Wenn Sebastian Kähler von seiner KI spricht, wirkt er stolz, mit dem Familienunternehmen eine Art Vorreiterrolle einzunehmen. Seit Juni 2024 hilft eine KI dem fünfköpfigen Team im Kundenservice bei Bestellungen. Damit löst der 34-Jährige, der die Firma von seinem Vater übernehmen will, gleich zwei Probleme: Er hat ein Mittel gegen den Fachkräftemangel gefunden und es geschafft, sein Team über ein Pilotprojekt an KI heranzuführen.
Denn wie viele andere Firmen hat auch der Lebensmittelgroßhändler mit rund 50 Mitarbeitenden ein Problem: Es fehlt an Personal. Die rund 400 Bestellungen, die täglich per E-Mail, Telefon oder Fax eingehen, forderten das Team in der Vergangenheit heraus.
Jede einzelne Bestellung von Sahne und Milch über Obst und Gemüse bis hin zu Wurstwaren – die Sahne Kähler seit über 80 Jahren vor allem an Hotels, Kantinen, Eisdielen und Restaurants liefert – wurde von Hand abgetippt. „Ein großer Aufwand für die Bestellannahme, die ist kaum hinterhergekommen“, erzählt Kähler.
Erfolgserlebnisse für alle schaffen
Mittlerweile liest die Künstliche Intelligenz alle Bestellungen automatisch aus und überträgt sie ins Warenwirtschaftssystem. Anschließend werden sie im Lager kommissioniert und an die Kunden ausgeliefert. „Ich muss die Bestellung nur noch auf Richtigkeit überprüfen und sie abschicken. Das ist viel effizienter als früher“, erzählt die Auszubildende Monica Goncalves.
Sie hat jetzt mehr Zeit für andere Aufgaben, zum Beispiel Kundengespräche. „Am Anfang gab es mehr Fehler“, sagt Goncalves – davon sei das Team teilweise genervt gewesen. „Aber die positiven Seiten überwiegen immer stärker, weil die KI immer besser wird.“
Laut Sebastian Kähler ist inzwischen jede zweite Bestellung fehlerfrei. Etwa 30 bis 40 Prozent Zeitersparnis würde das für sein Team bedeuten. Vorbehalte in der Belegschaft gegenüber der KI seien nach und nach abgebaut worden. Dabei hat der Unternehmer auf zwei Dinge geachtet: Zum einen hat er die KI stets als Werkzeug bezeichnet. So machte er deutlich, dass das System immer nur eine Unterstützung sein wird und der Mitarbeiter selbst der verantwortliche Experte bleibt.
Das Team mit KI-Training vorbereiten
© Maximilian Probst für impulse KI im Lebensmittelhandel – Prokurist Sebastian Kähler und Auszubildende Monica Goncalves setzen in der Bestellannahme auf KI: Nach kurzer Prüfung gehen die Aufträge direkt ins Lager von Sahne Kähler.
Zum anderen hat er die KI Schritt für Schritt eingeführt. Konkret heißt das: Zunächst verarbeitete das System nur schriftliche Bestellungen einzelner Kunden. Eine Woche lang wurde Kählers Team intensiv geschult, drei Monate lang konnte es die KI testen. Erst als alle damit vertraut waren und die Ergebnisse immer besser wurden, nutzte das Team die KI für alle eingehenden Bestellungen.
Eine KI über ein Pilotprojekt in den Arbeitsalltag einführen: Melanie Hasenbein, Beraterin und Professorin für Wirtschaftspsychologie und KI an der SRH Fernhochschule, hält das für ein sinnvolles Vorgehen, weil es dem Team ermöglicht, positive Erfahrungen zu sammeln. „Darüber schafft man Erfolgserlebnisse.“ Und das im besten Fall, ohne die Mitarbeitenden zu überfordern.
Ganz ähnlich – in kleinen Schritten – hat deshalb auch Martin Rickmann KI in seinem Team eingeführt. Der Unternehmer betreibt in Oberhausen das Autohaus Lessingstraße mit 50 Mitarbeitenden. Früher gab es in seinem Autohaus eine große Unsicherheit: Wenn ein Kunde ein Auto zur Reparatur brachte, wusste Rickmann nie, wie lange es dauern würde, bis seine Mechaniker den Fehler gefunden hatten.
Das Problem: Moderne Autos enthalten komplexe Softwaresysteme. Zu jedem einzelnen Automodell gibt es vom jeweiligen Hersteller Dutzende umfangreiche Reparaturanleitungen. „So ein Dokument ist manchmal mehrere Hundert Seiten lang“, erzählt der Unternehmer. Pro Marke, die ein Autohaus vertreibt, kommen also schnell viele Tausend Seiten an Reparaturanleitungen zusammen. Und durch die musste sich Rickmanns Team zu Beginn jeder Reparatur durchkämpfen. „Manchmal dauerte das eine halbe Stunde – und manchmal mehrere Stunden“, erzählt der Inhaber. Zeit, die er seinen Kunden nicht in diesem Umfang in Rechnung stellen konnte.
