Verteidigung im Koalitionsvertrag: Langjährige Beschaffungsvorhaben, zunächst freiwilliger Wehrdienst, Pistorius dürfte bleiben

Der Koalitionsvertrag, auf den sich Union und SPD am (heutigen) Mittwoch verständigt haben, birgt im Bereich der Verteidigungspolitik wenig Überraschungen: beide Seiten stimmen in der Sicht auf steigende Verteidigungsausgaben ebenso überein wie in der Bereitschaft, die Beschaffungen für die Streitkräfte zu beschleunigen. Nicht ganz so zu erwarten war höchstens die Position zur Wehrpflicht, die praktisch vollständig der Haltung des bisherigen und vermutlich auch künftigen Verteidigungsministers Boris Pistorius (SPD) entspricht. Was Wehrpflicht und Wehrdienst angeht, ist die Formulierung im Koalitionsvertrag von

Apr 9, 2025 - 17:35
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Verteidigung im Koalitionsvertrag: Langjährige Beschaffungsvorhaben, zunächst freiwilliger Wehrdienst, Pistorius dürfte bleiben

Der Koalitionsvertrag, auf den sich Union und SPD am (heutigen) Mittwoch verständigt haben, birgt im Bereich der Verteidigungspolitik wenig Überraschungen: beide Seiten stimmen in der Sicht auf steigende Verteidigungsausgaben ebenso überein wie in der Bereitschaft, die Beschaffungen für die Streitkräfte zu beschleunigen. Nicht ganz so zu erwarten war höchstens die Position zur Wehrpflicht, die praktisch vollständig der Haltung des bisherigen und vermutlich auch künftigen Verteidigungsministers Boris Pistorius (SPD) entspricht.

Was Wehrpflicht und Wehrdienst angeht, ist die Formulierung im Koalitionsvertrag von Pistorius früheren Ankündigungen und auch vom Gesetzentwurf der früheren Regierung kaum zu  unterscheiden. Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert, heißt es im Vertragstext eine klare Absage an die Forderung vor allem der CSU nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht alten Stils. Die Orientierung am schwedischen Wehrdienstmodell hatte Pistorius ebenfalls im Sinn.

Für ihn wie für das Verteidigungsministerium dürfte angesichts der praktischen Aspekte aber ein anderer Punkt entscheidend gewesen sein: Wir werden noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für eine Wehrerfassung und Wehrüberwachung schaffen ist genau das, was dem Wehrressort bereits seit einem Jahr auf den Nägeln brennt und als Regelung praktisch in der Schublade liegt. Denn selbst bei einem unerwarteten Eintreten des Verteidigungsfalls, in dem die Wehrpflicht automatisch wieder in Kraft gesetzt würde, könnte die Bundeswehr aktuell mangels Daten sehr viele dann Wehrpflichtige gar nicht erst einberufen.

Beschleunigungen bei Ausgaben der Bundeswehr plant die Koalition nicht nur bei den Beschaffungen, sondern auch und gerade bei der Infrastruktur: Da sollen die Streitkräfte, vereinfacht gesagt, schneller bauen können. Und diese Beschleunigung soll, das ist ein neuer Punkt, nicht nur der Bundeswehr zugute kommen. Die Belange und die Infrastrukturmaßnahmen zur Gesamtverteidigung sind als überragendes öffentliches Interesse festzuschreiben und in der Umsetzung gegenüber anderen staatlichen Aufgaben zu priorisieren, heißt es im Vertrag. Damit werden, zumindest theoretisch, über die Streitkräfte hinaus schnellere Maßnahmen zum Beispiel im Zivilschutz möglich.

Eine Namensliste der künftigen Ministerinnen und Minister ist nicht Teil des Koalitionsvertrags – aber eine Zuordnung, welche Partei welches Ministerium bekommen soll. Und da die SPD weiterhin das Verteidigungsministerium besetzen soll (übrigens neben, unter anderem, dem Finanzministerium), dürfte alles auf eine weitere Amtszeit von Pistorius an der Spitze des Ressorts hinauslaufen.

Die entsprechenden Passagen aus dem Vertrag zum Nachlesen:

