Zum 100. Geburtstag von Trainerlegende Dettmar Cramer: Der Trümmermann

Er war der Sisyphos des Fußballs, der Kampf gegen Gipfel füllte sein Herz aus. Vor 100 Jahren kam Dettmar Cramer auf die Welt, der große Pionier, Lehrer und Menschenfreund.

Apr 4, 2025 - 15:56
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Zum 100. Geburtstag von Trainerlegende Dettmar Cramer: Der Trümmermann

Wenn man zu ihm kam, in seinen Bungalow im bayrischen Reit im Winkl, dann stand er zur verabredeten Zeit schon am Gartentor. Als wäre er immer noch der Trainer, der einen Spieler zur Extraschicht erwartete. „Grüße Sie!“, rief er, freundlich und streng zugleich. „Wie geht es?“ Und man prüfte sich unweigerlich sofort, ob man denn auch gut genug vorbereitet sei für eine Einheit bei diesem Jahrhundertübungsleiter, der, obwohl bereits weit über 80, nun vor einem stand im ballonseidenen Trainingsanzug und in Turnschuhen, eine unsichtbare Trillerpfeife an einem Schnürchen um den Hals. „Dann wollen wir mal.“

Ein Interview im eigentlichen Sinne mit Dettmar Cramer zu führen, Frage, Antwort, Frage, Antwort, war schlicht unmöglich. Es war immer eine Lektion, die er einem erteilte. Er dozierte, illustrierte, fragte zurück, regte zum eigenen Reflektieren an. Es war ihm wichtig, dass man auch verstanden hatte, worum es ihm ging, und dass man nicht einfach nur nach Hause fuhr mit einem vollen Diktiergerät in der Tasche, die Tonspur abtippte und zum Nächsten überging. Man sollte etwas lernen, denn er war ja schließlich Fußballlehrer. „Anreiz“, so zitierte er einmal den spanischen Philosophen José Ortega y Gasset, „ist das Wort, das am meisten nach Leben schmeckt.“


...dann war man gänzlich aus der Zeit gefallen


Immer wieder zog er Fotoalben aus den endlosen Regalmetern hervor, die sein Arbeitszimmer durchzogen, Ordner, Lehrbücher, Biographien, und trug sie zu dem gekachelten Tisch, an dem man mit ihm saß und an dem aus den vereinbarten 90 Minuten Gespräch rasch drei Stunden wurden und manchmal ein halber Tag. Mitunter klingelte das Telefon, und er entschuldigte sich für ein paar Minuten. Man konnte dann zuhören, wie er mit Karl-Heinz Rummenigge telefonierte, mit Franz Beckenbauer oder Uli Hoeneß. „Sie sind alle meine Söhne“, sagte er anschließend. „Aber wo waren wir stehengeblieben?“

Wenn man am Ende eines solchen Nachmittags im Hause Cramer wieder nach draußen trat und die Chiemgauer Alpen grüßten wie in einem Heimatfilm, dann war man gänzlich aus der Zeit gefallen. Gut möglich, dass im Stadtzentrum, wo man in den Bus zurück nach München steigen wollte, Buben in Lederhosen den Sieg im Finale von Bern feiern würden. Dass Sepp Herberger noch lebte und der Fußball noch nicht zum von disneyhaftem Marketingkalkül korrumpierten Event verkommen war. Dass es immer noch nur um das ging, was Dettmar Cramer so wichtig war: um den Sport an sich.

Er baute den deutschen Fußball wieder auf

Dettmar Cramer, 1925 in Dortmund geboren, war wegen des Krieges eine aktive Karriere als Fußballer nicht vergönnt. 1942 wurde er Fallschirmjäger, sprang über dem Sudan ab, über Kreta, Minsk, Südfrankreich, über dem Ätna. „Die Mulis, die unsere Ausrüstung tragen sollten“, erzählte er, „sind alle krepiert. Wir nicht. Was mich am Leben erhielt, waren mein Wille, das Glück – und die vage Hoffnung, dass eines Tages der Ball wieder rollen würde.“

