Quo Vadis, Kernenergie (2) – Entwicklungen in Deutschland und anderswo [Quo Vadis]
Wie Neil Young zu Beginn einer Aufnahme von Southern Man einst sagte: “This is usually a really long song, folks, and we’re gonna do it really slow tonight.”, so wird das hier ein wirklich langer Artikel werden und wir uns dem Thema ganz langsam nähern. In meiner unmaßgeblichen Meinung vertrete ich zwei Thesen: 1. Die…
![Quo Vadis, Kernenergie (2) – Entwicklungen in Deutschland und anderswo [Quo Vadis]](https://s0.wp.com/i/blank.jpg)
Wie Neil Young zu Beginn einer Aufnahme von Southern Man einst sagte: “This is usually a really long song, folks, and we’re gonna do it really slow tonight.”, so wird das hier ein wirklich langer Artikel werden und wir uns dem Thema ganz langsam nähern.
In meiner unmaßgeblichen Meinung vertrete ich zwei Thesen:
1. Die Kernenergie in Deutschland ist auf absehbare Zeit, wenn nicht entgültig, Geschichte und es gibt keinen einfachen Weg zurück.
2. Die Kernenergie hat allgemein in liberalisierten Energiemärkten keine Chance und wird nur dort ihre Nische finden, wo der Staat die Kosten trägt.
Das kann man gut oder schlecht finden, aber ich bin der Meinung, dass die Aussagen auf der Sachebene wahr sind. In den letzten Wochen, während des Wahlkampfs, ist das Thema wieder hochgekocht und breit besprochen worden. Das ist kein besonders neuer Prozess. In Deutschland werden alle paar Jahre die Kernenergie, der Ausstieg und ein möglicher Wiedereinstieg diskutiert. Und weil dem so ist und dabei selten die nationale wie internationale Situation gut dargestellt wird, möchte ich auf ein paar besonders wichtige Punkte ein kleines Schlaglicht werfen.
Genehmigungsrecht
Deutsche Kernkraftwerke hatten eine Betriebsgenehmigung nach Atomgesetz. Diese Genehmigung wurde im jeweiligen Jahr ihrer Inbetriebnahme erteilt. Diese Betriebsgenehmigungen sind erloschen. Genehmigungen zum Rückbau sind an ihre Stelle getreten. Das bedeutet, dass die Betreiber nicht ehemalige Betreiber sind, sondern nach wie vor Betreiber. Bis zur Außerbetriebnahme hatten sie Kraftwerke betrieben, jetzt betreiben sie Anlagen in der Nachbetriebsphase bzw. im Rückbau. Was wie Verwaltungskauderwelsch kling, hat praktische Auswirkungen, z.B. fällt ohne Betrieb ein großer Teil der Prozessrisiken weg, dafür kommt durch die Eigenschaft der Baustelle ein Schwung Arbeitsrisiken dazu. Es ändern sich Berichts- und Aufsichtspflichten, etc und die Berufsgenossenschaft erhebt andere Gebühren für die Unfallversicherung.
Aktuell verbietet das Atomgesetz die Neuerteilung von Betriebsgenehmigungen, aber das wäre mit einer einfachen Gesetzesänderung behoben. Der bei weitem größere Aufwand entsteht durch 30 Jahre Entwicklung von Normen und Regularien, die man jetzt in den Kalkül ziehen müsste. Damit man vom Zustand Rückbau in den Zustand Betrieb wechseln dürfte, müsste die erloschene Betriebsgenehmigung aus den 1980er Jahren (ältere Kernkraftwerke sind realistischerweise nicht mehr so zu ertüchtigen) neu beantragt werden.
Das macht eine Neubetrachtung der Anlage nach aktuellem Recht und aktueller Normenlage nötig. Als das letzte (West-)Deutsche Kernkraftwerk Neckarwestheim-2 1989 in Betrieb ging, war z.B. die Druckgeräteverordnung noch unbeeinflusst von Europäischem Recht, denn es gab noch keine Richtlinie 97/23/EG (erste Version der Druckgeräterichtline). In dieser Rechtsnorm wird alles mögliche geregelt, was die Auslegung von Druckgeräten und den Nachweis der Konformität angeht. Sie enthält jede Menge Tabellen, Diagramme, anzuwendende Berechnungsverfahren, etc.
Es gibt bestimmte Fälle, in denen Bestandsschutz gewährt wird, z.B. sind Anlagen mit bestehender Betriebsgenehmigung vor bestimmten Anpassungen geschützt, wenn sich seither gegenüber dem Zustand bei Genehmigung keine wesentlichen Änderungen ergeben haben. Das gilt nicht mehr automatisch, wenn die Betriebsgenehmigung erlischt. Damit erlischt in der Regel auch der Bestandsschutz. Die Festigkeit drucktragender Teile, die nach einem Verfahren und geltenden Regeln von 1989 berechnet wurden, kann heute evtl. nicht mehr oder nur mit erhöhtem Aufwand nachgewiesen werden. Für andere Teile gab es damals noch gar keine Anforderung und je nach Geometrie ist es schwierig bis unmöglich überhaupt den Nachweis zu führen. Und da reden wir nicht mal notwendigerweise über den nuklearen Teil. Auch ein Kernkraftwerk hat jede Menge Teilanlagen, die notwendig zum Betrieb sind, aber nicht zum Reaktorsystem selbst gehören.
Das klingt vielleicht nach Regulierungswut und übertriebener Risikoaversion, aber die Regeln kommen nicht von ungefähr. Zu fast jeder gibt es einen Unfall mit Personenschaden, der durch ihre Nichterfüllung verursacht wurde oder ein Unfall hat das Risiko überhaupt erst aufgedeckt. Sicherheitsregeln sind mit Blut geschrieben und wenn wir auch manchmal darüber meckern mögen, dann ist, glaube ich, den meisten von uns schon bewusst, dass wir heute sehr viel sicherer und dadurch auch effizienter Anlagen betreiben können als noch vor 30 Jahren. Die Zeiten sind vorbei, zu denen schwere Industrieunfälle halt irgendwie dazugehören. Strenge Regeln haben damit viel zu tun. Was früher richtig war, kann heute durchaus falsch sein. Wir sind ja Techniker, wir irren uns empor und zumindest in meinem Metier bauen wir trotz stetig steigender Anforderungen produktive Anlagen, die mit Gewinn betrieben werden können.
