Diess: „Wir lieben das Elektroauto noch nicht genug“
Ex-VW-Chef Herbert Diess fordert ein radikales Umdenken. Ohne China, Ladeoffensive und Abschied vom Diesel sieht er keine Zukunft für die deutsche Autoindustrie. Der Beitrag Diess: „Wir lieben das Elektroauto noch nicht genug“ erschien zuerst auf Elektroauto-News.net.

Über Jahrzehnte hinweg war das deutsche Automobilcluster ein weltweit einzigartiges Erfolgsmodell. Marken wie Porsche, Daimler, BMW und Audi haben in einem Umkreis von wenigen hundert Kilometern ein Premiumsegment aufgebaut, das global Maßstäbe setzte. Dabei profitierten sie nicht nur von technischer Exzellenz und einem dichten Zuliefernetz, sondern auch von politischen Rahmenbedingungen, die kaum zufälliger hätten sein können. Ein Tempolimit gibt es nicht, Dienstwagenregeln fördern teure Modelle, und Kanzler aller Couleur verstanden sich als Fürsprecher der Branche. Doch dieser Nimbus beginnt zu bröckeln – und Herbert Diess, ehemaliger Volkswagen-Chef, benennt die Gründe dafür in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche ungewohnt direkt.
„Das Cluster hat an Kraft verloren“, schreibt Diess und verweist auf die fundamentalen Verschiebungen im globalen Automarkt. Die Optimierung des Verbrennungsmotors sei abgeschlossen, weitergehende CO₂-Reduktionen kaum noch möglich. Parallel dazu hätten Elektrifizierung und Automatisierung eine Dynamik entfaltet, die Deutschland nicht mehr mitbestimmt. „Die Dynamik dieser Industrie wird nicht mehr in Deutschland, sondern in China bestimmt“, konstatiert er. Der weltweit größte Automarkt sei längst auch der bedeutendste für Premiumfahrzeuge – und das spiegele sich in den Entwicklungen vor Ort wider.
China ist heute nicht nur der Leitmarkt für Elektroautos, sondern auch technologisch federführend. Während die deutsche Debatte von Unsicherheit, Ladeinfrastruktur und Kosten dominiert wird, haben chinesische Hersteller längst Tatsachen geschaffen. „2030 wollte China einen NEV-Absatz von 50 Prozent erreichen – das Ziel wurde sechs Jahre zu früh erreicht“, so Diess. Ein Erfolg, der nicht nur westliche Hersteller, sondern auch chinesische Staatskonzerne unter Anpassungsdruck setzt. Und dennoch ist die Botschaft klar: Wer technologisch mithalten will, muss in China erfolgreich sein. Der deutsche Heimatmarkt hingegen hinke „selbst im europäischen Vergleich“ hinterher.
Besonders deutlich wird Diess beim Thema Batterieentwicklung. Die Hoffnung auf eine europäische Alternative sei „illusorisch“, solange in China wöchentlich neue Bestmarken bei Ladezeiten, Lebensdauer und Kosten gesetzt werden. Die Konsequenz: Kooperation statt Konfrontation. Nur durch Allianzen mit chinesischen Technologiepartnern kann Europa wieder Anschluss finden. Neue Milliarden in westliche Start-ups zu investieren, hält Diess für verschwendet – der Wettbewerb sei schlicht zu weit fortgeschritten.
Hinzu kommt eine strukturelle Veränderung der industriellen Logik. Digitalkonzerne wie Huawei bieten heute Elektronik- und Softwareplattformen auf einem Niveau an, das die Rolle klassischer Zulieferer wie Bosch oder Continental infrage stellt. Die Autohersteller selbst reduzieren sich zunehmend auf Design, Marketing und Vertrieb – technologische Differenzierung entsteht woanders. „Inzwischen ist ein chinesischer ‚Über-Bosch‘ entstanden“, kommentiert Diess die Entwicklung nüchtern.
Trotz der Kritik sieht Diess auch Potenziale für deutsche Hersteller. Markenstärke, Kundentreue und das über Jahrzehnte gewachsene Premium-Erlebnis könnten Differenzierungsmerkmale sein, die sich nicht so leicht kopieren lassen wie Hardware oder Software. „Die deutschen Hersteller sind technisch auf Augenhöhe und nah dran“, betont er. Die neue E-Plattform von BMW, die sogenannte „Neue Klasse“, und vergleichbare Projekte bei anderen Herstellern würden ab 2025 wichtige Impulse setzen. Auch VW sei gut unterwegs: In den ersten Monaten 2025 habe sich der Bestelleingang für Elektroautos um über 80 Prozent erhöht. Diess erinnert aber auch daran, dass deutsche Konzerne weiterhin Gewinne erzielen – ein Unterschied zu vielen chinesischen Start-ups.
Um den strukturellen Wandel zu meistern, müsse Deutschland aber endlich handeln. Regulierung, Infrastruktur und emotionale Akzeptanz des Elektroautos seien zentral. „Wir haben es nicht geschafft, die Rahmenbedingungen für einen Durchbruch der neuen Technologien zu schaffen“, kritisiert Diess. Stattdessen braucht es ein Bekenntnis zu einem starken Heimatmarkt, inklusive Ladeinfrastruktur, Integration ins Stromnetz und neuen Anreizen. Ein zentraler Vorschlag von Diess lautet, die Dieselsubventionen auslaufen zu lassen – nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus industriepolitischen Gründen. Der Strompreis sinke, elektrische Energie werde günstiger – das müsse sich im Mobilitätsverhalten widerspiegeln. „Rudolf wird es uns nachsehen“, schreibt Diess in Anspielung auf Rudolf Diesel und die bis heute bestehenden steuerlichen Vorteile für den Selbstzünder.
Sein Appell an Politik und Industrie ist deutlich: Deutschland könne wieder zum Leitmarkt und Technologietreiber werden, wenn jetzt entschlossen gehandelt werde. „Die deutsche ‚Auto AG‘ hat das Potenzial, zu alter Stärke zurückzukehren“, so sein Fazit – doch dafür müsse man bereit sein, alte Gewissheiten hinter sich zu lassen und das Elektroauto endlich wirklich zu wollen. Denn: „Wir lieben das Elektroauto noch nicht genug.“
Quelle: WirtschaftsWoche – Liebt Elektroautos, verabschiedet euch von Diesel-Subventionen
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