Üsküdar statt Silicon Valley! Was deutsche Händler vom türkischen Discount-Riesen A101 lernen können

Während sich manche europäischen Supermärkte noch an Click & Collect herantasten, steuert der größte Lebensmittel-Discounter vom Bosporus seine 13.000 Filialen bereits per KI. In ihrer ersten Supermarktblog-Kolumne liefert Oksana Lukyanenko, Ex-Wolt-Chefin und Expertin für digitalen Handel, Impulse aus einem unterschätzten Markt. Der Beitrag Üsküdar statt Silicon Valley! Was deutsche Händler vom türkischen Discount-Riesen A101 lernen können erschien zuerst auf Supermarktblog.

Apr 28, 2025 - 09:05
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Üsküdar statt Silicon Valley! Was deutsche Händler vom türkischen Discount-Riesen A101 lernen können
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Zugegeben: Wer an Supermarkt-Innovationen denkt, hat selten Istanbul auf dem Schirm. Silicon Valley, London, vielleicht noch Amsterdam. Aber Istanbul? Dabei lohnt sich der Blick in die Türkei nicht nur wegen des besseren Wetters und des guten Essens, sondern vor allem, weil dort im Einzelhandel still und heimlich eine Innovation nach der anderen umgesetzt wird.

Ich spreche aus Erfahrung: Ich habe über zehn Jahre in der Türkei gelebt, für den Lieferdienstpionier Yemeksepeti gearbeitet und spreche fließend Türkisch. Seit einigen Jahren lebe ich in Berlin und habe hier Wolt mit aufgebaut – die App für (fast) alles. Kurz gesagt: Ich beschäftige mich seit langer Zeit fast ausschließlich mit der Frage, wie sich der lokale Einzelhandel digitalisieren lässt.

Dabei ist mir wichtig: Das hier soll keine weitere „Deutschland-ist-schlecht“-Draufhau-Kolumne werden. Deutsche Lebensmittelhändler machen vieles richtig. Der hiesige Einzelhandel setzt weltweit Maßstäbe in Bereichen wie Nachhaltigkeit, Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz – Errungenschaften, auf die wir stolz sein können. Vielmehr möchte ich zur Ermutigung beitragen, den Blick dorthin zu richten, wo auf Branchenevents sonst kaum jemand hinschaut – in die Türkei.

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Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: A101, einer der größten Discounter des Landes. Mehr als 13.000 Filialen, von Istanbul bis in die entlegensten Provinzen – ein Laden an fast jeder Ecke. A101 war der erste türkische Discounter, der einen eigenen Online-Shop startete: A101 Kapıda, übersetzt etwa „A101 bis vor die Tür“. Ein vermeintlich unmögliches Unterfangen: niedrige Preise und funktionierende Lieferlogistik unter einen Hut zu bringen? Es gelang ihnen spielerisch. Die gesamte Branche in der Türkei schaute genau hin. Zeit, dass wir es im Ausland auch tun.

Und A101 setzt dabei nicht auf Bauchgefühl oder Excel-Tabellen, sondern auf ein KI-gesteuertes System, das täglich über 100 Millionen Datensätze verarbeitet und automatisiert die passenden Nachbestellungen für jede Filiale generiert. Das Ergebnis: 98 Prozent aller Nachbestellungen laufen automatisiert, die Warenverfügbarkeit hat sich messbar verbessert und die Out-of-Stock-Raten wurden halbiert.

Über A101

A101 gehört mehrheitlich zur Turgut Aydın Holding und ist eine der größten Discount-Supermarktketten der Türkei. Das Unternehmen betreibt über 13.000 Filialen in allen 81 Provinzen des Landes und erreicht damit nahezu flächendeckend die türkische Bevölkerung. A101 bedient mit seinem dichten Filialnetz und günstigen Preisen täglich Millionen Kund:innen; die Haushaltsdurchdringung liegt bei über 99 Prozent. Eine der größten Stärken von A101 ist die landesweite Präsenz sowie die konsequente Ausrichtung auf günstige Preise.

Während auf europäischen Lebensmittelkongressen noch Click-&-Collect als „nächster Schritt in die digitale Zukunft“ präsentiert wird, hat A101 längst den übernächsten gemacht: tägliche, skalierbare Entscheidungsautomatisierung über das gesamte Filialnetz – nicht als Pilotprojekt, sondern als gelebter Alltag. Und das, obwohl Arbeitskraft in der Türkei deutlich günstiger zu haben ist und man sich manuelle Lösungen locker hätte leisten können.


Woran liegt das? Meiner Meinung nach greifen in der Türkei fünf Faktoren besonders gut ineinander.

1. Mehr Wettbewerb, mehr Geschwindigkeit

Die Dynamik im türkischen Einzelhandel ist enorm. Ende 2021 lag der E-Commerce-Anteil am gesamten Einzelhandel bei 20,4  Prozent – fast doppelt so hoch wie zu Beginn der Pandemie. Dieser Wettbewerbsdruck sorgt für Tempo: Pilotprojekte werden getestet, verworfen oder skaliert. Statt Risikoaversion herrscht Machbarkeit.