Je nachdem wie die Arbeit unserer Altvorderen war, haben sie uns Anlagen mit oder weniger Marge in der Auslegung sicherheitsrelevanter Teile hinterlassen. Auch vor 50 Jahren hat nicht jeder Ingenieur den Behälter ‘einfach ein bisschen dicker’ ausgelegt. In meiner beruflichen Praxis habe ich sogar eher das Gegenteil gesehen. Ich hatte selbst mit der einen oder anderen Altanlage zu tun, die man heute ‘dicker’ bauen würde als sie damals gebaut wurde, d.h. höhere Druckstufe, mehr Instrumentierung, diversere und robustere Sicherheitseinrichtungen, etc. Das Problem ist halt: Ohne neue Prüfung kann man sich nicht darauf verlassen, dass man an allen Stellen alle geltenden Regeln einhält und dann gilt eventuell sogar, was ich oben geschrieben habe, dass aufgrund anderer Anforderungen möglicherweise heute Anlagen gar nicht mehr genehmigungsfähig wären, die es damals waren.
Für die Frage nach dem Wiederanfahren der deutschen Kernkraftwerke heißt das, dass zunächst all diese und noch weitere (z.B. baurechtliche wie technische baustatische) Fragen zufriedenstellend beantwortet (d.h. mit Rechnungen, Prüfungen und Tests nachgewiesen) werden müssen, bevor man überhaupt daran denken kann, die Betriebsgenehmigung neu zu erteilen. Eingedenk obiger Erwägungen ist nicht sicher, ob die Anlagen heute überhaupt noch genehmigungsfähig wären. Die Betriebsgenehmigung zu verlieren ist für eine 30 Jahre alte Anlage wie ein Kreislaufstillstand. Unter guten Bedingungen und mit viel Einsatz gibt es eine Chance, sie wieder in Betrieb zu nehmen, aber in der Mehrzahl der Fälle, wird es nicht klappen. Und wie im richtigen Leben wird man – in diesem Fall der Betreiber – sich entscheiden müssen, ob das Outcome die Mühe lohnt.
Aktiver Rückbau
Alle deutschen Kernkraftwerke befinden sich aktiv im Rückbau und kritisches Equipment wurde bereits demontiert. Damit haben wir schon den Schluss zum ersten Punkt: egal wie man’s dreht und wendet und wie viel in den Jahren vorher noch in sicherheitsgerichtete Technik investiert worden sein mag, mit dem aktiven Rückbau hat man die Anlagen wesentlich verändert und damit die Sphäre des Bestandsschutzes verlassen. Eine komplette Neubewertung nach aktuellen Recht und aktuellen Normen ist praktisch nicht zu vermeiden. Hypothetisch wäre es denkbar, dass man sich zunächst auf besonders kritische Teile beschränkt, in der Hoffnung, dass man damit schon genügend gut die Betriebssicherheit nachweisen kann, aber in der Praxis haben solche Reviews die Tendenz zur Eskalation: Untersucht man ein Teil, wirft man Fragen zu drei anderen auf. Untersucht man diese, gibt es neue Fragen zu Teil 1. Eh man sich versieht, ist man bei Grundsatzdiskussionen und aus der Nachbetrachtung wird de facto ein Clean Sheet Review.
Der Rückbau an sich macht aber ein Wiederanfahren schon fraglich. Laut Jörg Michels, dem Vorstandsvorsitzenden von EnBW und Markus Krebber von RWE und Guido Knott von PreussenElektra sind die abgestellten Kernkraftwerke alle schon so weit rückgebaut, dass sie nicht ohne umfangreiche Neuinstallation wieder angefahren werden können. Das sagt nichts darüber aus, wie die drei Männer den Kernenergieausstieg insgesamt bewerten – während Michels und Krebber sich agnostisch äußern, macht Knott aus seiner Überzeugung, dass er ihn für falsch hält, keinen Hehl. Es sind einfach die nüchternen Feststellungen von Geschäftsleuten, die mit Erzeugung und Vertrieb elektrischer Energie Geld verdienen, bezogen auf ihre eignen Anlagen.
Je nachdem was bereits demontiert wurde, dauert die Beschaffung lang oder das Equipment ist so groß und sperrig, dass es zwar innerhalb des Sicherheitsbehälters demontiert werden, aber nicht in einem Stück in diesen eingebracht werden kann. Lösen lässt sich prinzipiell beides. Lange Lieferzeit sind erst mal nur ein organisatorisches Problem. Dauert’s halt länger. Ja mei. Ein größeres Problem sind Abmessungen. Auch das ist lösbar, indem man das Equipment in kleinere Einheiten teilt, sofern möglich oder – Die heilige Jungfrau bewahr uns davor – das Reaktorgebäude und den Sicherheitsbehälter eröffnet, aber auch das zieht einen Rattenschwanz an Problemen nach sich. Machen wir ein einfaches Beispiel (sinngemäß übertragen aus der Erfahrung mit gekammerten Chemieanlagen):
Angenommen wir haben ein Stück Rohrleitung. Das muss nicht mal eine sicherheitsrelevante Rohrleitung sein, nehmen wir ruhig ein Stück Otto-Normal-Stahlrohr nach EN 10220 an. Diese Rohrleitung wurde irgendwann um 1985 eingebaut, bevor der Sicherheitsbehälter geschlossen wurde. Die Montage war damals kein Problem und die Demontage ist heute kein Problem; man kann sie ja einfach zerschneiden. Jetzt will man sie doch wieder montieren, weil man sie für den Weiterbetrieb braucht. Kein Problem, denkt man und zerlegt sie in einzelne Segmente, die durch irgendeine Art der Verbindung zusammengefügt werden. Dann schaut man in die zugrunde liegende Norm wie schwer das Rohr für die Berechnung anzunehmen ist und findet, dass man alle 2 Meter einen Halter braucht. Dazu muss man den Stahlbau