Initiative ergreifen: "Aufgabe der Politik ist dafür zu sorgen, dass alle Frauen medizinisch gut behandelt werden"
Nach der Bundestags-Neuwahl fordert die Initiative #wirsind9millionen, das Thema Wechseljahre im Koalitionsvertrag der neuen Regierung zu verankern. Im Interview mit BRIGITTE.de erklärt Miriam Stein, wie jede einzelne von uns dazu beitragen kann.

Nach der Bundestags-Neuwahl fordert die Initiative #wirsind9millionen, das Thema Wechseljahre im Koalitionsvertrag der neuen Regierung zu verankern. Im Interview mit BRIGITTE.de erklärt Miriam Stein, wie jede einzelne von uns dazu beitragen kann.
BRIGITTE.de: Miriam, du bist eine prominente Stimme in der Bewegung #wirsind9millionen. Warum wendet ihr euch jetzt noch einmal an die Menschen in Deutschland?
Miriam Stein: Wir wollen, dass die Wechseljahre bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen berücksichtigt werden. Jede einzelne von uns kann daran teilhaben. Nicht nur die neun Millionen betroffenen Frauen, die gerade zwischen 40 und 55 Jahre alt und somit höchstwahrscheinlich in den Wechseljahren sind.
Warum ist es deiner Meinung nach so wichtig, dass die Wechseljahre aufgenommen werden?
Es ist die Aufgabe der Politik dafür zu sorgen, dass alle Frauen medizinisch gut behandelt werden. Und zwar wirklich alle, nicht nur die, die gut ausgebildet und finanziell gut aufgestellt sind. Es gibt Studien darüber, dass Frauen mit geringem Einkommen stärkere Symptome haben. Wir können das zivilgesellschaftlich aber tatsächlich nur anschieben. Umsetzen muss es die Politik.
Deshalb geht es darum, dass dieser Begriff 'Wechseljahre' im Koalitionsvertrag tatsächlich festgehalten wird. In Österreich zum Beispiel ist das gerade auch geschehen. Was daraus im Detail folgt, ist dann eine andere Frage. Aber wenn die Thematik Teil des Koalitionsvertrages wird, hat man in der kommenden Legislaturperiode eine viel bessere Handhabe für die Ausgestaltung.
Welche Auswirkungen könnte dies auf betroffene Frauen haben?
Für die Frauen geht es um Aufklärung und Empowerment. Wenn sie nicht wissen, was mit ihnen los ist, haben sie bei Symptomen wie Herzstolpern – ein sehr typisches Merkmal in den frühen Wechseljahren – vielleicht Angst ernsthaft krank zu sein oder nicht mehr arbeiten zu können. Die Symptome der Wechseljahre müssen auf den Tisch, damit Frauen die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Und dass sie nicht länger denken, das wäre nun mal so, weil sie gestresst sind. Denn das ist es ja, was Frauen dann zu hören bekommen! Klar, die Lebensphase ist krass. Vielleicht sind die Kinder jugendlich, die Eltern alt und krank und man muss sich um beide Seiten kümmern. Und dann auch noch in der Arbeitswelt funktionieren.
Das Thema Wechseljahre und Arbeitswelt – warum weist ihr besonders darauf hin?
In verschiedenen Ländern gibt es inzwischen übereinstimmende Studien, die besagen, dass sich mehr als 60 Prozent der arbeitenden Frauen in den Wechseljahren mehr Unterstützung am Arbeitsplatz wünschen. Das bedeutet: Mehr als die Hälfte der Frauen haben ein konkretes Bedürfnis und es wird nicht erfüllt. Also ist man als Frau wieder in der Falle, eigene Bedürfnisse herunterschlucken zu müssen.
Aber es ist auch ein gesamtgesellschaftliches und volkswirtschaftliches Problem. Ich glaube, dass Vorsorge generell ein riesengroßes Thema wird in der Arbeitswelt. Wir altern als Gesellschaft, was das Gesundheitssystem belastet. Viele Alterserkrankungen sind durch entsprechende Prävention vermeidbar. Alles Körperliche wird in Deutschland historisch privatisiert. Nicht nur die Wechseljahre. Die zwar besonders, aber auch alles, was mit körperlichen Beschwerden zu tun hat. Deshalb halte ich es für so wichtig, das betriebliche Gesundheitsmanagement zu stärken, weil das am Ende richtig Geld spart.
Wie siehst du die gesellschaftliche Wahrnehmung von Wechseljahren in Deutschland?
Es gibt einen ganz starken Aufklärungsbedarf. Mir müssen im Prinzip mit unseren Kindern darüber sprechen, es muss in der Schule gelehrt werden. Da endet der Zyklus des Lebens schon mit dem Stillen. Selbst das Wochenbett findet nicht mehr statt. Die Wechseljahre sind besonders tabuisiert, da kommen gleich zwei große Scham-Themen zusammen: das eine ist der Körper, das andere ist das Alter. Ein Doppel-Tabu, doppeltes Verschweigen.
Was hat dich persönlich dazu motiviert, dich für die Sichtbarkeit und die Rechte von Frauen in den Wechseljahren einzusetzen?
Ich habe mit Anfang 40 Symptome bekommen. Das hat mich total überrascht und ich dachte, ich bin todkrank. Und ich habe tatsächlich auch Probleme gehabt, eine Gynäkologin zu finden, in Berlin wohlgemerkt, die sich tatsächlich mit den Wechseljahren auskennt und mich behandeln wollte.
Ich habe dann recherchiert und herausgefunden, dass Ärztinnen und Ärzte im Medizinstudium eigentlich nichts darüber lernen. Dabei betrifft es doch alle Frauen. Und dass es keine Abrechnungsziffer für eine Beratung zu Wechseljahressymptomen gibt. Das fand ich wirklich skandalös.
