Hirnforscherin erklärt: Darum können wir gar nicht wirklich "im Moment" sein
Viele Praktiken für eine gesunde Psyche, ja, die gesamte Achtsamkeitslehre, bauen darauf auf, dass wir versuchen, möglichst viel Zeit "im Hier und Jetzt" zu verbringen, im "gegenwärtigen Moment". Eine Neurowissenschaftlerin erklärt, warum unser Gehirn dazu eigentlich gar nicht in der Lage ist.

Viele Praktiken für eine gesunde Psyche, ja, die gesamte Achtsamkeitslehre, bauen darauf auf, dass wir versuchen, möglichst viel Zeit "im Hier und Jetzt" zu verbringen, im "gegenwärtigen Moment". Eine Neurowissenschaftlerin erklärt, warum unser Gehirn dazu eigentlich gar nicht in der Lage ist.
"Sei ganz in diesem Moment. Die Vergangenheit zählt gerade nicht, die Zukunft auch nicht. Nur das Hier und Jetzt ist wirklich real" – so oder so ähnlich klingt mindestens die Hälfte aller geführten Meditationen, vor allem wenn es sich um Achtsamkeitsmeditationen handelt. Und der Gedanke, der dahintersteckt, ist an sich absolut legitim.
Können wir überhaupt "im Hier und Jetzt" sein?
Denn viele von uns sind mit ihren Gedanken sehr häufig entweder in der Vergangenheit oder eben in der Zukunft. Wir ärgern uns vielleicht über den kleinen Streit, den wir gestern mit unserer Freundin hatten, oder überlegen, wie wir unsere wichtige Job-Präsentation heute Vormittag hätten verbessern können. Oder aber wir sind gestresst wegen eines anstehenden Arzttermins oder unserer elendig langen To-do-Liste.
So oder so bringen uns diese Gedanken in diesem Moment nicht weiter, denn weder können wir Vergangenes ändern, noch können wir wirklich wissen, was beispielsweise bei dem Arzttermin wirklich auf uns zukommen wird. Uns darüber den Kopf zu zerbrechen, ist also letztlich verschenkte Energie. Das auf Knopfdruck zu ändern, ist allerdings leichter gesagt als getan. Denn gedanklich wirklich ganz bewusst nur im aktuellen Moment zu sein, ist gar nicht mal so leicht. Und das hat einen Grund, wenn man die Neurowissenschaftlerin Dr. Caroline Leaf fragt.
Was unser Gehirn kann – und was nicht
Die Hirnforscherin erklärt nämlich im "mindbodygreen"-Podcast, dass es streng genommen für unser Gehirn gar nicht möglich ist, im "Hier und Jetzt" zu verweilen. "Wir verbringen zwischen der Hälfte und drei Vierteln unseres Tages damit, in unseren Gedanken zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft hin- und herzuwandern", so Dr. Leaf. Dieser Prozess des gedanklichen Zeitreisens ist permanent in Gang, und laut der Neurowissenschaftlerin kann unser Geist physisch nicht lang an einem Ort verweilen.
Es zu versuchen, kann uns auf jeden Fall guttun, denn "es beruhigt uns für ein paar Sekunden." Aber dann beginne unser Geist sofort wieder, zwischen den drei Zeitebenen hin- und herzuspringen. "Im Moment zu leben, ist nur ein Teil des Prozesses", erklärt Caroline Leaf.
Eine neue Herangehensweise an Achtsamkeit
Achtsamkeitsübungen können uns also durchaus wohltuend sein – aber sie haben ihre Grenzen. "Die bewusste Übung, für einige Momente im Hier und Jetzt zu bleiben, ist eine gute Praxis, um den Geist zu entwickeln", so die Hirnforscherin. "Aber sie ist nicht die Lösung, um mit Chaos umzugehen."
Stattdessen empfiehlt die Expertin, unsere Vergangenheit und die Zukunft sowie das Abschweifen unserer Gedanken dorthin als Teil des Ganzen zu akzeptieren. Anstatt uns also zu ärgern, dass es uns wieder nicht gelungen ist, länger als ein paar Sekunden gedanklich präsent zu bleiben, könnten wir versuchen zu reflektieren, warum gerade diese Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges aufkommen.
Vielleicht beschäftigt uns der Streit mit unserer Freundin vom Vortag mehr, als wir uns eingestehen wollen. Oder wir haben vor der ärztlichen Untersuchung größere Angst, als wir bewusst zulassen. Hier kann es sich laut Dr. Leaf lohnen zu schauen, was wir daraus über uns lernen können – und was wir tun können, damit uns diese Themen nicht mehr so stark belasten.