Im Winter 1946 kehrte er aus der Gefangenschaft zurück, malariakrank und mittellos, „der Wind pfiff mir durch die Backen“. Doch schon im April desselben Jahres wurde er Spielertrainer bei Teutonia Lippstadt – und 1949, mit gerade einmal 24 Jahren, Herbergers Assistent und der Trümmermann des deutschen Fußballs. Gemeinsam mit seinem Ziehvater baute er nach dem Krieg die deutsche Nationalmannschaft wieder auf, organisierte Spielbetrieb und Trainingslehre, holte die Versprengten in der legendären Sportschule Duisburg-Wedau zusammen.


Wenn man besser werden kann, ist gut nicht gut genug: Dieser Leitspruch Herbergers prägte Cramer. „Ich war getrieben“, sagte er. „Mir wurde schnell klar, dass man die Dinge im Fußball nie ein für alle Mal zu Ende bringen kann.“

Wir müssen uns Dettmar Cramer als glücklichen Menschen vorstellen. Als Sisyphos des Fußballs, dessen Kampf gegen Gipfel sein Herz ausfüllte. „Ich habe unermüdlich gearbeitet“, erinnerte er sich. „Morgens um halb sieben weckte ich die Spieler, abends um halb zehn brachte ich sie ins Bett. Spät abends habe ich mich daran gemacht, Lehrbücher zu verfassen. ‚Schreib es auf, Dettmar! Ich habe keine Zeit‘, hat Herberger gesagt. ‚Schreib es auf!‘ Bis in die Nacht habe ich getippt. Im Zweifingersystem! Ich hielt mich wach, indem ich literweise Cola trank.“

Neun Jahre nach dem Krieg wurde Deutschland Weltmeister. Cramer war stolz auf diesen Erfolg, das schon – aber die volkstümelnde Aufladung des Finales von Bern war ihm suspekt. „Wir sind wieder wer“, hatte DFB-Präsident Peco Bauwens verkündet. Cramer entgegnete später spöttisch: „Darf ich mit George Bernard Shaw antworten? Dass ich nicht lache! Schauen Sie auf die Bilder: In Fritz Walters und Sepp Herbergers Gesichtern sieht man keine Spur von Triumphgefühl.“ Es sei ein Sieg in einem Fußballspiel gewesen, nicht mehr, nicht weniger.



Ein Sieg, wie Cramer noch viele erringen sollte: In den über siebzig Ländern, in denen er als FIFA-Trainer fungierte, beim FC Bayern, mit dem er zwei Mal den Europapokal der Landesmeister gewann. Was ihm aber stets ebenso wichtig erschien wie der sportliche Erfolg, da war er ganz Turnvater Cramer, war die charakterliche Entwicklung seiner Schützlinge, die Herzensbildung.

„Trainer zu sein“, sagte er, „hat eine pädagogische Seite. Und das erstreckt sich aufs Private. Damit meine ich nicht den Zirkus aus Spielerfrauen und Beratern, den man heute kennt. Ich meine die Ursprünge des Einzelnen, die Verhältnisse, aus denen er stammt. Günter Netzer kam noch mit dem Fahrrad zum Training ins Leistungszentrum nach Duisburg – 38 Kilometer hin und 38 Kilometer zurück, vier Mal die Woche. Er hat besessen trainiert, auch wenn er heute gern das Gegenteil behauptet. Das muss man wissen, wenn man über ihn nachdenkt.“


Und natürlich hatte er Recht


Dettmar Cramer kannte immer die wahre Geschichte hinter der Überlieferung. Und er nahm es genau: Die Abschriften seiner Ausführungen, die man ihm zur Autorisierung zugeschickt hatte, sahen, wenn sie per Fax zurückkamen, aus wie die Klassenarbeit eines unterdurchschnittlichen Schülers, handschriftlich durchkorrigiert von Fußballlehrer Cramer, ergänzt um neue Passagen, die er mit der Maschine getippt hatte. Und natürlich hatte er Recht. Natürlich ließ man sich gern eine Lektion von ihm erteilen.