anpassen, auf dem das Rohr liegt. Also gibt man seinem 3D-Modellplaner den Auftrag, das mal darzustellen. Der Fragt seinen Bauplaner wegen der Geometrie des Stahlbaus an. Der schaut sich die Massen an, konsultiert seine aktuelle EN 1090 und was er sonst noch braucht und legt den Stahlbau entsprechend aus. Dabei fällt ihm auf, dass ja nicht nur dieses Rohr, sondern auch noch Kabeltrassen über denselben Stahlbau laufen. Er fragt seinen PLT-Planer und der sagt ihm, dass eine davon heute für Funktionserhalt nach DIN 4102-12 ausgelegt sein muss. Das heißt zugelassenes Kabelträgersystem mit definierten Höchstspannweiten und wenn alles fertig ist, muss genügend Platz sein, damit um die ganze Trasse noch ein Kasten aus Promat gebaut werden kann. Dazu müssen zwei weitere Rohrleitungen verschoben werden, denn eine Kabeltrasse muss mindestens einseitig erreichbar sein, aber dazu ist auf dem neuen Stahlbau noch kein Platz vorgesehen, also noch mal planen, dann zurück zum 3D-Planer, dann zum Rohrleitungsplaner, PLT-Planer, etc. etc.. Soweit ist das ein ganz normaler iterativer Prozess, der zur Planung einer Anlage gehört.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass es kein Neubau ist. Das umbaute und damit zur Verfügung stehende Volumen ist gegeben, also kann man vielleicht gar nicht mehr Stahl einbauen (Dass der Stahlbau ja auch kleinteilig genug sein muss haben wir noch gar nicht berücksichtigt). Der Untergrund muss tragfähig sein (und ist vielleicht auch noch eine WHG-Fläche, in die man nicht einfach bohren darf), der Betonbau des Bestands darf nicht dem neuen Stahlbau im Weg sein, die Durchbrüche für Rohrleitungen und Kabel in den Wänden müssen immer noch erreichbar sein und so weiter. Jede Menge Kleinigkeiten und Unwägbarkeiten. Und jedes Mal die bange Frage, ob die neu ausgelegten Bauteile sich zusammenfügen oder die baulichen Gegebenheiten einen Strich durch die Rechnung ziehen. Die Radikallösung, den Beton abzustemmen und ein Loch in den Sicherheitsbehälter zu schneiden schwebt schnell im Raum und ist man einmal so weit und lässt es kalkulieren und guckt dann aufs Preisschild, dann wird die Kosten/Nutzen-Relation schnell ziemlich düster.
Der Neubau einer Anlage ist nicht einfach. In keiner Branche. Wär’s einfach, könnt’s jeder. Eine Altanlage in allen Belangen auf Stand der Technik zu bringen, damit eine Jahrzehnte alte, erloschene Betriebsgenehmigung durch eine neue ersetzt werden kann, ist nicht viel weniger aufwändig.
Langfristige Planung
Die Hindernisse, die sich aus Genehmigungsrecht und Rückbau ergeben, lassen sich prinzipiell lösen, wenn man genügend Geld drauf wirft. Dem Geld, das sie ausgeben, stellen die Betreiber die möglichen Erlöse gegenüber. Die erwartbare Laufzeit spielt dafür eine große Rolle und dazu muss der Betreiber mangels Alternativen zwangsläufig die firmeneigene Glaskugel konsultieren.
Die deutschen Kernkraftwerke waren bei Außerbetriebnahme im Mittel etwa 34 Jahre in Betrieb, mit kleinen Abweichungen nach oben und unten. Weltweit geht der regulatorische Trend hin zu Laufzeitverlängerungen mit einem Mittel von 60 Jahren. Das ist viel Zeit, in der aufwändige Umbauten und Genehmigungsprozesse möglicherweise hohen Gewinn versprechen. Allerdings sind de facto bisher kaum Kernkraftwerke über 50 Jahre alt geworden und alle bis auf die Designs, deren Baubeginn ab Mitte der 2000er liegt, wurden noch für angedachte Laufzeiten von 40 Jahren gebaut. Das war damals eben die übliche Laufzeit eines großen Kraftwerksblocks. Die erste Frage, die sich die Betreiber vor jeder Maßnahme zum Weiterbetrieb wird stellen müssen lautet: “Bin ich mir sicher, dass die Substanz gut genug und der gesellschaftliche Rückhalt groß genug ist, um den wirtschaftlichen Betrieb so lange aufrechtzuhalten, dass die Maßnahme sich rechnet?”
Beträgt der Zeithorizont einige Jahre, ist das einigermaßen gut abschätzbar. Sind es Jahrzehnte, wird es schon schwieriger. Gut und schön, wenn die Betriebsgenehmigung 60 Jahre läuft und der TÜV bescheinigt, dass sicherheitstechnisch alles in Ordnung ist, aber wenn die Anlage schon mit 50 an so vielen Stellen erneuert werden muss, dass die Investitionen den erwartbaren Gewinn auffressen, nutzt sie nicht viel. Kernkraftwerke in liberalisierten Energiemärkten werden mit Gewinnerwartung betrieben und die Betreiber müssen Gewinn erwirtschaften, um zu leben.
Die Antwort mag lauten “Ja”, wie beim Kernkraftwerk Beznau in der Schweiz, das Chancen hat, dienstälteste Anlage der Welt zu werden. Sie mag aber auch lauten “Nein”, wie beim Kernkraftwerk Mühleberg in der Schweiz, das jünger war als die beiden Blöcke von Beznau, als es außer Betrieb genommen wurde. Ich wiederhole mich: Auch vor 50 Jahren haben Ingenieure nicht immer für die Ewigkeit gebaut und wie robust die Anlage wirklich ist, weiss man erst nach Jahrzehnten. Ein ehemaliger Kollege von mir, Montagemeister, dessen fachliche Expertise ich sehr schätze, pflegt zu sagen: Nur die Anlage kennt die Wahrheit und Du weisst noch gar nicht, was die sich alles ausdenkt.
