewerten, aber niemand mag es, bewertet zu werden. Denn: Bewertungen stecken uns in Schubladen und verstärken womöglich Vorurteile, die so gar nicht zutreffen, wodurch wir uns unverstanden fühlen.
Dem Bewertungsdrang widerstehen
Man könnte also folgenden Schluss ziehen: Wenn du es nicht magst, bewertet zu werden, dann werte auch über andere nicht. Ganz so einfach ist es aber nicht. "Bewerten ist etwas, das wir von morgens bis abends tun. Das passiert meist unterbewusst und impulsiv", erklärt der Psychologe Prof. Dr. Daniel Leising gegenüber "detektor.fm". Deswegen kann es für die Zukunft hilfreich sein, immer wenn wir jemanden bewerten möchten oder schon bewertet haben, kurz innezuhalten und sich zu überlegen, was der Grund dafür sein könnte. Manchmal möchten wir eine Brücke zu einem:einer Gesprächspartner:in bauen. "Wir könnten uns darüber unterhalten, was jemand, den wir nicht leiden können, alles verkehrt macht. Und das hat dann unter anderem den Effekt, dass wir zwei uns dann auch verbundener fühlen", erklärt Leising.
Laut "Psychology Today" kann eine negative Bewertung aber auch aus einem geringen Selbstwertgefühl entstehen. Das kann aufkommen, wenn wir uns in einer Situation unsicher, unterlegen oder überfordert fühlen. Wir projizieren dann schnell die eigenen Unsicherheiten auf den anderen, damit es uns besser geht. Die Bewertung gleicht dem Versuch, die Kontrolle über den anderen zu erlangen und sich selbst als gegenteilig zu präsentieren. Ein Verhalten, dass in der Psychotherapie auch als Überlegenheitskomplex bekannt ist. Meist also treffen die Vorurteile, die geäußert werden, besser auf die wertende Person zu als auf diejenige, die bewertet wird. Manchmal führt auch fehlende Empathie oder Missgunst zu einer negativen Bewertung. Dahinter stecken meist Emotionen, die wir womöglich verdrängt haben und die so zum Vorschein kommen. Auch hier hilft es, sich zu fragen, warum wir so fühlen – und die zugrunde liegenden Emotionen stattdessen zu bearbeiten.
Insgesamt sind Bewertungen menschlich und zum größten Teil sogar wichtig, um Entscheidungen treffen zu können. Sobald sie jedoch andere Personen betreffen, deren Handeln uns nicht tangiert, sollten wir uns womöglich fragen, welche Ursachen unserem Bewertungsdrang zu Grunde liegen. Wenn wir unseren Mitmenschen gegenüber wohlwollende Bemerkungen äußern – egal ob verbal oder nur gedanklich – bedeutet das nämlich oft, dass wir auch mit uns selbst liebevoller umgehen. Das kann zum Glück erlernt werden.