Verteidigungspolitik
Die NATO ist ein tragender Pfeiler der transatlantischen Partnerschaft und für die europäische Sicherheit unverzichtbar. Wir bekennen uns zur Stärkung des transatlantischen Bündnisses und zur fairen Lastenteilung. Wir halten an der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO fest. Sie ist integraler Baustein der glaubhaften Abschreckung durch das Bündnis. Wir setzen uns dafür ein, den europäischen Pfeiler der NATO mit Nachdruck fortzuentwickeln und die EU-NATO-Zusammenarbeit weiter aufzuwerten. Wegen seiner geografischen Lage in Europa soll Deutschland als zentrale Drehscheibe der NATO weiter ausgebaut werden. Auch die maritime Sicherheit in Nord- und Ostsee ist von Bedeutung.
Die europäische Zusammenarbeit in Rüstungsfragen muss dafür sorgen, dass die Ausstattung einfacher und standardisierter wird und Kosten- und Qualitätsvorteile durch gemeinsame Bestellungen entstehen („Simplification, Standardization und Scale“). Die dauerhaft in Litauen stationierte deutsche
Brigade ist unser zentraler Beitrag für Abschreckung und Verteidigung an der NATO-Ostflanke. Die Aufstellung, ihre Ausstattung und Finanzierung sowie ihr Personalbedarf haben Priorität.
Die Ausgaben für unsere Verteidigung müssen bis zum Ende der Legislaturperiode deutlich und stringent steigen. Die Höhe unserer Verteidigungsausgaben richtet sich nach den in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen. Der Zyklus einer Legislaturperiode ist für die Umsetzung weitreichender Beschaffungs- und Rüstungsprojekte regelmäßig zu kurz. Wir streben deswegen die Einführung eines mehrjährigen Investitionsplans für die Verteidigungsfähigkeit an, der im Einklang mit dem Deutschen Bundestag langfristige finanzielle Planungssicherheit gewährleistet, um damit den Bedarfen der Bundeswehr und den Verpflichtungen gegenüber der NATO sowie ihren Fähigkeitsanforderungen gerecht zu werden. Wir werden noch im ersten halben Jahr der Regierungsarbeit ein Planungs- und Beschaffungsbeschleunigungsgesetz für die Bundeswehr beschließen.
Es ist zwingend, dass wir die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte kurzfristig, nachdrücklich und nachhaltig erhöhen. Dies gilt zuallererst für die Truppenverbände und Kräfte, die bereits in die Verteidigungspläne der NATO eingemeldet sind und für ihren Auftrag voll ausgestattet werden müssen. Wir fokussieren uns dabei auf den militärischen Zweck und Nutzen zur Erfüllung des Kernauftrags und richten die militärischen und zivilen Strukturen der Bundeswehr darauf aus.
Soldatinnen und Soldaten verdienen unsere höchste Anerkennung. Wir verankern unsere Bundeswehr noch stärker im öffentlichen Leben und setzen uns für die Stärkung der Rolle der Jugendoffiziere ein, die an den Schulen einen wichtigen Bildungsauftrag erfüllen.
Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert. Für die neue Ausgestaltung dieses Dienstes sind die Kriterien Attraktivität, Sinnhaftigkeit und Beitrag zur Aufwuchsfähigkeit leitend. Wertschätzung durch anspruchsvollen Dienst, verbunden mit Qualifikationsmöglichkeiten, werden die Bereitschaft zum Wehrdienst dauerhaft steigern. Wir orientieren uns dabei am schwedischen Wehrdienstmodell. Wir werden noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für eine Wehrerfassung und Wehrüberwachung schaffen.
In allen personalrechtlichen Fragen muss die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Vordergrund stehen. Dem Faktor der individuellen Einsatzbereitschaft räumen wir deswegen besondere Bedeutung ein. Wir machen die Bundeswehr durch flexible Dienstzeit- und Laufbahnmodelle sowie in Fragen der
sozialen Fürsorge attraktiver. Das bestehende Arbeitszeitregime für die Bundeswehr passen wir dem veränderten Bedarf der Streitkräfte an. Wir wollen den Anteil der Frauen und von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Bundeswehr erhöhen.
Wir wollen die Reserve und den Heimatschutz weiter stärken, sie dem Auftrag entsprechend ausstatten und sie strukturell und gesellschaftlich besser verankern.
Wir setzen uns dafür ein, dass Hemmnisse, die beispielsweise Dual-Use-Forschung oder auch zivil-militärische Forschungskooperationen erschweren, abgebaut werden. Außerdem wollen wir die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands im Weltraum entschlossen und zügig ausbauen. Eine nationale
Weltraumsicherheitsstrategie werden wir im ersten Regierungsjahr veröffentlichen. Wir werden das Defizit, das es in Deutschland im Bereich der strategischen Sicherheitsforschung gibt, beseitigen und uns für deren Förderung im Sinne eines vernetzten Sicherheitsverständnisses einsetzen.