Ungeliebte Aufgaben der KI übergeben
„Für ein Automodell in unserem Repertoire gibt es die Recherchezeit de facto nicht mehr“, erzählt der Unternehmer und klingt stolz. Denn seit einigen Monaten nutzt das Oberhausener Unternehmen für dieses Automodell einen KI-Chatbot, der den Mechanikern die Recherche abnimmt. Das Prinzip: Das Team hat Reparaturanleitungen, die es früher per Hand durchsuchen musste, in eine KI eingespeist. Die kann es nun befragen.
„Das funktioniert wie eine Suchanfrage bei Google“, erzählt Jan Wiedemann, der die acht Mechaniker in der Oberhausener Werkstatt seit 2024 anleitet und koordiniert. Die Mitarbeitenden können ihre Suchanfrage in natürlicher Sprache in den Chatbot eingeben, etwa so: „Die Sitzheizung auf dem Beifahrersitz funktioniert nicht. Woran könnte das liegen?“ Der Chatbot zeigt daraufhin nicht nur die passenden Passagen aus den Reparaturanleitungen an, sondern er fasst diese auch in natürlicher Sprache auf Deutsch zusammen.
Neue Aufgabenfelder durch die KI erkennen
„Das ist für uns besonders relevant“, sagt Jan Wiedemann. Denn die Originaldokumente gibt es nur in englischer Sprache. „Und dabei handelt es sich um fachsprachliche Texte auf hohem Niveau“, erklärt der Werkstattleiter. „Bevor wir den Chatbot hatten, mussten wir viele der Fachbegriffe nachschlagen.“ Allein dafür ging eine Menge Zeit drauf. Heute liegt die Recherche- und Übersetzungszeit bei nahezu null.
„Neu dazugekommen ist eine gewisse Qualitätssicherungszeit“, erzählt Autohausinhaber Martin Rickmann. „Denn natürlich folgen wir nicht blind den Anweisungen der KI, sondern schauen uns die Vorschläge erst einmal ganz genau an.“ Im Vergleich zur früheren Recherchezeit ist die Zeit für die Qualitätssicherung Rickmann zufolge allerdings verschwindend gering. Das System funktioniere sehr gut.
Mitarbeitende in der Expertenrolle belassen
Obwohl die Unternehmer Sebastian Kähler und Martin Rickmann in unterschiedlichen Branchen tätig sind, haben sie vieles gemeinsam: Beide Inhaber haben KI so eingeführt, dass ihr Team sie im Arbeitsalltag ausprobieren konnte. Und sie haben darauf geachtet, dass ihre Mitarbeitenden in der Expertenrolle bleiben und die Ergebnisse der KI hinterfragen und korrigieren können.
Während Sahne Kähler die KI inzwischen für alle eingehenden Bestellungen nutzt, steht bei Martin Rickmann das Ausrollen auf alle Autoreparaturen noch bevor. Bislang kennt die KI nur die Anleitungen eines Automodells. „Wir arbeiten daran, dass unser Bot bald auch die anderer Automarken und -modelle kennt.“
Die Teams wurden eng in die Einführung der KI eingebunden. Im Autohaus von Martin Rickmann ging dieser Prozess schon los, bevor er selbst wusste, dass seine Mechaniker bald einen Chatbot nutzen würden. „Wir haben uns damals zusammengesetzt und die großen Prozesse bei uns im Autohaus durchgesprochen“, erinnert sich Rickmann. „Ich wusste, dass wir KI nutzen können, um effizienter zu werden. Aber mir war damals noch nicht klar, wo sie uns am meisten helfen kann.“
Verstehen, wo KI helfen kann
© Dominik Asbach für impulse KI in der Auto-Werkstatt – Unternehmer Martin Rickmann (l.) bezog Servicechefin Britta Koh und Werkstattleiter Jan Wiedemann von Beginn an in die Entwicklung des Reparatur-Chatbots ein.
Rickmann engagierte Jörg Winterhoff, der sich als Mitgründer des Digital Instituts des Mittelstands in Hannover darauf spezialisiert hat, kleine und mittelständische Unternehmen bei der digitalen KI-Transformation zu unterstützen. Mit Winterhoff, seinem Werkstattleiter Jan Wiedemann und der Leiterin seines Kundenservices, Britta Koh, setzte Rickmann sich an einen Tisch.
Berater Winterhoff stellte Fragen: Welche Arbeitsschritte wiederholen sich oft? Wo würdet ihr euch bessere Qualität beim Output wünschen? Was ist besonders aufwendig? So sei man zu der Erkenntnis gelangt, dass ein Chatbot in der Werkstatt zu mehr Effizienz und größerer Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden führen könnte.
Die Mitarbeitenden lernen die KI vor allem in der direkten Nutzung kennen. „Da das Prinzip dasselbe ist wie bei einer Google-Suche, brauchten wir keine speziellen Schulungen“, erzählt Rickmann. Das Team tauscht sich zum Chatbot aus und unterstützt sich gegenseitig mit Tipps für gezieltere Suchanfragen.
