Antikes Rom: Mark Aurel: Zum Herrschen verurteilt, zum Krieg verdammt

Sein Traum vom Leben als Philosoph endet schon im Jünglingsalter. Bis zu seinem Tod wird Mark Aurel Rom verteidigen müssen – in blutigen Schlachten, die er niemals schlagen wollte  

Mär 17, 2025 - 18:24
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Antikes Rom: Mark Aurel: Zum Herrschen verurteilt, zum Krieg verdammt

Sein Traum vom Leben als Philosoph endet schon im Jünglingsalter. Bis zu seinem Tod wird Mark Aurel Rom verteidigen müssen – in blutigen Schlachten, die er niemals schlagen wollte
 

Kalt und nebelverhangen erscheint den Römern dieses Land an der Donau im Nordosten. Seit bald 15 Jahren kämpfen sie hier gegen die Barbaren. Einen verlustreichen, zähen Krieg. Nun, Mitte März des Jahres 180 n. Chr., scheint der Sieg greifbar. Da erreicht eine schreckliche Botschaft die Feldlager: Der Kaiser liegt im Sterben.

Wie und wo genau, darüber sind die Chronisten uneins. Vielleicht sind es die Pocken oder die Pest, die Mark Aurel niederwerfen, vermutlich nahe dem heutigen Sremska Mitrovica in Serbien, möglicherweise auch in Vindobona (Wien). Gewiss aber ist: Die Krankheit trifft einen durch jahrzehntelange Selbstzucht geschwächten Körper. Ausgehungert, von Schlafmangel abgezehrt, unter aufputschenden Drogen tagaus, tagein in die Pflicht genommen.

Ein Philosoph auf dem Thron

Denn während Pest und Krieg seine Regentschaft verdüstern, ficht der Imperator Caesar Marcus Aurelius Antoninus Augustus noch einen ganz persönlichen Kampf: gegen den eigenen Leib, die eigenen Bedürfnisse. Als ein Philosoph auf dem Thron begreift sich Mark Aurel. Und versteht darunter in erster Linie asketische Weltverachtung. Genuss entbehren, rastlos seinen Dienst für den Staat tun, Not klaglos erdulden. Nichts hoffen, nichts fürchten – da doch alles nichtig und vergänglich ist. Stets die eigene Sterblichkeit bedenken, als Trost in Mühen: zur Mahnung im Triumph.

Nicht wenige Höflinge halten ihren lustfeindlichen Herrn für skurril. Aber Mark Aurel braucht diesen Panzer. Um im Chaos der Seuchen, Barbarenüberfälle und Unruhen nicht zu verzweifeln. Und er braucht ihn zur Abwehr einer obsessiven Todesfurcht.

Zumindest teilweise gelingt ihm das, und als er mit knapp 59 Jahren den geschundenen Leib verbraucht hat, ist er auf das Ende vorbereitet – auch politisch. Bereits drei Jahre zuvor hat Mark Aurel seinen Sohn Commodus zum Mitkaiser erhoben: einen gerade mal 15-jährigen Jungen. Vaterliebe und dynastischer Ehrgeiz mögen zu diesem Entschluss beigetragen haben. Doch vor allem scheint dem Herrscher ein beim Volk und in der Truppe eingeführter, legitimer Erbe die beste Absicherung gegen Thronwirren und Bürgerkrieg.

Nun, im Donaugebiet, ruft der schwerkranke Kaiser Commodus an sein Bett, berät und mahnt ihn, den Krieg nur siegreich zu beenden. Von da an nimmt Mark Aurel nichts mehr zu sich. Er ist es müde. Am sechsten Tag seiner Krankheit versammelt er seine Berater und die anwesenden Verwandten um sich. Mühsam im Bett aufgerichtet, gibt der Philosoph auf dem Kaiserthron eine letzte Probe stoischer Gelassenheit. Erklärt den Trauernden, wie natürlich deren Empfinden sei – und doch naiv im Angesicht des massenhaften Sterbens um sie herum. Zum Abschied schwört er seine engsten Getreuen auf den Erben ein. Noch einmal empfängt er am nächsten Tag Commodus, schickt ihn jedoch rasch wieder fort, damit sein einziger überlebender Sohn sich nicht noch bei ihm ansteckt. Dann verhüllt der Imperator das Haupt wie zum Schlaf. 

Vom goldenen zum rostigen Kaisertum

In der Nacht des 17. März 180 n. Chr. stirbt der vielleicht intellektuellste Kaiser in der Geschichte des Imperium Im Gewand eines Priesters opfert Mark Aurel einen Stier, um göttlichen Beistand im Kampf gegen die Germanen zu erbitten. Diese und die folgenden Reliefplatten zierten einst Siegesmonumente Romanum. Sein Lebenskampf ist ausgefochten. Derjenige Roms indes hat eben erst begonnen. Ausgerechnet unter einem seiner kultiviertesten Herrscher endet die Mittagsruhe des Reiches. Der Frieden wird nur noch sporadisch wiederkehren, die von Mark Aurel mühsam verteidigte Welt aus der Defensive nicht mehr herauskommen.

Das "goldene Kaisertum", schreibt ein antiker Historiker, sinkt nun ab zu einem "eisernen und rostigen". Und er macht auch einen Schuldigen aus: Mark Aurels ungeeigneten Erben Commodus.

Reliefplatte: Mark Aurel opfert einen Stier
Im Gewand eines Pristers opfert Mark Aurel einen Stier, um göttlichen Beistand im Kampf gegen die Germanen zu erbitten. Diese und die folgenden Reliefplatten zierten einst Siegesmonumente
© Fine Art Images / Heritage Images

26. April 121, 59 Jahre zuvor. Vom frühlingsgrünen Hügel Caelius im Südosten Roms aus öffnet sich der Blick über einen großen Teil der Stadt. Roms führenden Familien, die auf dieser Anhöhe prächtige Palais und Gartenvillen besitzen, liegt das Zentrum eines Reiches zu Füßen: eines gigantischen Imperiums, prosperierend und befriedet. Auch Kaiser Hadrian unterhält hier einen Palast. Doch an diesem Apriltag richtet sich die Aufmerksamkeit Roms auf ein anderes Haus. Gratulanten aus allen Ständen, Schützlinge und Freunde, Senatoren und Würdenträger, strömen zum Heim des Marcus Annius Verus, um den jungen Mann zur Geburt seines ersten Sohnes zu beglückwünschen.