Deutsche Kernkraftwerke waren zum Glück sehr robust, gehen wir also ruhig davon aus, dass mindestens die Vor-Kovois und Konvois genügend Fleisch am Knochen haben, um die Sippe satt zu machen. Dann stellt sich gleich die nächste Frage: “Gibt es Alternativen mit besserem Kosten/Nutzen-Verhältnis und/oder weniger wirtschaftlichem, technischem, regulatorischem, legislativem Risiko?” Das ist die Frage nach den Opportunitätskosten, also den virtuellen Kosten, in Form entgangenen Gewinns infolge suboptimaler Investitionen, die man als Unternehmer betrachten muss. Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, von denen alle dem Betreiber einer Anlage Gewinn versprechen, wird er sich für eine mit gutem Kosten/Nutzen-Verhältnis und geringem wirtschaftlichen Risiko entscheiden. Bei beidem schneiden im Rückbau befindliche Kernkraftwerke mit erloschener Betriebsgenehmigung nicht gut ab.
Aber auch wenn das Kosten/Nutzen-Verhältnis gut erscheint, bleibt die Frage nach dem gesellschaftlichen Rückhalt und damit nachgelagert dem politische Rahmen um die Kernenergie. Beides hängt erfahrungsgemäß ganz eng mit aktuellen Ereignissen zusammen. Die kommen noch mal oben auf die technischen und regulatorischen und organisatorischen Probleme drauf. Die Frage selbst schneide ich hier im Einzelnen gar nicht groß an, weil die Antwort zu unwägbar ist und ich die Vorhersage, ob in der Zukunft ein breites gesellschaftliches Bündnis sich eindeutig für die Kernenergie aussprechen und diese Entscheidung jahrzehntelang nicht ändern wird, nur mit ganz großen Fragezeichen machen würde.
Ein gutes Beispiel dafür ist Italien. Unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl hat sich die italienische Bevölkerung in einem Referendum 1987 gegen die Kernenergie entschieden. In den 2000er Jahren stieg die Zustimmung wieder. 2011 wurde ein weiteres Referendum angesetzt, in dem sich die Bevölkerung vermutlich für die Kernenergie entschieden hätte, wäre nicht die Katastrophe von Fukushima-Daiichi dazwischen gekommen. Seit den 2020ern steigt die Zustimmung wieder und die italienische Regierung prüft, wie man den rechtlichen Rahmen für die Kernenergienutzung schaffen kann, also würde die Tür sich vielleicht wieder öffnen, zumindest prinzipiell. Eingedenk der langen Bauzeit von Kernkraftwerken, würden aber auch im besten Fall rund 2 Jahrzehnte vergehen, bis die erste neue Anlage steht und wer weiss schon, was in 20 Jahren sein wird.
Betrachtet man den ganzen Zeitraum von 1987 bis heute, kann man sich vorstellen, dass unter diesen Bedingungen private Unternehmen sich nur mit gewaltigen Anreizen zum Betreib von Kernkraftwerken bewegen lassen. Und das bringt uns zu der Frage: Wenn das Wiederanfahren mit solch hohen Hürden belegt ist, wie sieht es dann mit Neubau aus?
Neubau9
Wer über den Neubau in Deutschland redet tut gut daran, den Blick in ähnlich strukturierte Energiemärkte zu werfen.
In den letzten 20 Jahren wurde in Westeuropa mit dem Bau von vier Kernreaktoren begonnen: Olkiluoto-3 in Finnland in 2005, Flamanville-3 in Frankreich in 2012 und zwei Einheiten Hinkley Point C in Großbritannien in 2018/19. Zwei weitere Reaktoren am Standort Sizewell C in Großbritannien sind so weit, dass sie in Bau gehen können, sobald die finale Investitionsentscheidung getroffen wurde (d.h. die Site wurde vorbereitet, die Baustelle teilweise eingerichtet und die Kontraktoren stehen Gewehr bei Fuß). Diese wird für 2025 erwartet. Es sind alles Druckwasserreaktoren vom Typ EPR, dem zurzeit leistungsstärksten Kernreaktor-Typ mit einer Nettoleistung um 1.600 MW.
Als Flamanville-3 genehmigt wurde, ging man von ca. 3,3 Milliarden € Kosten und einer Bauzeit von 5-6 Jahren aus. Für Olkiluoto-3 nahm man ähnliche Zahlen an. Geworden sind es am Ende mindestens (Ich hab nur Zahlen von vor Inbetriebnahme gefunden) 13 bzw. 11 Milliarden, gedauert hat es 17 bzw. 18 Jahre. Das sind nur die Overnight-Kosten für den Bau. Eine Rückstellung für den späteren Rückbau und vor allem Finanzierungskosten kommen on top. Bei solchen Projekten sind die oft der Kicker. Die hohen Gesamtsummen verlangen nach langen Abschreibungszeiträumen, damit der Cashflow der Anlage in jedem Jahr positiv bleibt.
Aber auch das ist nicht alles. Unter allen Nebenbedingungen erwartet der französische Rechnungshof in einem Bericht ab Seite 27ff Gesamtkosten von etwas unter 24 Milliarden € in Preisen von 2023. Erwartbar sind damit für Flamanville-3 in Preisen von 2023 ca. 120-170 €/MWh Stromgestehungskosten unter Idealbedingungen (> 85 % Auslastung -> 4-7 % Rendite). Gleichzeitig geben die französischen Beamten zu bedenken, dass in der Geschichte von EDF eher 75 % Auslastung realistisch waren und bei einer Rendite von 4 % ein Strompreis von 138 €/MWh nötig wäre. Im Frühjahr 2024 beträgt der durchschnittliche Börsenpreis an der EEX, gemittelt über einen Tag, ca. 80 €/MWh. Langfristige Verträge, die nicht an der Börse ausgehandelt werden, liegen typischerweise darunter. Außerdem erscheint mir fraglich, ob das Kraftwerk ein Gutteil seiner angedachten 60 Jahre Laufzeit so arbeiten wird, da sich das Marktumfeld so schnell wandelt. mehr dazu weiter unten). Diese Zahlen miteinander zu verheiraten überlasse ich Euch.
Zu Olkiluoto-3 habe ich keine so detaillierte Aufschlüsselung gefunden, wie sie der französische Rechnungshof abgibt, aber bis zum Beweis des Gegenteils tendiere ich dazu, dass für ähnliche Anlagen desselben Bauherrn unter Europäischem Recht auch ähnliche Kostenkalkulationen gelten. Es sieht mau aus, in Finnland und Frankreich. Die Anlagen laufen und stellen CO2-arme Energie bereit, wunderbar. Aber ein Geschäft waren sie nicht. Und das sich verändernde Marktumfeld macht es fraglich, ob Kernkraftwerke in der Zukunft ein Geschäft sein können.