2. Jünger, vernetzter, App-erfahren

Die Türkei hat eine junge Bevölkerung, das Medianalter liegt bei 32 Jahren, die Internet-Penetration bei über 92 Prozent. Dazu eine urbane Mittelschicht, die den Supermarkt längst in der Hosentasche trägt: Bestellen, bezahlen, punkten, bewerten – alles ganz selbstverständlich per App. Und das ist nicht die Ausnahme, sondern längst die Regel.

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In Deutschland dagegen liegt das Medianalter bei knapp 45 Jahren mit einer Käufer:innen-Generation, die den digitalen Einkauf erst noch lernen muss, statt mit ihm aufgewachsen zu sein. Für viele ist der Gang in den Supermarkt noch immer vertrauter, weil Frische nicht geklickt, sondern gesehen, gerochen und geprüft werden muss.

3. Infrastruktur mit Rückenwind

Obwohl der 5G-Rollout für schnellere Datenübertragungen in der Türkei noch nicht flächendeckend abgeschlossen ist, herrscht eine klare Mobile-first-Mentalität, unterstützt durch Fin-Techs wie Papara oder Ininal, die tief in den Alltag integriert sind. Supermärkte wie Migros haben längst Super-Apps entwickelt, die Payment, Treueprogramme, digitale Bons, Buy Now – Pay Later, Geldtransfers und sogar Versicherungen in einer einzigen Anwendung bündeln. Die App MoneyPay wickelte 2024 über 46 Millionen Transaktionen mit einem Umsatz von 20,4 Mrd. Lira ab, komplett mobil.

4. Start-up-Markt mit Hunger

Scale-Ups wie Getir und Trendyol haben gezeigt, wie sich mit Risikokapital und klarem Fokus ganze Branchen neu denken lassen. Dark Stores, Instant Delivery, App-first-Denkansätze – keine Ideen auf PowerPoint, sondern reale Angebote. Inzwischen sind nahezu alle großen türkischen Lebensmittelhändler auf digitalen Plattformen vertreten. Viele betreiben eigene Apps mit integriertem Loyalty-, Payment- und Lieferangebot. In der Türkei nicht im Liefergeschäft aktiv zu sein? Schlicht keine Option mehr.

5. Weniger Strukturballast, mehr Entscheidungsfreiheit

In der Türkei werden Entscheidungen im Handel meist zentral getroffen. Digitale Lösungen können dadurch zügig und flächendeckend ausgerollt werden. Das spart Zeit und Nerven, insbesondere macht es den Markt besonders anpassungsfähig. Und das ist bemerkenswert in einem Land, das mit seinen 81 Provinzen und fast 800.000 Quadratkilometern Fläche alles andere als klein ist.

Und jetzt?

Nein, die Türkei ist natürlich nicht das Silicon Valley des Handels. Aber sie zeigt, wie sich Digitalisierung im Alltag pragmatisch, skalierbar und wirkungsvoll umsetzen lässt. A101 ist kein sexy Unicorn – sondern ein Beispiel dafür, wie man operative Exzellenz digital absichert: jeden Tag, über 13.000 mal, mit einem Sortiment von gerade einmal 1.800 bis 2.500 Artikeln pro Filiale.

A101 hat keine Hochglanz-Supermärkte – muss es auch nicht. Die Filialen sind klein, praktisch, unspektakulär. Doch die Magie passiert in der App: Dort finden sich Flash-Sales für Elektronik, exklusive Online-Deals und personalisierte Angebote. A101 kann schlichtweg Digital. So folgen dem Discounter auf Instagram über 14 Millionen Menschen, im weltweiten Vergleich gehört A101 damit zu den Top 5 Handelsmarken auf Instagram.

Fazit: Einfach mal machen!

Was es dafür braucht? Kein Forschungslabor. Kein Strategiepapier. Sondern den Mut, Dinge auszuprobieren, pragmatisch zu bleiben und Geschwindigkeit über Perfektion zu stellen. Jeder Markt braucht eigene Antworten, aber manchmal lohnt es sich, über die offensichtlichen Innovationszentren hinauszuschauen. Fortschritt muss nicht immer futuristisch aussehen.

Manchmal zeigt er sich einfach in einem Discounter, der täglich 13.000 mal effizienter bestellt als die Konkurrenz.

Über die Autorin

Oksana Lukyanenko war bis März 2025 Deutschland-Chefin des Lieferdienstes Wolt, den sie von der Restaurant-Bestellplattform zum Allround-Lieferdienst für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs weiterentwickelt hat. Zuvor war sie u.a. als VP International Markets bei Delivery Hero tätig und verantwortete als International Expansion Manager die Entwicklung des türkischen Delivery-Pioniers Yemeksepeti. Für das Supermarktblog analysiert sie aktuelle Entwicklungen im europäischen Lebensmitteleinzelhandel. Kontakt: LinkedIn.

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