Die Familie von Annius Verus zählt zu den mächtigsten des Imperiums. Gerade bekleidet sein Vater zum zweiten Mal das Amt des Konsuls. Sein Reichtum ist gewaltig. Zudem ist Domitia Lucilla, die Frau von Marcus, eine Verwandte, möglicherweise sogar eine Halbschwester des Kaisers. Deshalb ist die Geburt des Säuglings ein Politikum. Denn Hadrian selbst hat keine Kinder. Mit etwas Glück kann die Sippe der Annii Veri also über den nächsten Kaiser mitbestimmen.

 Manch heranwachsender Römer spricht Latein  mit griechischem Akzent

Nach neun Tagen erhält der Säugling einen Namen. Traditionsbewusst gibt der junge Vater ihm den des Großvaters, der zugleich der seine ist: Marcus. In die Geschichte eingehen wird das Kind unter einem später angenommenen Namen: Marcus Aurelius. Mark Aurel.

Wie in vornehmen Familien üblich, wird der Säugling einer Amme übergeben, wahrscheinlich einer Hellenin. Im Osten des Reiches ist Griechisch Amtssprache; Athen gilt neben Rom als kulturelle Hauptstadt – Zweisprachigkeit versteht sich von selbst in der Oberschicht. Manch heranwachsender Römer spricht Latein anfangs mit einem griechischen Akzent.

Von den ersten Schritten und Worten an ist das Kind dem strengen Blick der Verwandten und Standesgenossen ausgesetzt. Die Söhne der römischen Aristokratie sind künftige Herren der Welt; missraten sie, kann der Schaden für ihre Familien ungeheuer sein. Deshalb werden ihnen Härte und Selbstbeherrschung antrainiert sowie Lerneifer – und vor allem unbedingte Hochachtung für die Sitten und die Autorität der Altvorderen. Umgekehrt werden vorwitzige, gar aufsässige Adelssprösslinge mit Prügeln diszipliniert.

Ein Leben in Wahrheit

Marcus bleiben die schlimmsten Demütigungen erspart. Intellektuell begabt, von Natur wissbegierig und schon als Kind seltsam ernsthaft, folgt er seinen Erziehern und Lehrern eifrig. Vielleicht zu eifrig. 

Er lernt, weder beim Wagenrennen noch bei den Gladiatorenkämpfen mit einer Partei zu fiebern, gar zu wetten – so etwas ist selbst innerhalb der Elite unüblich. Im Alter von zwölf Jahren erklärt er, das strenge, vergeistigte Leben eines Philosophen führen zu wollen, legt sich einen groben Mantel zu, wie ihn viele Denker tragen, und beginnt auf dem nackten Boden zu schlafen. Die Mutter kann ihn überreden, wenigstens ein mit Fellen bedecktes Feldbett zu benutzen. Der Junge ist sensibel, intelligent, anspruchsvoll sich selbst gegenüber – und ungemein empfänglich für das Ideal seiner intellektuellen Privatlehrer: ein Leben in Wahrheit.

Jahrzehnte später wird Mark Aurel über sein Ringen und seine Einsichten schriftlich Rechenschaft ablegen, in einem Werk, das von der Nachwelt den Titel "Selbstbetrachtungen" erhält. Er liest Tag und Nacht, lässt sich widerwillig zu Arenabesuchen, Sport oder Jagd drängen, entwickelt Züge eines Sonderlings. Dazu mag ein bitterer Verlust beigetragen haben: Sein Vater starb, noch ehe Marcus neun Jahre alt war. Der Junge entwickelt eine Art melancholischen Trotz, so als wollte er sich für zukünftige Schläge wappnen.

Büste Antoninus Pius
Unter Hadrians Nachfolger erlebt Rom eine Blüte. 138 adoptiert Antoninus Pius (hier zu sehen) Mark Aurel – und bereitet ihn 23 Jahre lang auf die Macht vor
© PHAS / Universal Images Group

Hinzu kommt ein monströser Erwartungsdruck.

Kaiser Hadrian protegiert die Familie, hat bereits den sechsjährigen Marcus in den Ritterstand aufnehmen lassen und ein Jahr später in ein exklusives Priesterkollegium vermittelt. Der Knabe muss komplizierte kultische Tänze lernen, archaische Eidesformeln. Bald peinigen ihn zahlreiche Ängste, zu versagen, vor Verlust und Demütigung. Er kanalisiert sie alle in Aggression gegen den eigenen Körper: in Hungertraining, Schlafentzug, sexuelle Enthaltsamkeit. Vieles deutet darauf hin, dass Marcus eine Form von Magersucht entwickelt. Einen Kontrollzwang, der ihn das Ideal eines reinen Verstandesmenschen anstreben lässt.

Baubeginn eines gewaltigen Mausoleums

Noch einmal verschärft wird der Druck durch die Pläne, die der kinderlose Hadrian anscheinend mit dem aufgeweckten jungen Verwandten hat. Nun, um das Jahr 135, verfällt der etwa 60-jährige Kaiser zusehends, wie der Geschichtsschreiber Cassius Dio berichtet. Die meiste Zeit verbringt er zwischen den erlesenen Kunstschätzen seines luxuriösen Landsitzes am Rande der Sabiner Berge. In Rom veranlasst er den Bau eines gewaltigen Mausoleums – doch einen Erben benennt er nicht. Marcus weiß, dass auch sein Name fällt, wenn über Hadrians Nachfolge spekuliert wird. Er empfindet dabei wohl nicht so sehr ehrgeizige Hoffnung, sondern vielmehr Furcht vor einem restlos öffentlichen Dasein, moralischen Kompromissen und aufreibenden Pflichten.

Im März 136, kurz vor seinem 15. Geburtstag, tritt er, wie die meisten Jungen seines Alters, vor den Hausaltar und tauscht in feierlicher Zeremonie die Kinder– gegen die Erwachsenentoga. Anschließend geleiten Verwandte und Freunde ihn zum Forum, wo sein Name in die Bürgerliste eingetragen wird. Damit ist Marcus Annius Verus mündig.

Kurz darauf wird er auf Initiative Hadrians mit einer Tochter des Konsuls Lucius Ceionius Commodus verlobt. Anschließend adoptiert der Kaiser Commodus – üblich, wenn ein kinderloser Herrscher einen Erben bestellen will.