Allerdings enthält der Bericht ein interessantes Detail zu den beiden in China gebauten EPR Taishan-1 und -2. Auf Seite 34 kann man lesen, dass der für die beiden Anlagen festgelegte Strompreis für je 7.500 Stunden pro Jahr 435 RMB pro MW beträgt, das sind zurzeit etwa 55 €. Das ist etwa der durchschnittliche chinesische Industriestrompreis, wie von der staatliche Kommission für Entwicklung und Reform festgesetzt und nur ganz zögerlich Marktmechanismen unterworfen. Auch in China, wo die internen Märkte nun wirklich nicht gerade liberalisiert sind, ist es anscheinend nötig, die Einspeisevergütung bis zur Grenze des staatlich festgesetzten zu erhöhen, wenn man ein Kernkraftwerk gebaut haben will. Bemerkenswert. Aber zurück nach Europa.
Als das Projekt Hinkley Point C in 2013 genehmigt wurde, sollte das Kraftwerk mit beiden Reaktoren ca. 18 Milliarden Pfund bzw. zum damaligen Wechselkurs 23 Milliarden € Kosten. Zu diesem Zeitpunkt war das schon moderat höher als die erwarteten Kosten für Flamanville-3 und Olkiluoto-3, die in 2013 um die 8 Milliarden € lagen. Anscheinend hatte man aus der Vergangenheit gelernt.
Tatsächlich soll Hinkley Point C laut Bericht des französischen Rechnungshofs aber nicht nur bis zu 34 Milliarden Pfund (46 Milliarden €; in dem Bericht wird fälschlicherweise beide Male Pfund geschrieben) in Preisen von 2015(!) für 3.200 MW elektrische Leistung kosten, die eingespeiste Energie wird auch mit einem Strike Price verkauft, der mit Basisjahr 2012 an die Inflation angepasst wird, ab Inbetriebnahme für 35 Jahre gilt und Stand jetzt ca. 150 €/MWh beträgt. Geplanter Inbetriebnahmetermin soll zwischen 2029 und 2031 sein. Der Strike Price wird bis zur ersten eingespeisten Megawattstunde also vermutlich noch etwas höher werden und noch etwas höher, wenn sich der Termin noch mal verschieben sollte. Bis 2036 haben die Bauherrn zeit, dann darf die Regierung Seiner Majestät den Vertrag kündigen. 150 €/MWh ist zurzeit etwa 50 % teurer als der Marktwert elektrischer Energie im VK und etwa doppelt so teuer wie das langjährige Mittel der letzten zehn Jahre.
Für die Anlage Sizewell C, die dieses Jahr final genehmigt werden soll, gibt keine solche Regelung (Abwarten. Bei Hinkley Point C wurde der Vertrag auch erst 2022 finalisiert), allerdings werden die Kosten teilweise über das Modell der Regulated Asset Base (RAB) auf die Verbraucher umgelegt. Dabei wird ein Fond gegründet, in den die Verbraucher einzahlen, um den Bau des Projekts zu finanzieren und anschließend die Betreiber einzahlen, um den Verbrauchern die Erträge aus dem Betrieb zugute kommen zu lassen. Für Infrastrukturprojekte ist das ein nicht unübliches Finanzierungsmodell und hat gegenüber dem Strike Price den Vorteil, dass die Kosten für die Verbraucher auf die realen Bau- und Betriebskosten gedeckelt sind, es heißt aber keineswegs, dass die Baukosten selbst nach gedeckelt sind. Ich gehe nicht davon aus, dass Sizewell C am Ende wesentlich günstiger werden wird als Hinkley Point C.
Auf dem Preisschild für die erste polnische Anlage mit 3 Reaktoren und insgesamt 3.750 MW Leistung steht zurzeit die Zahl 50 Milliarden €, davon kommen 15 Milliarden vom Staat und auch die Betreibergesellschaft ist zu 100 % im Staatsbesitz. Der Preis ist aber nur mit Bleistift geschrieben. Noch 2023 waren es 35 Milliarden gewesen. Sind wir gespannt, wie er sich entwickelt, bis der erste Spaten in die Erde sticht.
Und auch im Musterland der Kernenergie Frankreich stehen die Zeichen nicht wirklich auf Ausbau. In absoluten wie relativen Zahlen hat die Kernenergie in Frankreich ihren Zenit Mitte der 2010er Jahre überschritten. Alterstruktur des Kraftwerkparks und bisher erreichte Laufzeiten lassen darauf schließen, dass in den nächsten zehn Jahren noch einige Anlagen außer Betrieb gehen werden, die nicht unmittelbar ersetzt werden können. 5 Reaktoren mit zusammen rund 4.500 MW sind vor 1980 in Betrieb gegangen. Weitere 27(!) vor 1985. Zurzeit ist kein Kernkraftwerk in Frankreich im Bau. Zurzeit sieht das Gesetz vor, dass Anlagen bis zu 50 Jahre laufen dürfen, wenn sie sicherheitstechnisch in Ordnung sind. Aber wie ich oben geschrieben habe, sagt sicherheitstechnische Güte noch nichts über Wirtschaftlichkeit aus.
Als Frankreich in den 1970er Jahren beschloss, massiv in die Kerntechnik zu investieren, waren die Zeiten anders. Die Ölkrisen waren massive wirtschaftliche und gesellschaftliche Schocks und der einzige andere verfügbare Energieträger Kohle war auch ohne breites Bewusstsein für die Auswirkungen aufs Klima unbeliebt. Heute ist das anders. Das Umweltbewusstsein ist stärker, aber auch die Alternativen besser. Zurzeit ist die Absicht, 6 Reaktoren des verbesserten Typs EPR 2 neu zu bauen. Kostenschätzung im März 2025: rund 67 Milliarden € (In 2022 waren es noch 52 Milliarden €), davon sollen mindestens 50 % durch einen staatliche garantierten Kredit bereitgestellt werden. Angedachter Inbetriebnahmetermin Stand März 2025 ist 2038. Ich wage zu behaupten, dass die Kostenschätzung weitr steigen und der Terminplan sich weiter nachn hinten verschieben wird. Fraglich, ob in 2040 mehr als nur der kleinere Teil der angedachten Kraftwerksblöcke gebaut worden sein wird. Wenn überhaupt.