Regelmäßig und offen kommunizieren
Sebastian Kähler hingegen rief die Angestellten nach der einwöchigen Schulung in der Pilotphase jede Woche zusammen. In diesen Meetings tauschten sie sich darüber aus, in welchen Fällen die KI schon gut funktioniert und wo Nacharbeiten nötig sind. Kählers Plan, durch den direkten Umgang mit der KI Vorbehalte abzubauen, ging auf. So merkte die Auszubildende Goncalves bei der täglichen Arbeit mit der KI, dass sie immer besser funktionierte. Und wenn etwas nicht klappt, geht sie ins Lager und spricht direkt mit den Kollegen.
Als coachenden Führungsstil bezeichnet KI-Expertin Melanie Hasenbein die Art und Weise, wie Martin Rickmann und Sebastian Kähler KI in ihre Unternehmen eingeführt haben. Ihrer Erfahrung nach eignet sich dieses Vorgehen besonders, wenn einzelne Mitarbeitende Angst vor der Einführung von KI – oder einer anderen Neuerung im Unternehmen – haben. Sie rät in solchen Fällen zu einem persönlichen Gespräch: „Frag die Person: Wovor hast du Angst? Und: Was kann ich tun, um dich zu unterstützen?“ Bevor ein Mitarbeiter erkennen könne, welche Vorteile eine KI auch für ihn haben kann, sei es nötig, diese Vorbehalte abzubauen, so die Professorin.
Mitarbeitende in den Mittelpunkt stellen
Im Team von Autohaus-Chef Martin Rickmann gab es zwar keine expliziten KI-Gegner, „aber natürlich schreit niemand hurra, wenn man Abläufe verändert, die seit Jahren eingeschliffen sind“, sagt der Unternehmer. Auch in seinem Betrieb kam die Frage auf, ob die KI bald die Arbeit der Mechaniker übernehmen werde. „Das ist in unserem Fall Quatsch, schließlich kann die KI keine Reparaturen durchführen.“
Wie wichtig es ist, die Mitarbeitenden – und nicht die KI – in den Mittelpunkt zu stellen, merkte auch Sebastian Kähler schnell: Als die KI in der Anfangszeit noch viele Fehler machte, fielen die vor allem im Lager auf. Darüber fluchten die Lageristen. Dann hieß es: „Die KI hat schon wieder Fehler gemacht“, erzählt Kähler. Die Lageristen waren nun besonders kritisch, wenn bei ihnen eine Bestellung ankam, die als KI-generiert gekennzeichnet war.
„Mir war wichtig, allen klar zu machen, dass die Verantwortung für eine korrekte Bestellung weiterhin bei unseren Mitarbeitenden liegt“, sagt Kähler. Er änderte nur eine Kleinigkeit: Auf jedem Auftrag stand fortan anstelle der KI wieder der Name des verantwortlichen Mitarbeitenden. Passiert seitdem ein Fehler, sprechen die Mitarbeitenden wieder miteinander, korrigieren ihn – und trainieren auf diese Weise auch die KI, die so immer besser wird.
Führungskräfte ins KI-Projekt einbinden
Autohaus-Chef Martin Rickmann hat in der Anfangsphase vor allen Dingen seine Führungskräfte in die KI-Entwicklung einbezogen. Neben Werkstattleiter Jan Wiedemann gehörte Serviceleiterin Britta Koh dazu. Sie nimmt gemeinsam mit ihrem Team die Autos der Kunden entgegen und macht eine erste Bestandsaufnahme der Fehlermeldungen, bevor sie die Fahrzeuge an die Werkstatt weiterleitet. Auch sie nutzt heute die KI für eine erste Einschätzung der jeweils anstehenden Reparatur.
„Es ist erfolgskritisch, Multiplikatoren wie Führungskräfte von Anfang an in ein KI-Projekt einzubinden“, sagt der Mitgründer des Digital Instituts des Mittelstands in Hannover, Jörg Winterhoff. „Sie tragen maßgeblich dazu bei, in ihren Teams Neugier und eine positive Stimmung gegenüber der KI zu verbreiten.“
Offen für neue KI-Einsatzmöglichkeiten
Sowohl bei Sahne Kähler als auch im Autohaus gehört die KI heute zum Alltag. Und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden ist nach Einschätzung der Unternehmer gestiegen. Es sind nicht mehr nur die Chefs, die darüber nachdenken, in welchen anderen Bereichen eine KI Aufgaben übernehmen könnte.
Monica Goncalves kann sich gut vorstellen, noch mehr KI bei Sahne Kähler einzusetzen – sie findet es cool, ihre Ausbildung in einem Betrieb zu machen, „der mit der Zeit geht“. Und im Oberhausener Autohaus wünscht sich Serviceleiterin Britta Koh eine KI, welche die Anliegen der Kunden aufnimmt und so aufbereitet, dass ein Kollege vorbereitet zurückrufen kann. Das Ziel beider Teams: standardisierte Aufgaben der KI überlassen und mehr Zeit für Kunden und Kollegen gewinnen.
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