Hadrians Motive für dieses Vorgehen sind nicht ganz klar. Lucius Ceionius Commodus ist zwar Konsul in dritter Generation, aber politisch eher profillos; dennoch traut Hadrian ihm das Amt offenbar zu. Eine Rolle spielt vermutlich, dass Commodus selbst einen kleinen Sohn hat, die Thronfolge also über mindestens zwei Generationen gesichert ist – und der begabte Marcus als Ersatz oder Zwischenlösung bereitsteht. Es ist eine sorgsam austarierte Konstellation, die zwei mächtige Familien verbindet, zudem Standesempfindlichkeiten und komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse berücksichtigt – und Marcus hoffen lässt, nicht in die Verantwortung genommen zu werden.

Als Schwiegersohn des kommenden Herrschers kann er mit Ehren und Einfluss rechnen, aber auch mit hinreichend Muße, seinen philosophischen Neigungen nachzugehen. Vor ihm liegt ein glänzendes, glückliches Leben. Der sieche Kaiser meint es gut mit dem Jungen, den er in freundlichem Spott "Verissimus" nennt, den "Allerwahrhaftigsten".

Geachtet für Milde und Klugheit

Doch am Neujahrstag 138 erleidet Lucius Ceionius Commodus plötzlich einen Blutsturz und stirbt. Erneut machen die Aristokraten nun Pläne für die Zeit nach Hadrians Tod, rechnen Verwandtschaftsgrade aus, kalkulieren die Ambitionen der Provinzstatthalter, die Zahl ihrer Legionen, erstellen im Geist womöglich Mordlisten für einen Thronfolgekrieg. Der schwer kranke Kaiser rafft sich jedoch noch einmal auf. Nach Wochen entnervender Ungewissheit ruft Hadrian, wassersüchtig und lebensmüde, seine Vertrauten ans Bett. Er erklärt, dass er Aurelius Antoninus adoptieren wird, einen reichen, für seine Milde und Klugheit geachteten früheren Konsul. Antoninus wiederum soll Commodus' Sohn Lucius an Kindes statt nehmen – und Marcus.

Büste Lucius Verus
161 macht Mark Aurel seinen Adoptivbruder Lucius Verus (hier zu sehen) zum Mitherrscher. Bis zu dessen Tod 169 regieren erstmals zwei Kaiser gemeinsam Rom
© DeAgostini

Am 25. Februar 138 wird Marcus Annius so zu Marcus Aurelius, Sohn des Aurelius Antoninus. Damit ist Mark Aurels Lebensweg vorgezeichnet: Er ist zehn Jahre älter als der Adoptivbruder Lucius, vor dem Volk vielfach ausgezeichnet, ein direkter Neffe des designierten Imperators Antoninus – nur sein vorzeitiger Tod könnte noch verhindern, dass er Kaiser wird. Der Traum vom Leben als Philosoph ist damit beendet.

Mark Aurel wird es Hadrian zeitlebens verübeln, ihn in diese Pflicht genommen zu haben. Wo er Vätern, Vorvätern und Mentoren in seinen "Selbstbetrachtungen" rhetorische Denkmäler setzt, findet sich kein Wort über den Mann, der ihm das Reich vermachte. Ein schneidendes Schweigen.

Auch einige Charakterzüge des Kaisers müssen den strengen Adoptivenkel irritieren: Als Staatsmann tüchtig, ist Hadrian stets jedem Genuss zugetan, offen bisexuell, herrisch bis zum politischen Mord. Am 10. Juli stirbt er in einem Badeort am Golf von Neapel, gehasst und verachtet von vielen. Mit Blick auf diese Monate schreibt Mark Aurel in den "Selbstbetrachtungen": "Wo man leben muss, kann man auch richtig leben. Nun musst du aber am Hof leben; folglich kannst du auch am Hof richtig leben." Der Satz eines Weisen. Ein verzweifelter Satz.

Bürgerlicher Kaiser als Erster unter Gleichen

Mark Aurels Rettung wird der Adoptivvater Antoninus, der als Kaiser bald den Beinamen " Pius" erwirbt, "der Fromme". Antoninus Pius gibt sich ganz anders als der selbstherrliche Hadrian. Er ruft Verbannte zurück, hebt Todesurteile auf. Adel und Senat begegnet er ausgesucht höflich, auffallende Leidenschaften hat er kaum. Ein fast bürgerlicher Kaiser, der sich tatsächlich als primus inter pares versteht, als "Erster unter Gleichen". Für Mark Aurel wird dieser Kaiser, der so unaufgeregt wie tatkräftig lebt und regiert, zum idealisierten guten Herrscher und väterlichen Vorbild. In 23 Jahren schlafen die beiden nur zwei Nächte nicht unter einem Dach.

Und anders als der eifersüchtig die Macht hütende Hadrian löst Antoninus die Nachfolgefrage zügig. Er verlobt Mark Aurel mit seiner noch minderjährigen Tochter Faustina, lässt ihn in alle wichtigen Priesterkollegien wählen und zum offiziellen Thronerben ausrufen. Mit 18 wird Mark Aurel erstmals Konsul. Das hat es noch nie gegeben: Für römische Begriffe leitet ein halbes Kind die Sitzungen des Senats. Skeptisch blickt die erhabene Ratsversammlung von rund 600 ehemaligen Amtsträgern, den vornehmsten und schärfsten Köpfen Roms, dem Jungen entgegen.

Eine unbedachte Geste, eine missratene Rede, ein linkisch ausgeführter Ritus – und Mark Aurel würde nicht edel zurückhaltend wirken, sondern pompös oder verschüchtert, anmaßend oder schlicht überfordert. Dann würde diese beispiellose Erhebung eines Jünglings nicht als weise und vorausschauend gelten, sondern als Arroganz der Macht.

Doch der Thronfolger, von klein auf streng beobachtet, vermeidet jeden Fehlschritt. Die Senatoren sind angetan. Aber genau diesen Zwang zu funktionieren hat der heranreifende Philosoph Mark Aurel immer gefürchtet. Während Antoninus Pius seinen Schützling an die Macht heranführt, erhält der weiterhin Unterricht bei den besten Lehrern, auch seine philosophischen Studien kann er fortsetzen. Besonders die ursprünglich griechische Schule der Stoa zieht ihn an. Die Stoiker preisen einen abgeklärten, nüchternen Verstand und heitere Gelassenheit gegenüber dem willkürlichen Schicksal. Sie lehren Mäßigung und Milde, eine stete Suche nach Einklang mit der eigenen Natur, Tatkraft auf dem Posten, auf den jeder gestellt wurde.