Jetzt bin ich nicht grundsätzlich gegen Einspeisevergütungen oder staatliche Beteiligung. Wenn eine Technologie große Chancen verspricht, sollte man sie fördern, damit sie langfristig günstiger wird. Sich darauf zu verlassen, dass das ohne eigenes zutun passiert und man nicht zu früh einsteigen sollte, grenzt an Teleologie. Aber was da vereinbart wurde sind Zahlen, wie man sie bei Wind und Sonne zuletzt vor 2010 gesehen hat. Mittlerweile sind sie rasant gefallen und die Kosten für das, was früher als EEG-Umlage auf der Stromrechnung stand, sinken auch seit einigen Jahren, wenn nicht grade die schlimmste Pandemie seit 100 Jahren oder ein klassischer Eroberungskrieg wie aus dem 19. Jh. dazwischen kommen. Die Kernenergie erlebt gegenteiliges. Wer Investitionsentscheidung trifft, nimmt diese Gedanken in sein Nachtgebet auf.
Falls die Projekte der letzten Jahre, die in liberalisierten Energiemärkten realisiert wurden, ein Maßstab für kommende Projekte sind, stellt sich die Frage, ob Kernenergie wirtschaftlich gegen Wind und Sonne konkurrieren kann, selbst wenn Langzeitspeicher und ggf. die zugehörigen Kraftwerke mit in den Kalkül gezogen werden. Kernkraftwerke mit ihren hohen Investitionskosten müssen möglichst kontinuierlich Vollasst laufen, damit sie sich rentieren. In einem Stromnetz mit hoher volatiler Einspeisung aus Wind und Sonne und nur sporadischer hoher Einspeisung konventioneller Erzeuger ist der Business Case fraglich. In genau diese Situation entwickeln sich aber die Energiemärkte.
Die europäischen Energiemärkte sind alle weitestgehend liberalisiert, das heißt der Staat setzt größtenteils Leitplanken und tritt nur in seltenen Fällen als Unternehmer auf. Es gibt keine garantierten Monopole mehr, keine garantierten Versorgungsgebiete, keine vertikal integrierten EVU, die alles von der Erzeugung über den Transport bis zur Nutzung elektrischer Energie übernehmen, sondern getrennte Entitäten für Netzbetrieb, Vertrieb, Erzeugung, die sich gegenseitig ihre Leistungen verkaufen, gegenseitig gegen Risiken absichern und allesamt Gewinne erwirtschaften müssen. Das klingt vielleicht negativ, ist aber erst mal ganz normales Wirtschaften und führt unterm Strich in der Regel zu effizienteren Systemen. Es bedeutet aber auch, dass die handelnden Menschen stärker in persönlicher Verantwortung stehen, dass der Zeithorizont für die Amortisierung einer Anlage kürzer sein muss, weil plötzlich Shareholder auf dem Plan stehen, die Gewinn sehen wollen, dass Banken sich gegen den Ausfall von Krediten besser absichern müssen, dass die politischen Hebel kürzer, dafür die Versicherungsprämien höher sind, usw. Die Privatwirtschaft in einem freien Markt kann super Waren und Dienstleistungen zu günstigen Preisen in hoher Qualität bereitstellen. Besser als alle anderen Wirtschaftsformen in der menschlichen Geschichte es je konnten. Für Infrastruktur gilt das nicht nicht, aber eben nur bedingt.
Weil dem so ist, gibt es auch keine rein privatwirtschaftlich finanzierten Projekte für Kernkraftwerke. Auf keiner Skala, in keinem Sektor, in keinem Land. Nirgendwo. Nicht nur in Deutschland, sondern überall, ob die Energiemärkte liberalisiert wurden oder nicht. Ob groß, ob klein, Kerntechnik geht nur mit dem Staat.
Das Marktumfeld
Kostentechnisch ist die Kernenergie in einer ähnlichen Situation, wie vor 20 Jahren Wind und Sonne, aber während sich deren Kosten – und insbesondere die von Photovoltaik – dramatisch nach unten entwickelt haben, steigen die Kosten der Kernenergie mit den Jahren.
Das spiegelt zum Beispiel die Entwicklung des EEG-Kontos wider. In einfachen Worten ist es der Saldo der Differenzkosten zwischen der insgesamt gezahlten Einspeisevergütung auf der Einnahmen- und der vermiedenen Netzentgelte und erzielten Börsenpreise auf der anderen Seite. Die Kosten werden praktisch nur durch die auf 20 Jahre festgeschriebenen Einspeisevergütung von PV-Anlagen dominiert. Anlagen, die in 2005 in Betrieb gegangen sind, erhielten rund 500 €/MWh und bis 2009 rund 400 €/MWh; viel mehr als der damalige Börsenpreis von etwa 50 €/MWh. Schon 2012 lag die Vergütung aber bei höchstens 240 €/MWh und 2015 bei 120 €/MWh. Seit 2020 liegt sie bei etwa 82 €/MWh und damit dort, wo der mittlere Börsenpreis liegt. Das EEG-Konto hatte 2019 noch 24 Milliarden € Differenzbetrag, 2020 im Coronajahr sogar 31 Milliarden (aber das ist nicht ganz fair, weil in der Wirtschaftskrise die Erzeugung europaweit ungewöhnlich niedrig war); 2021 waren es 21 Milliarden, 2024 18 Milliarden (2022 waren es 13 Milliarden, aber das ist auch nicht ganz fair, weil fossile Energie in diesem Jahr ungewöhnlich teuer war). Tendenz weiter fallend. Vor allem, da die Förderung der teuren Anlagen aus den 2000ern in den nächsten Jahren ausläuft. Sind die erst aus dem Spiel, ist das Thema im Grunde durch. Auch wenn die Preise für PV-Module durch Abbau von Überkapazitäten und Marktkonsolidierung in China in den nächsten Jahren wieder leicht anziehen dürften, werden sie vermutlich nie wieder ähnliche Niveaus erreichen, wie noch vor fünf Jahren und damit die Stromgestehungskosten von Photovoltaik selbst in Deutschland auf Marktniveau liegen.