In der Folge entstand mein Buch "Die gereizte Frau" (2022, Goldmann, 12 Euro). Darin geht es nicht nur um die körperlichen Symptome der Wechseljahre, sondern eben auch darum, dass wir dieses Thema eigentlich völlig ausblenden. Mich interessierte, warum das so ist. Denn es ist eigentlich nicht nur ein privates Problem, das ich eben mit meinem Körper habe. Sondern ein gesamtgesellschaftliches. Gerade hinsichtlich der Tatsache, dass wir natürlich auch als Gesellschaft älter werden.
Besteht nicht die Gefahr, dass die Wechseljahre pathologisiert werden, also leistungsmindernd, als Makel wahrgenommen werden?
Das passiert natürlich ganz schnell. Erst sind Frauen unerfahren, dann potenziell schwanger, dann stillen sie, dann haben sie die Wechseljahre. Das ganze Frauenleben ist schlimmstenfalls pathologisiert.
Was müsste sich da ändern?
Ich denke, der Anspruch, 31 Tage im Monat immer gleich leistungsfähig zu sein, der ist vielleicht in sich nicht richtig. Und das trifft ja auch auf Männer nicht zu. Die Vorstellung, dass Frauen und ältere Menschen weniger leistungsfähig sind, kommt mitunter aus Zeiten, wo viel mehr körperlich gearbeitet wurde.
Die Frage, die ich mir stelle: Warum werden frauengesundheitliche Themen als Leistungsschwäche angesehen? Männer haben ja auch Beschwerden, zum Beispiel tendenziell häufiger Rückenprobleme. Aber das wird in der Arbeitswelt total unemotional angenommen. Niemand würde denken, dass das diesen Mann bedeutend weniger leistungsfähig macht. Dann gibt es ein Attest für einen Stehtisch, eine ergonomische Tastatur. Wieso nehmen wir alle die Thematisierung von hormonellen Lebensabschnitten von Frauen als so limitierend wahr? Trotzdem sehe ich nicht ein, dass wir Frauen in vorauseilendem Gehorsam einer eventuellen Pathologisierung aus dem Weg gehen sollen. Den 60 Prozent die in so vielen Ländern sagen, sie brauchen Unterstützung, weil sie arbeiten wollen und, Stichwort Fachkräftemangel, ja auch arbeiten sollen. Jede vierte Frau in Deutschland ist armutsgefährdet.
Gibt es schon positive Entwicklungen in dieser Hinsicht?
Was mich total froh macht, ist, dass viele junge Frauen sehr interessiert und offen sind. Die haben eine andere Selbstverständlichkeit dem Thema gegenüber. Das finde ich schön. Aber ganz grundsätzlich finde ich, dass das ganze Thema Frauengesundheit normalisiert werden müsste. Auch die Periode, auch PMS, auch Endometriose. Dass diese wahnsinnige Scham, die eben mit diesem Thema verbunden ist, einfach tatsächlich aufgelöst wird.
Und wir haben mancherorts einen besseren sozialen Zusammenhalt als wir denken. Es wird ja oft gesagt, Frauen könnten nicht netzwerken. Das sehe ich anders. Zum Beispiel im ländlichen Raum: Da wird der soziale Zusammenhang durch Frauennetzwerke beispielsweise in Gemeinden und Vereinen aufrecht erhalten. Das ist wertvoll in Zeiten, in denen die Demokratie gefährdet ist und bildet sprichwörtlich das Rückgrat der Gesellschaft. Der aktuelle Aufruf für die E-Mails zum Koalitionsvertrag, den hat der Landfrauenverband Niedersachsen/Hannover mitgetragen. Ich wusste vor dem Wechselajhre-Aktivismus nicht, dass es in Deutschland über 400.000 als Landfrauen organisierte Frauen gibt, die sich zusammengeschlossen haben, um ihre Interessen gegenüber der Politik zu vertreten. Wie toll ist das denn?
Auch wenn man mit einer Stimme spricht, sind es dennoch richtig viele Stimmen.
Frauen als Gruppe sind sehr heterogen. Wir leben in einem Zeitalter von Spaltung und Vereinzelung. Aber die Wechseljahre betrifft wirklich alle Frauen. Die Wechseljahre interessieren sich nicht für deine politische Einstellung. Die Wechseljahre interessieren sich auch nicht dafür, ob du viel Geld verdienst oder ob du eine Führungsposition hast oder eine Hausfrau bist. In meinen Veranstaltungen bedeutet das beispielsweise, dass wir Frauen in einem Raum zusammenkommen, weil wir ein stark verbindendes Element teilen: diese seltsame Lebensphase, die eigentlich so schambehaftet ist. In dem Moment, in dem man sie zusammen erlebt, kann sie unheimlich befreiend und empowernd sein.
Du hast eine E-Mail erwähnt. Wie kann jede einzelne die Initiative ganz konkret unterstützen?
Sie können eine E-Mail mit der Forderung an die Verhandlungsleitenden der Koalitions-AG Frauen und Familie schicken. Aber ich möchte auch die Männer auffordern, für ihre Frauen – ihre Partnerin, Mutter, Kollegin, Tante, Schwester – eine E-Mail zu schreiben. Denn es soll nicht das Gefühl aufkommen, die Männer hätten damit nichts zu tun. Das Thema geht uns alle an.
Anmerkung der Redaktion: Entsprechende Textentwürfe für die E-Mails an die jeweilige Koalitions-AG findest du in den Instagram-Posts, die wir hier abbilden. Aber es eilt: Sie müssen bis zum 24.3. ankommen, vor Redaktionsbeginn des Koalitionsvertrages. Also am besten heute gleich kopieren, ergänzen und abschicken!