Individuelle Interpretation der Stoa

Was Mark Aurel sich aneignet, ist indes eine höchst individuelle Interpretation der Stoa, die er ein Leben lang ergänzt und modifiziert. Zumal die heitere Seite nach und nach von seinen asketischen Neigungen verdrängt wird. Die stoische Skepsis gerät ihm schließlich zu einer leicht grantelnden Melancholie. "Am Morgen", notiert er, "soll man sich sagen: Ich werde heute einem beschränkten, einem undankbaren, einem unverschämten, einem falschen, einem missgünstigen und einem unverträglichen Kerl begegnen." Und sie alle dennoch ertragen. So gewappnet, kann Mark Aurel dem Einzelnen duldsam, ja gewinnend begegnen.

Zwei gefangene Germanen werfen sich vor Mark Aurel zu Boden
Zwei gefangene Germanen werfen sich vor Mark Aurel zu Boden, die Hände ergeben erhoben. 168 zieht der Kaiser mit einer gewaltigen Streitmacht gegen die Stämme des Nordens
© akg-images

Die natürliche Unbefangenheit seines Adoptivvaters aber bleibt ihm versagt. Schlimmer – manchmal stößt er Menschen vor den Kopf. Zu einer Abendeinladung etwa erscheint er mit Büchern unter dem Arm und widmet sich der Lektüre statt den anderen Gästen. Beim Faustkampf oder einem Musikvortrag verdirbt er seinen Begleitern den Spaß, indem er analytisch darlegt, wie lächerlich die Sache doch eigentlich sei.

Anlässlich einer Weinlese auf seinen Privatgütern lässt Kaiser Antoninus Pius ein deftiges Fischpüree reichen – der junge Cäsar bescheidet sich mit einem Stück Brot. Er sei erkältet. In solchen Momenten gleitet seine intellektuelle Selbstzucht ab in eine hochmütige Missachtung von Konventionen. Selbst ein enger Freund und Lehrer nennt den Musterschüler dann "schwer erträglich" und einen "unangenehmen Menschen". Andererseits begreift Mark Aurel es ganz traditionsgemäß als seine Herrscherpflicht, einen Erben zu produzieren.

Kein großer Krieg, innere Harmonie, ein etablierter Thronfolger

Faustina, die er im Mai 145 heiratet, mutet er eine nicht endende Reihe von Schwangerschaften zu. Viele Jahre lang überleben nur die Töchter des Paares das Säuglingsalter, und so muss sie ihm in 25 Jahren wohl 13 Kinder gebären, Fehl- und Totgeburten nicht gerechnet.

Zu Beginn des Jahres 161 muss Antoninus Pius seinen Körper bereits mit einem Korsett aufrecht halten. Seit fast 23 Jahren regiert er nun schon, klug, gewissenhaft und überaus erfolgreich: kein großer Krieg, innere Harmonie, ein etablierter Thronfolger.

Als eine Magenverstimmung bei ihm zu Fieber und rascher Entkräftung führt, kann der 74-Jährige im Bewusstsein auf den Tod zugehen, besorgt zu haben, was ihm zu besorgen aufgegeben war. Am 7. März 161 stirbt er, ein glücksbegabter, sich selbst wohlgesonnener Stoiker, um dessen innere Balance ihn der zwanghafte Mark Aurel immer beneiden wird.

Niemals in der Geschichte des Imperiums ist ein Kaiser besser vorbereitet und gründlicher ausgebildet worden als Mark Aurel. Nur eines hatte der sanftmütig-fromme Adoptivvater versäumt: den Nachfolger zu einer Provinzarmee zu schicken oder gar in ein Gefecht. Mark Aurel beherrscht zwar das Handwerk des Regierens – aber nur in ruhigen Zeiten. Doch hinter den Grenzen, warnen Gerüchte, gäre es.

Wohl deshalb überrascht Mark Aurel den Senat noch am Todestag des Antoninus Pius mit einem Bruch der Tradition: Er bittet um die volle kaiserliche Macht auch für seinen Adoptivbruder. Im Ernstfall soll Lucius Aelius Aurelius Commodus die Truppen anführen. Der Senat willigt ein und erhebt ihn als Lucius Verus gleichfalls zum Kaiser.

Kaskade von Heimsuchungen

Im Spätsommer erfüllt sich noch ein Wunsch Mark Aurels. Faustina bekommt Zwillinge, Jungen. Den einen tauft er nach seinem Adoptivvater, den anderen zu Ehren des Bruders und Mitkaisers: Lucius Aurelius Commodus.

Zur gleichen Zeit fallen parthische Reiter in das von Rom abhängige Königreich Armenien ein, vernichten mindestens eine römische Legion und dringen nach Syrien vor. Seit mehr als zwei Jahrhunderten bereits konkurriert das Partherreich (im heutigen Iran und Irak) mit Rom um die Kontrolle Armeniens, um Handelsrouten und die Vorherrschaft zwischen Kaukasus und syrischer Wüste. Zwei Generationen zuvor tobte hier der letzte große Krieg des Imperiums. Jetzt eröffnet der erneute Angriff eine Kaskade von Heimsuchungen, die Mark Aurels Leben verdüstern werden.

Im Frühjahr 162 reist Lucius Verus nach Brundisium (Brindisi), um sich nach Syrien einzuschiffen. In Rom rauchen die Opferfeuer, mit denen die Römer ihre Götter um Beistand bitten. Lucius Verus ist lebensfroher als sein Adoptivbruder. Angeblich macht er aus seiner Fahrt in den Krieg eine Lustreise, unterbricht sie für Jagden und Gelage, führt Sänger und Musikanten mit, vertändelt Zeit in griechischen Kulturstätten und kleinasiatischen Badeorten. Erst Ende 162 trifft er in Syrien ein.

Mark Aurel im Triumphwagen
Im Triumphwagen zieht Mark Aurel in Rom ein, wahrscheinlich, um den Sieg seines Mitkaisers Lucius Verus über die Pather im Osten zu feiern. Doch auch im Norden und Westen drohen neue Gefahren – etwa in Britannien
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Die Generäle, die dort auf ihn warten, sind harte Truppenführer. So hat der alte Marcus Pontius Laelianus die Polster aus den Sätteln der Reiter schneiden lassen, verschärfte den Drill, verbot Alkohol und Glücksspiel. Ähnlich hält es Gaius Avidius Cassius, selbst gebürtiger Syrer, der es in Rom bis zum Konsul gebracht und als Statthalter an der Donau gedient hat. Von Marcus Statius Priscus, der aus Britannien quer durch das Reich geeilt ist, weiß die Legende, allein sein Gebrüll werfe den Feind tot um.