Windenergie auf der anderen Seite wurde schon seit vielen Jahren vor allem im Marktprämienmodell gefördert und schon seit einigen Jahren werden die großen Projekte ganz ohne Förderung realisiert. Allein die gegenwärtig im Bau befindlichen Offshore-Windparks Deutschlands werden bis 2027 etwa 2,6 GW Leistung ans Netz bringen, wenn die bisher genehmigten Projekte realisiert werden, diese bis 2030 noch mal rund 5 GW. In fünf Jahren kann noch viel beantragt und genehmigt werden. On-Shore sieht es ähnlich aus. 2019 waren etwa 54 GW installiert, 2024 fast 64 GW. Diese Zahlen sind nicht ganz vergleichbar, weil off-Shore-Windparks 2 bis 3 Mal so viele Volllaststunden leisten können, aber man sieht, wohin die Reise grundsätzlich geht. Insbesondere, nachdem Deutschland die Erneuerbare-Energien-Richtlinie (EU) 2023/2413 (RED III) in nationales Recht überführt und damit die Genehmigungsverfahren massiv beschleunigt hat.
Ihrer Natur nach sind Wind und Sonne als Einspeiser volatil und damit technisch schwieriger einzubinden als große Wärmekraftwerke. Sie verursachen mehr Kosten durch Eingriffe in die Netzführung der Übertragungsnetze. Auf der anderen Seite sind sie breiter in der Fläche verteilt und entlasten damit die Betriebsmittel auf allen Netzebenen. Die Bundesnetzagentur hat diese beiden gegenläufigen Effekte seit 2005 in die Berechnung der EEG-Umlage als “vermiedene Netzentgelte” einbezogen, also scheinen die Vorteile die Nachteile zu überwiegen. Ich nenne sie volatil und nicht zufällig, weil es einen subtilen Unterschied gibt, den ich durch ein kleines Beispiel verdeutlichen will:
Angenommen, wir haben einen idealen, sechseitigen Würfel, den wir in festgelegten Zeitabständen werfen und ansonsten liegen lassen. Dann können wir nach langer Zeit sagen, dass jede Seite ziemlich genau 1/6 der Zeit oben liegt, wir können aber nicht für den Würfelwurf an sich vorhersagen, wie er ausgehen wird. Das ist die Natur des Zufalls. Hätten wir einen Mechanismus, der vorhersagt, wann der Würfel ein bestimmtes Ergebnis zeigt, könnten wir auch auf kürzeren Zeitskalen vorhersagen, welche Seite erwartungsgemäß oben liegen wird. Einen solchen Mechanismus gibt es in gewisser Weise für Wind und Sonne in Form guter Wetterdaten.
Wind und Sonne können sowohl sehr langfristig (Die Erträge über die Laufzeit lassen sich gut abschätzen und auf dieser Basis werden Investitionsentscheidungen getroffen), als auch kurzfristig (mit modernen Wetterdaten ist die Einspeisung der nächsten Stunden bis wenige Tage sehr gut vorhersagbar) gut kalkuliert werden. Schwierig sind die mittleren Zeiträume: Mehrere Tage bis Wochen. Bei steigendem Anteil volatiler Einspeiser sind das die Zeiträume, die entweder durch eine Form von Energiespeichern und/oder Kraftwerke abgedeckt werden müssen, die mit relativ wenigen Vollaststunden pro Jahr kostendeckend arbeiten können. Elektrische Energie hat die Eigenschaft, dass Erzeugung und Verbrauch stets im Gleichgewicht sein müssen, d.h. für die Zeiten, in denen kein Wind weht und keine Sonne scheint, muss die Leistung durch andere Erzeuger bereitgestellt werden. Das betrifft so planbare Ereignisse wie Tag und Nacht, kurzfristige Schlecht- und Schönwetterfronten als auch supersonnige Sommer, wahnsinnig windige Winter und 14 Tage Dunkelflaute, in denen überhaupt nichts geht. Es wird immer Einspeiser geben müssen, die flexibel genug sind, die Lücken zu füllen als auch günstig genug in Bau und Unterhalt, um mit relativ wenigen Volllaststunden übers Jahr kostendeckend arbeiten zu können.
Gaskraftwerke scheinen dafür eine geeignete Wahl und deswegen wird darüber auch immer wieder geredet. Insbesondere im Zusammenspiel mit Wasserelektrolyse und Methanisierung, denn für die Speicherung großer Mengen Methan eignet sich die vorhandene Erdgas-Infrastruktur. Eingedenk der Entwicklungen in der Batterietechnik, die gerade Anstalten macht, die Erfolgsgeschichte der Photovoltaik zu wiederholen, könnten aber auch Batteriespeicher ein Baustein sein. Zurzeit sind die noch winzig, aber das war PV vor 25 Jahren auch. An Seltenen Erden wird’s nicht scheitern und im Zuge der chinesischen Strategie zu E-Mobilität und Führerschaft bei Energiesystem würde mich nicht wundern, wenn die Technologie dort in den nächsten Jahren auch abseits des E-Autos und Heimspeichers richtig boomt. Andere Entwicklungen, wie der Natrium-Ionen-Akku stehen vielleicht gerade an der Schwelle zur großtechnischen Umsetzung (und falls sie im Großen einigermaßen so funktionieren, wie in den Versuchsanlagen, wäre der Ressourcenbedarf kein Thema mehr). Ich erwarte zwar nicht gerade die Wunderbatterie, die alle Probleme löst, aber den ganz normalen Prozess industrieller Massenfertigung. In diesem Zusammenhang ist z.B. auch die Insolvenz von Northvolt ärgerlich, aber kein Beinbruch. Firmen scheitern, das kommt vor. Dafür treten andere an die Stelle. Huzzah for free markets!