Das Planungs- und das Beschaffungswesen wird reformiert. Für einzelne Großprojekte, aber auch für Zukunftstechnologiebereiche, die einer hohen Innovationsdynamik unterliegen, werden wir neue Realisierungswege implementieren. In besonders kritischen Bereichen, wie Munition, werden wir verstärkt mit Vorhalteverträgen und Abnahmegarantien arbeiten. Die Verfügbarkeit von Schlüsselressourcen, wie zum Beispiel Sprengstoffen, wird abgesichert. Bereits erfolgte Zertifizierungen und Zulassungen von Partnernationen erkennen wir dort wo möglich an und verzichten auf eine erneute Durchführung. Wir werden das Verfahren der Parlamentsbeteiligung in Beschaffungsfragen
beschleunigen und empfehlen, die Höhe des Schwellenwertes für Beschaffungsvorlagen zu erhöhen.
Die bereits geschaffene Grundlagenentwicklung des Future Combat Air System sowie des Main Ground Combat System werden wir zügig gemeinsam fortsetzen.
Wir fördern verstärkt Zukunftstechnologien für die Bundeswehr und führen diese in die Streitkräfte ein. Dies gilt insbesondere für die Bereiche: Satellitensysteme, Künstliche Intelligenz, unbemannte (auch kampffähige) Systeme, Elektronischer Kampf, Cyber, Software Defined Defense und Cloud-Anwendungen sowie Hyperschallsysteme. Hierzu ist auch ein vereinfachter Zugang und vertiefter Austausch mit Forschungseinrichtungen, dem akademischen Umfeld, Start-Ups und Industrie notwendig.
Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie einschließlich des wehrtechnischen Mittelstandes ist durch langfristig planbare Beauftragungen und vereinfachten Kapitalzugang zu stärken. Wir schaffen hierzu resilientere Lieferketten. Damit maximieren wir die deutsche und europäische Handlungsautonomie. Bei Rüstungskäufen außerhalb des EU-Vergaberechts werden wir Offset-Möglichkeiten nutzen. Wenn die vollumfängliche
Gewährleistung der Sicherheits- und Verteidigungsinteressen Deutschlands durch Änderungen der Eigentums- und Anteilsverhältnisse an Schlüsselunternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie bedroht ist, werden wir auch strategische Beteiligungen des Bundes in Betracht
ziehen.
Wir richten unsere Rüstungsexporte stärker an unseren Interessen in der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik aus. Wir wollen eine strategisch ausgerichtete Rüstungsexportpolitik, welche der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, ihren ausländischen Partnern sowie ihren Kunden Verlässlichkeit gibt. Die Unterstützung von Rüstungsexporten über Government-to-Government-
Vereinbarungen bauen wir aus.
Exportkontrollgenehmigungen müssen rascher und koordinierter geprüft werden. Wir streben eine Harmonisierung der europäischen Rüstungsexportregeln an. Rüstungsexporte, bei denen ein erhebliches konkretes Risiko besteht, dass diese zur internen Repression oder in Verletzung des internationalen Rechts eingesetzt werden, lehnen wir grundsätzlich ab.
Die Aufwuchs- und Verteidigungsfähigkeit der Streitkräfte erfordern eine deutliche Steigerung der jährlichen Investitionen in militärische Infrastruktur. Um dies zu erreichen, werden wir das Genehmigungs- und Vergaberecht sowie die Beschaffung, den Schutz und die Widmung militärischer Flächen durch Verfahrensfreistellungen und durch mehr Eigenvollzugskompetenzen für die Bundeswehr vereinfachen. Haushaltsrechtliche Vereinfachungen werden wir in enger Absprache mit dem Bundestag prüfen. Für militärische Bauvorhaben vereinfachen wir die Bedarfsdefinition und
Genehmigung und schaffen mit einem Bundeswehrinfrastrukturbeschleunigungsgesetz
Ausnahmeregelungen im Bau-, Umwelt- und Vergaberecht sowie beim Schutz und der Widmung militärischer Flächen. Die Belange und die Infrastrukturmaßnahmen zur Gesamtverteidigung sind als überragendes öffentliches Interesse festzuschreiben und in der Umsetzung gegenüber anderen staatlichen Aufgaben zu priorisieren.
Die Bundeswehr und alle staatlichen sowie gesamtgesellschaftlichen Akteure müssen effektiv
zusammenarbeiten können, um Angriffe auf unser komplexes System schnell zu erkennen und gezielt und wirksam zu bekämpfen. Die Vorsorge- und Sicherstellungsgesetze werden wir vor diesem Hintergrund umfassend novellieren.
Um uns an die veränderte Sicherheitslage anzupassen, werden wir noch in diesem Jahr das Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst (MAD) umfassend novellieren. Mit einem Artikelgesetz Militärische Sicherheit wollen wir die bisherigen Verfahren bei Sicherheitsüberprüfung und Sabotageschutz
verbessern und erheblich beschleunigen.

(…)

Ressortverteilung
Die Ressortverteilung der Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD wird wie folgt festgelegt:
Die CDU stellt den Bundeskanzler.
Die SPD stellt den Stellvertreter des Bundeskanzlers gemäß Artikel 69 GG.
Die CDU stellt die Leitung folgender Ministerien:
(…)
• Auswärtiges Amt
(…)
Die SPD stellt die Leitung folgender Ministerien:
(…)
• Verteidigung
(…)
Die CSU stellt die Leitung folgender Ministerien:
• Innen
(…)

(Archivbild: Der absehbar nächste Bundeskanzler Friedrich Merz, l., im Gespräch mit dem bisherigen und absehbar nächsten Verteidigungsminister Boris Pistorius bei der Konstituierenden Sitzung des 21. Deutschen Bundestages in Berlin am 25.03.2025 – Florian Gärtner/photothek.de)