Inzwischen mehren sich an Rhein und Donau die Überfälle von Germanen

Im Jahr darauf erobern die Legionen Armenien zurück, 165 stoßen sie ins parthische Kernland vor und brennen Teile der Doppelhauptstadt Seleukia-Ktesiphon am Tigris nieder. Lucius Verus hält sich aus dem eigentlichen Kampfgeschehen weitgehend heraus, kümmert sich um seine griechische Geliebte und genießt den Kriegsruhm, der ihm als Oberbefehlshaber zusteht – ihm und Mark Aurel, mit dem er schließlich die Siegestitel "Imperator", "Armenierbezwinger" und "größter Parthersieger" teilen wird. Inzwischen mehren sich an Rhein und Donau die Überfälle von Germanen.

Deshalb kehrt Lucius Verus nach Rom zurück, lässt er seine Legionen zu ihren Standlagern in Bonna (Bonn) und Aquincum (Budapest) marschieren. Die Neuordnung im Osten soll der wirkliche Sieger des Feldzugs leiten: Avidius Cassius, nun Statthalter von Syrien.

Im Oktober 166 feiern die beiden Herrscher den ersten Triumphzug in Rom seit fast 50 Jahren. Nach altem Ritus fahren die Brüder auf Festwagen vom Marsfeld über das Forum zum Kapitol. Gehüllt in goldverzierte Purpurtogen, das Gesicht zinnoberrot bemalt, in der Rechten einen Lorbeerzweig, in der Linken ein Elfenbeinzepter: lebende Abbilder des Gottes Jupiter. Dem Zug voran werden Gefangene geführt, erlesene Beutestücke, Tafeln mit den Namen besiegter Fürsten, Bilder eroberter Städte. Hinter den Triumphatoren steht jeweils ein Sklave, hält eine goldene Eichenlaubkrone über ihr Haupt und flüstert im Lärm der jubelnden Zuschauer und singenden Soldaten:

"Blicke hinter dich und denke daran, dass auch du nur ein Mensch bist." Unwahrscheinlich, dass Mark Aurel dieses Hinweises bedarf.

Hunderte, schließlich Tausende Tote – jeden Tag

Während Rom noch feiert, grassiert entlang der Heerstraßen bereits der Tod. Die zurückkehrenden Truppen schleppen ihn mit. Sie haben sich in Seleukia und andernorts bei ihren Opfern angesteckt. Die genaue Art der Seuche ist nicht überliefert; die Symptome sprechen für Beulenpest, Pocken oder Fleckfieber. Wo immer die Legionen sich aufhalten, befällt die Menschen ein schwarzer, meist tödlicher Ausschlag. Mit den triumphierenden Einheiten erreicht die Seuche Rom. 

Bald gehen Hunderte, schließlich Tausende zugrunde – täglich. Leichenzüge gibt es nicht mehr; die Toten werden auf Marktkarren fortgeschafft. Oder bleiben in den Straßen liegen. Die Friedhöfe sind überfüllt, Trauernde eignen sich fremde Gräber an; Mark Aurel befiehlt, arme Leute auf Staatskosten zu bestatten.

Falsche Propheten verkaufen magische Bannsprüche, die das hilflose Volk an die Türpfosten heftet. Da die Epidemie auch das Land erfasst, Güter, Gehöfte und Märkte verwaisen, grassiert neben der Krankheit bald der Hunger. In dieser Lage nun muss der Kaiser vor den Senat treten und einen neuen Feldzug ankündigen: Ein Krieg gegen die Germanen lässt sich nicht länger hinauszögern.

Mit Sühneopfern versucht er den Römern Zuversicht zu geben. Um keine Gottheit zu vergessen und zu kränken, ruft er Priester der obskursten Kulte nach Rom, die inmitten des Hungers massenhaft Tiere opfern. So groß ist die Not, dass eine Woche lang Götterstatuen an öffentlichen Plätzen auf Speiseliegen gebettet werden, festlich bewirtet und um ihr Erbarmen angefleht: So ist es auch aus der Zeit der Kriege gegen das einst mächtige Karthago überliefert, als Hannibal drohte, Rom zu stürmen.

Aufbruch nach Norden

Im Frühjahr 168 brechen die Kaiser auf nach Norden. Die Grenze des Imperiums im Norden und Osten bildet von Castra Regina (Regensburg) bis hinter der Mündung der Theiß im heutigen Serbien die Donau. Jenseits des Stroms siedeln überwiegend germanische Stämme, von denen etliche Rom als Schutzherrn anerkennen.

Doch nun dringen fremde Verbände in deren Gebiete ein, vertrieben von stärkeren Völkern weiter nördlich.

Bald bitten mehrere Stammesgemeinschaften um Zuflucht im Reich, um Land und eine neue Heimat. Rom hält sie hin; denn die Ansiedlung ganzer Barbarenvölker ist ein unkontrollierbares Risiko. Daraufhin dringen die Verzweifelten mit Gewalt ein. (Die kaiserlichen Brüder stehen vor einem Vorläufer jener "Völkerwanderung", die später zu Roms Untergang beitragen wird.) Der genaue Kriegsverlauf verliert sich im Dunkel lückenhafter Überlieferung.

Büste Faustina
Schon früh wird Mark Aurel mit der Tochter des Antoninus Pius verheiratet. Faustina stirbt mit etwa 45, ausgezehrt durch mehr als ein Dutzend Schwangerschaften
© De Agostini

Mit einiger Sicherheit plant Mark Aurel einen massiven Vergeltungsschlag, um die Grenze zu befrieden – erleidet jenseits der Donau aber eine katastrophale Niederlage. Wahrscheinlich im Anschluss daran durchbrechen die Germanen Roms Verteidigungslinien und dringen bis Nordostitalien vor: die erste Invasion der Apenninenhalbinsel seit fast 300 Jahren. Andere Gruppen streifen plündernd den Balkan hinab, erreichen beinahe Athen. Hunderttausende werden getötet, verschleppt, verstümmelt, um ihre Habe gebracht.