Wie auch immer am Ende das Energiesystem der Zukunft aussieht, weisst vieles darauf hin, dass es prinzipiell von volatilen Erzeugern und Speichern bzw. kurz laufenden Kraftwerken dominiert werden wird. Die Grundkalkulation dieses Umfelds verlangt nach Einspeisern, die günstig in Bau und Unterhalt sind, damit ihre hohen Betriebskosten bei Vollast ausgeglichen werden. Kernkraftwerke, bei denen ein Großteil der Stromgestehungskosten durch die Baukosten beigetragen wird, sind in einem solchen Marktumfeld schlecht aufgestellt, weil sie lange Volllast laufen müssen, damit sie sich überhaupt rechnen. Auch wenn eine gewisse Lastfolgefähigkeit schon in der Vergangenheit vorgesehen wurde und bei neueren Anlagen in weit größerem Maß berücksichtigt sein dürfte (ich kenne keine belastbaren Daten, aber die Entwicklung steht ja nicht still, deshalb setze ich das voraus), sagt die technische Machbarkeit noch nichts darüber aus, ob sich eine so betriebene Anlage rechnet.
Das eine oder andere Kernkraftwerk wird vermutlich auch in den liberalisierten Energiemärkten Europas noch nach 2030 auf den Weg gebracht werden, aber viel mehr als ein paar politisch gewollte Leuchttürme erwarte ich nicht und allesamt werden sie nur mit massiven staatliche Anreize realisiert werden können. Für alles andere hat sich der Markt schon zu stark verändert und die Überlegungen, die ich mir hier mache, sind ja nur die Spitze des Eisbergs.
Und weil dem so ist, kann ich die Frage nach den Bedingungen, unter denen ein Neubau von Kernkraftwerken möglich wäre auch recht einfach beantworten: Was es braucht, ist ein breites Bündnis aus Politik und Wirtschaft mit genügend gesellschaftlichem Rückhalt, das den Bau durchsetzt, koste er was er koste, das bereit ist, diese Kosten der Allgemeinheit aufzuerlegen und an dieser Entscheidung jahrzehntelang festhält. Betrachtet man nur die letzten gebauten bzw. im Bau befindlichen Projekte in Europa mit ihren Baukosten und ausgehandelten Einspeisevergütungen und die Schätzungen für geplante Projekte ist der wirtschaftliche Nutzen, selbst unter Bedingungen eines möglichen Einspeisevorrangs vor volatilen Erzeugern, fraglich. Vorsichtig ausgedrückt. Privatwirtschaftliche Akteure allein werden’s unter solchen Umständen nicht machen. Um die FDP zu paraphrasieren: Der Markt regelt das.
Nach EEG geförderte Anlagen verursachen heute hohe Kosten, weil wir den Berg der vor etwa 2015 gebauten Anlagen abtragen, mit fallender Tendenz. Die Kosten der Kernenergie dagegen steigen und damit überhaupt jemand aus der Wirtschaft interessiert ist, müssen die Staaten, die Kernkraftwerke bauen wollen, die Braut durch Garantien und Einspeisevergütungen hübsch machen. Dieser Ansatz muss nicht falsch sein, aber es macht einen Unterschied, ob man viel Geld in die Hand nimmt, damit etwas teures günstig wird oder um etwas teurer werdendes wieder einzufangen. Wenn nicht ein Durchbruch dazu führt, dass plötzlich Kernkraftwerke sehr viel günstiger werden (Ich drück Euch die Daumen, lieber SMR-Entwickler), wird sich dieses Verhältnis nicht mehr zugunsten der Kernenergie verschieben.
Wie realistisch der gesellschaftliche Rückhalt langfristig ist, könnte man seitenweise diskutieren und kann ja jeder für sich selbst bewerten. Das Beispiel Italien spricht Bände. Weiter mache ich Fass hier gar nicht auf.
Fazit
Ob Kernenergie objektiv sinnvoll ist oder nicht lässt sich trefflich diskutieren, mit guten Argumenten auf allen Seiten. Ob ich persönlich Kernenergie für sinnvoll halte, kann man vielleicht und mit Einschränkungen aus dem herauslesen, was ich darüber schreibe. Darum geht es aber überhaupt nicht bzw. nur bedingt, wenn man die Frage betrachtet, ob die Kernenergie in Deutschland noch eine Chance hat bzw. wie es um ihre Chancen in modernen Energiemärkten allgemein bestellt ist. Die Frage nach Sinn und Unsinn steht in einem ganz anderen Buch, das erst aufgemacht zu werden bräuchte, wenn die oben genannten (und noch viele mehr) technischen, organisatorischen, wirtschaftlichen, legislativen Hindernisse aus dem Weg geräumt wären.
Dieses aus-dem-Weg-räumen gestaltet sich aber unglücklicherweise außerordentlich aufwändig. Wäre dem anders, würden weltweit Kernkraftwerke wie Pilze aus dem Boden schießen, stattdessen ist die Entwicklung alles in allem durchwachsen. Als ich 2007 anfing zu studieren, waren weltweit 447 Leistungsreaktoren mit 389 GW Leistung in Betrieb. Ende März 2025 sind es 416 mit 377 GW, davon werden mindestens 6 (in Saporischschja in der Ukraine) als in Betrieb gelistet, obwohl sie nicht in Betrieb sind und vielleicht nie wieder gehen werden. In allen liberalisierten Energiemärkten stockt die Entwicklung, in den meisten ist sie rückläufig. Nur in den ganz kleinen, in denen eine einzige Anlage einen massiven Anteil an der gesamten Einspeisung hat, ist sie in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Ich glaube nicht, dass die ebenso kontinuierlich angekündigte wie ausbleibende nukleare Wiedergeburt an der Ablehnung der Bevölkerung(en) scheitert, sondern es ganz handfeste technische, regulatorische, organisatorische und legislative und damit nachgelagert konkret betriebswirtschaftliche Gründe dafür gibt.
Und das ist, in einer Nusschale, warum ich der Meinung bin, dass auf absehbare Zeit, wenn nicht endgültig, die Kernenergie in Deutschland Geschichte ist und es in keinem Fall einen einfachen Weg zurück gibt. Der letzte Punkt, das sich rasant ändernde Marktumfeld, ist der Hauptgrund, warum ich des Weiteren der Meinung bin, dass auch weltweit ihre Entwicklung sich weiter entschleunigen wird. Es wäre falsch, zu sagen, ihre Tage seien gezählt. Aber im Licht der aktuellen Entwicklung ist sie mindestens angezählt.