Zudem fordert die Pest nach wie vor ihre Opfer, berennen schottische Stämme die Grenzen in Britannien, wird Ägypten von einem Aufstand erschüttert, fallen Wüstenkrieger im römischen Nordwestafrika ein, verheeren sogar die spanischen Provinzen. Darüber hinaus verzeichnen die kaiserlichen Kanzleien regionale Missernten, Heuschreckenplagen, Erdbeben, Überschwemmungen. Das Reich brennt. Mark Aurel war klug, die Würde des Imperators zu fürchten – doch diese Regentschaft ist noch schlimmer, als selbst er ahnen konnte.

Nicht um das Leben beten, sondern darum, den Tod nicht zu fürchten

Auch privat erlebt er dunkle Zeiten. Noch vor Beginn des Krieges stirbt der ältere seiner Zwillingssöhne, etwas später ein nachgeborener Sohn. Im selben Jahr, 169, erliegt sein Bruder und Mitkaiser Lucius Verus mit nicht einmal 40 Jahren einem Schlaganfall.

Mark Aurel bringt die Leiche zur Bestattung nach Rom. Von dem Stoiker Epiktet hat er gelernt, die Lebenden immer schon als Tote zu sehen: nicht um das Leben eines Kindes zu beten, sondern darum, dessen Tod nicht zu fürchten.

Zumindest hat er gelernt, sich so zu geben, auch angesichts fürchterlicher Verluste.

Was der Kaiser wirklich denkt und fühlt, weiß niemand. Äußerlich gelassen geht er auch mit den Gerüchten um, Faustina betrüge ihn. Vielleicht, weil sie nicht zutreffen; vermutlich, weil er den Skandal einer offiziell gescheiterten Ehe scheut. Und ohnehin: Was ist die körperliche Liebe schon mehr als "das Reiben eines Stücks Eingeweide und die Absonderung eines Schleimtröpfchens unter mäßigen Zuckungen".

Es sind solche Ermahnungen und Reflexionen, die Mark Aurel um diese Zeit aufzuschreiben beginnt. Die "Selbstbetrachtungen" sind ein verzweifelter Versuch, dem von Vernichtung und Nichtigkeit bedrohten Leben einen Sinn abzuringen. Die Quintessenz des über zehn, zwölf Jahre fortgesetzten schriftlichen Nachdenkens bilden Appelle, die unvollkommenen und flüchtigen Dinge leidenschaftslos und rein vernunftgemäß zu betrachten. Der Aufruf zu einem kompromisslosen Pflichtbewusstsein im Dienst für das allgemeine Wohl.

Immer wieder geht es um die Kürze des Lebens und die Belanglosigkeit des Nachruhms. Die melancholischen Worte offenbaren einen Menschen, der mit seinen Eitelkeiten und Ängsten ringt. Der sich Anerkennung als Philosoph ersehnt und doch nichts so sehr fürchtet wie die Gefahr, sich als Kaiser eine Blöße zu geben.

Opiumhaltige Medikamente gegen Schmerzen und Hunger

Wenige Monate nach der Beerdigung des Lucius Verus reist er an die Front. Auch im Feld bearbeitet er Akten, um Gesetze zu begutachten, Budgets zu prüfen, klagenden Untertanen ihr Recht zu verschaffen. Gegen jede römische Sitte beruft er spätabends noch Gerichtssitzungen ein, die bis tief in die Nacht andauern – leicht zu ertragen ist der übergründliche Herrscher für seine Berater nicht.

Ermahnungen , sich doch zu schonen, wischt Mark Aurel beiseite. Hustend, frierend und müde zwingt er sich morgens aus dem Bett, isst wenig, trinkt kaum Alkohol, leidet an Magenverstimmungen, Atemnot, Kopfschmerzen. Es kommt vor, dass er einen Truppenappell abbrechen muss, weil die Kraft nicht reicht. Um die Schmerzen, den Hunger, seine chronische Schlaflosigkeit zu lindern, nimmt er täglich ein opiumhaltiges Medikament zu sich, gesüßt mit Honig. Die Kriegserlebnisse erschüttern ihn.

Mark Aurels Sohn Commodus – der sich gern mit Löwenfell und Keule als Halbgott Herkules zeigt – ist 15, als ihn sein Vater zum Mitkaiser erhebt
Mark Aurels Sohn Commodus – der sich gern mit Löwenfell und Keule als Halbgott Herkules zeigt – ist 15, als ihn sein Vater zum Mitkaiser erhebt
© De Agostini

"Wenn du jemals eine abgehauene Hand, einen Fuß oder einen abgeschnittenen Kopf getrennt von dem übrigen Körper hast liegen sehen . . .", notiert er schaudernd. Gleichwohl führt er den Kampf gegen die Barbaren mit entschlossener Härte weiter. Die angeschlagene Armee nimmt jeden Mann, der sich rekrutieren lässt. Neben freien römischen Bürgern kämpfen germanische Söldner, griechische Ordnungshüter, dalmatinische Räuber sowie Gladiatoren und Sklaven, denen für ihren Einsatz die Freiheit versprochen wird – sofern sie überleben. Denn die Verluste durch die Seuche und die Kämpfe sind hoch. Immer schwieriger wird es zudem, fähige Kommandeure zu finden.

Zahlreiche vornehme Familien rettet nur die gängige Praxis der Adoption vor dem Erlöschen, während sich weniger edel Geborenen plötzlich Karrieren eröffnen. Einer von ihnen ist Tiberius Claudius Pompeianus, Sohn eines Ritters aus Syrien. Der hochbegabte General hat sich bereits als Provinzstatthalter an der Donau bewährt, als Mark Aurel beschließt, ihn so eng an sich zu binden wie möglich: Er bietet Pompeianus seine älteste Tochter zur Frau an.

Ein Philosoph als gnadenloser Kriegsherr

Ein kleinadeliger Nichtitaliener als Teil der kaiserlichen Familie? Die junge Frau und ihre Mutter, Faustina, sind empört. Doch wenn es um das Reich geht, verlangt der Imperator, dass die Familie sich fügt wie jeder andere. Fortan ist Pompeianus stets an der Seite seines Schwiegervaters. Der General ragt heraus, aber auch sonst zeigt Mark Aurel ein Gespür für gute Berater, kann zuhören, Kritik annehmen und lässt sich belehren, wenn andere es besser wissen.

Um das Jahr 172 wendet sich das Blatt zu seinen Gunsten. Immer häufiger operieren Roms Legionen nun erfolgreich jenseits der Donau, errichten dort Feldlager, brennen Weiler und Höfe nieder, verschleppen die Bewohner oder treiben sie ohne Vorräte in die Wildnis. Schon bald erkennen Roms mächtigste Gegner, die germanischen Quaden und Markomannen sowie das sarmatische Reitervolk der Jazygen, dass sie den Krieg im eigenen Land nicht lange durchstehen können. Ein Häuptling nach dem anderen bittet um Frieden.

In manchen Fällen aber zögert Mark Aurel, haben doch einige Stämme frühere Unterwerfungsverträge wieder gebrochen. Ruhe für sein Reich glaubt der Imperator nur gewinnen zu können, indem er den Feind langfristig schwächt – bei den Jazygen spricht er gar von Auslöschen. Und so lässt der kaiserliche Schöngeist, der in Rom den Gladiatoren bei Kämpfen in seiner Gegenwart stumpfe Waffen und den Seiltänzern Sicherheitsmatten vorgeschrieben hat, weiterhin Gefangene hinschlachten, Siedlungen brandschatzen und den Krieg fortführen.

Ein Philosoph als gnadenloser Kriegsherr: Seinem aufgeklärten Verstand mag diese Realität widerstreben – entrinnen kann er der Aufgabe nicht. Sie ist Teil des ungeliebten Amtes. Dass es dann doch zu einem Ende des Gemetzels kommt, ist Ergebnis eines folgenreichen Missverständnisses. Woher auch immer das Gerücht stammt, im Frühjahr 175 erreicht es die Levante: Der Kaiser sei tot. Da Mark Aurels einziger überlebender Sohn Commodus noch unmündig ist, erscheint der Thron herrenlos.

Avidius Cassius, der Sieger im Kampf gegen die Parther und Statthalter von Syrien, reagiert am schnellsten und lässt sich von den Legionen des Ostens zum Kaiser ausrufen. Als er erfährt, dass Mark Aurel in Wirklichkeit noch lebt, ist es zu spät – ein Usurpator kann ebenso wenig abdanken wie ein Kaiser.

Rom steht vor einem Bürgerkrieg

Rom steht vor einem Bürgerkrieg. Zwar endet die Krise, noch ehe sie richtig begonnen hat, denn die eigenen Leute töten Cassius, als sie die Wahrheit erfahren. Dennoch hat der Vorfall gravierende Folgen. Zum einen bricht Mark Aurel eilig den Krieg im Norden ab und gewährt seinen erschöpften Gegnern einen glimpflichen Frieden. Zum anderen erkennt er, wie gefährdet seine Pläne für die Thronfolge sind.

Deshalb ruft er seinen Sohn Commodus aus Rom ins Feldlager. Hier legt der knapp 14-Jährige am 7. Juli 175 feierlich die Erwachsenentoga an. Hastig überträgt der Vater ihm höchste Staatsämter, macht den Sohn keine zwei Jahre später gar zum Mitkaiser.

Es sind die ersten Jahre des Friedens in Mark Aurels Regentschaft. Über die Anhänger und Verwandten des Cassius übt er ein vergleichsweise mildes Gericht. Auch im Triumph bleibt er bescheiden und wahrt demonstrativ die Formen eines zivilen Kaisertums, den Stil des Antoninus Pius, dessen Zuvorkommen dem Senat gegenüber er sogar noch überbietet.

Er geht nicht nur aus Klugheit so vor, sondern aus philosophischer Überzeugung. Einst inspirierte die Stoa die senatorische Opposition gegen tyrannenhafte Kaiser wie Nero – und Mark Aurel sieht sein Denken in dieser Tradition.

Er begreift sich als ein Diener des Staats, der die Freiheit und Würde seiner Mitbürger achtet, despotischen Versuchungen widersteht – selbst da, wo es schwerfällt: Kritiker und Spötter, die den Princeps öffentlich schmähen, bleiben ungeschoren. Allenfalls wehrt er sich mit Reden.

Kaiser verteilt Geld an die Armen
Der Kaiser verteilt Geld an die Armen – Mark Aurel will ein Tugendherrscher sein, milde und gerecht. Doch die bislang schlimmste Krise des Reiches kann er nur mit brutaler Gewalt lösen
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In den "Selbstbetrachtungen" dankt der Kaiser einem seiner Lehrer, "dass ich eine Vorstellung gewann von einem Staat, in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben und der im Sinne der Gleichheit und allgemeinen Redefreiheit verwaltet wird, und von einer Monarchie, der die Freiheit der Bürger über alles geht". Und er ermahnt sich: "Sieh zu, dass du keine Cäsarallüren annimmst, dass der Purpur nicht abfärbt; denn das kann passieren." Ein Bürgerkaiser will er sein, im Einklang mit seinem Volk. 

Stärkung von Sklaven und Freigelassenen

Nicht immer gelingt es ihm. So trägt er seine Verachtung für Volksbelustigungen wie blutige Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen weiterhin offen zur Schau. Muss der Herrscher zu einer dieser Veranstaltungen erscheinen, liest er demonstrativ, unterzeichnet Dokumente oder empfängt Boten – gleichgültig, wen das beleidigen mag. Als das begeisterte Publikum fordert, den Dompteur eines auf Menschen abgerichteten Löwen zu belohnen, lässt der Imperator seinen Herold kalt verkünden, der Mann habe nichts von Wert geleistet.

Zugleich gilt Mark Aurel als juristisch beschlagener und gerechter Kaiser. Die von ihm erlassenen Gesetze stärken vor allem die Stellung der Sklaven und Freigelassenen – wohl auch aus ethischen Motiven, mehr aber noch aus politischen und wirtschaftlichen Gründen: Nach dem Aderlass der Römer durch Seuchen und Krieg braucht er sie als loyale Soldaten und neue Bürger. Aus ähnlichen Gründen fördert er Männer bescheidener Herkunft und aus den Provinzen, öffnet ihnen den Senat und sogar seine eigene Familie.

Oft aber streben philosophisches Ideal und politischer Pragmatismus auseinander. Denn obwohl sich Mark Aurel gern gnädig und verzeihend gibt: Aufstände werden niedergeschlagen, Feinde vernichtet. Repressionen und Pogrome gegen die wachsende Gemeinschaft der Christen lässt er zumindest zu: Deren Weigerung, an den offiziellen Kulten teilzunehmen, gilt als Staatsverrat. Mark Aurel kann nur den Kopf schütteln über die martyriumsversessene Unvernunft dieser Sekte, ihr Beharren auf dem einen, dem eigenen Gott.

Epidemien kehren wieder

Folgenreicher als in einzelnen Entscheidungen jedoch äußert sich Mark Aurels Philosophentum in seiner Grundhaltung: Der Imperator ist ein rastloser, harter Arbeiter – und unbeugsamer Verteidiger des römischen Gemeinwesens. Mit stoischer Selbstverleugnung und zähem Durchhaltewillen führt er das Reich durch eine seiner schwersten Krisen. Und die Schicksalsschläge dauern an.

Im Frühjahr 176 stirbt Faustina im Alter von etwa 45 Jahren. Vielleicht ahnt der Witwer, dass sein unbedingter Wunsch, einen legitimen Erben zu produzieren, ihren Tod beschleunigt hat. So oft er ins Amphitheater geht, lässt Mark Aurel nun eine goldene Statue seiner Frau auf ihren Ehrenplatz bringen. Auch die Epidemien kehren wieder.

Vor allem aber tritt ein, was der Kaiser gefürchtet hat: Der kaum geschlossene Frieden mit den Germanen zerbricht.

Anfang August 178 ziehen Mark Aurel, Commodus, Pompeianus und ihr Stab erneut an die Donau. Bald stehen insgesamt 40 000 Soldaten in den Gebieten der Markomannen und Quaden (in Österreich, Tschechien sowie der Slowakei) und terrorisieren die Bevölkerung: Furcht, Hunger und Gewalt sollen die Stämme zerschlagen, die Gefahr für immer bannen. Die Verheerungen sind weit vorangeschritten, als der Kaiser Anfang März des Jahres 180 erkrankt.

Sicherlich hätte er den elenden Krieg gern noch beendet. Sonst aber fällt ihm der Abschied womöglich nicht schwer. Er ist aufgerieben, auch seelisch. Sein Leben, das heiter auf einem grünen Hügel Roms begann und der Philosophie gewidmet sein sollte und das nun nach Jahrzehnten purpurgeschmückter Tortur in einem kalten, pestdurchwehten Heerlager endet, betrachtet Mark Aurel wohl längst als verunglückt.

Möglicherweise hätte es ihn mit seinem Schicksal versöhnt, zu wissen, dass sein Nachruhm Jahrhunderte anhalten wird – nicht wegen seiner Siege in vielen Schlachten, erst recht nicht als Gründer einer Dynastie: sondern wegen seiner "Selbstbetrachtungen".

Halbverrückter Wüstling, der in die Arena zu den Gladiatoren steigt

Commodus jedenfalls geht als Monstrum in die Geschichte ein. Ein halbverrückter Wüstling, der in die Arena zu den Gladiatoren steigt. Ein mörderischer Despot, der Unwürdigen Macht zuschanzt und seine Herrschaft auf das Militär stützt. Eine düstere Kontrastfigur zu dem bald heiligengleich überhöhten Mark Aurel. Schon die antiken Chronisten flechten in ihren Lobpreis auf den Philosophen-Kaiser den Vorwurf ein, dass er aus blinder Vaterliebe den leiblichen Sohn durchgesetzt habe, einen überaus ungeeigneten Nachfolger. Hätte er nicht die Tradition des Adoptivkaisertums fortsetzen und einen fähigen, reiferen Mann berufen können?

Wahrscheinlich nicht. Auch die Kaiser, die seit 98 n. Chr. ihre Nachfolger adoptierten, waren nicht frei in ihrer Wahl, sondern auf einen exklusiven Verwandtenkreis beschränkt – Adel wie Volk schätzten dynastische Legitimität.

Und keiner von den Herrschern hatte einen leiblichen Sohn. Commodus besaß einen klaren Anspruch. Die einzige Option, ihn zu enterben, ohne einen Bürgerkrieg zu riskieren, wäre seine Ermordung gewesen.

Dass Commodus den Krieg noch im Jahr seines Amtsantritts abbricht, gilt vielen Geschichtsschreibern als sein erster Verrat am väterlichen Erbe. Doch es gibt gute Gründe. Wesentliche Ziele sind erreicht, die Kosten immens. Der junge Kaiser verfügt kaum über militärische Erfahrung noch andere Autorität – die er eher im vertrauten Rom aufbauen zu können glaubt als auf einem riskanten Feldzug.

Für die Senatoren ist der selbstherrliche Kaiser eine verhasste Karikatur

Nie aber wird sich der neue Herrscher des Thrones und seines Lebens sicher sein. Keine zwei Jahre nach Mark Aurels Tod stürzt im Eingang des Kolosseums ein Mann mit gezücktem Dolch auf den Kaiser zu – im letzten Moment kann die Leibwache den Mord verhindern. Eine weitverzweigte Verschwörung um Commodus' Schwester, hochrangige Senatoren und enge Vertraute kommt ans Licht. Geprägt vermutlich durch dieses Erlebnis, wird der Kaiser zusehends paranoid und lässt jeden töten, der ihm gefährlich erscheint.

Da ihm der Senat suspekt ist, regiert er ohne oder gegen den Rat, gestützt auf Günstlinge – und das Volk. Denn dort versteht er sich beliebt zu machen, ist großzügig und kommt Bittgesuchen selbst geringer Bürger aus der Provinz persönlich nach. Und er steigt in die von seinem Vater so verachtete Arena, nimmt an Tierhetzen teil und kämpft als Gladiator – wenn wohl auch öffentlich nur mit einem Holzschwert (im kleinen Kreis soll er scharfe Waffen benutzt und Menschen getötet haben). Schließlich inszeniert er sich gar als der Halbgott Herkules, um die Menschen zu beeindrucken.

Für die Senatoren ist der selbstherrliche Kaiser eine verhasste Karikatur.

Doch alle Verschwörungen gegen ihn scheitern – bis sogar seine engsten Vertrauten um ihr Leben fürchten. Am letzten Tag des Jahres 192 lassen sie Mark Aurels Wunschkind mit 31 Jahren von einem Ringkämpfer erdrosseln. Kurz darauf bricht der Bürgerkrieg um den Thron aus, den Mark Aurel so unbedingt hatte verhindern wollen.

Das goldene Kaisertum ist Vergangenheit. Das Zeitalter von Eisen und Rost hat längst begonnen.