Gesundheitsfeind?: Cortisol: Das missverstandene Hormon

Im Zweifel geben wir dem Stress die Schuld, wenn sich gesundheitliche Probleme ergeben. Denn der schlechte Ruf von Cortisol, unserem Stresshormon, ist legendär. Doch dabei handelt es sich um einen der wichtigsten Botenstoffe unseres Organismus. Warum wir ihn nicht zu sehr verteufeln sollten, erfährst du hier.

Apr 24, 2025 - 20:52
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Gesundheitsfeind?: Cortisol: Das missverstandene Hormon

Im Zweifel geben wir dem Stress die Schuld, wenn sich gesundheitliche Probleme ergeben. Denn der schlechte Ruf von Cortisol, unserem Stresshormon, ist legendär. Doch dabei handelt es sich um einen der wichtigsten Botenstoffe unseres Organismus. Warum wir ihn nicht zu sehr verteufeln sollten, erfährst du hier.

"Cortisol-Face" – schon mal gehört? Auf Social Media macht der Trend schon eine Weile die Runde. Ein rundlicheres Gesicht soll auf das Konto von Cortisol gehen. Und das findet die Community nicht schön. Ebenso wenig wie Haarausfall, Schlafstörungen, Übergewicht oder vorzeitige Hautalterung, wofür ein eventueller Cortisolüberschuss ebenfalls verantwortlich gemacht wird. Meist bieten Influencer:innen sogleich praktische Tipps zur Cortisol-Entgiftung an.

Internet-Hype ist Panikmache

Doch vor den Hashtags Cortisol-Face und Cortisol-Detox wird gewarnt: "Dieser Trend ist gefährlich, weil er völlig verkennt, dass es sich bei Cortisol um ein lebensnotwendiges Hormon handelt, das den Körper überhaupt erst leistungsfähig macht und bei allen Menschen in einer tageszeitlichen Rhythmik und bedarfsgerecht gebildet wird", erklärt Privatdozentin Dr. Dr. Birgit Harbeck, Mediensprecherin der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) und ergänzt:

Eine Entgiftung von einem überlebenswichtigen Hormon ist nicht möglich und auch nicht das, was wir wollen.

Im Kern stimmt es: Zu viel Stress, also ein dauerhaft zu hoher Cortisolspiegel, schadet auf lange Sicht der Gesundheit (lies hier mehr über die typischen Stress-Symptome und ihre Folgen). Mit Betonung auf zu viel und zu hoch. Doch wir könnten niemals Höchstleistungen bringen oder auch nur morgens in den Tag starten, wenn wir Cortisol nicht hätten.

Wir brauchen den Taktgeber und Antreiber

Cortisol wird auf Weisung einer Gehirnregion, der Hypophyse, in den Nebennieren gebildet. Morgens zwischen sechs und neun Uhr haben wir den höchsten Pegel im Blut. Dann verdrängt Cortisol das Hormon Melatonin und bereitet uns dadurch aufs Aufwachen und Aufstehen vor. Gegen Mitternacht liegt natürlicherweise das Cortisol-Tief.

Wegen seiner dämpfenden Wirkung aufs Immunsystem dient Cortisol in der Medizin außerdem als hochwirksamer Wirkstoff, um akute Entzündungsprozesse behandeln zu können, zum Beispiel bei einem Tinnitus, bei Allergien und Asthma, Hautausschlägen sowie als Rheumamedikament.

Zusätzlich wird Cortisol auf Stressreize hin ausgeschüttet, um dem Körper bei Bedarf besondere Kraft zu verleihen. Seine uralte Aufgabe ist jetzt, uns in einer Gefahrenlage bereitzumachen für entweder Flucht oder Kampf. Dafür beschleunigt der Botenstoff kurzzeitig Atmung und Herzschlag, stellt dem Gehirn vermehrt Energie in Form von Glukose zur Verfügung und macht uns somit reaktionsschneller, konzentrierter und leistungsfähiger. Um das zu schaffen, regelt es gleichzeitig alle nicht unbedingt notwendigen Körperfunktionen herunter, zum Beispiel den Stoffwechsel. Ist die stressige Situation vorüber, regelt sich der Cortisolwert wieder aufs Normalmaß herunter.

Warum Cortisol sich so gut als Sündenbock eignet

Viele haben in erster Linie die unerwünschten Nebenwirkungen von Cortison-Medikamenten im Kopf. Cortison, Cortisol – der Unterschied liegt nur im letzten Buchstaben, aber das hat es in sich: Cortison ist die inaktive Vorstufe von Cortisol und wird erst in der Leber in aktives Cortisol umgewandelt. Es wurde in den 1930er-Jahren entdeckt und knappe zehn Jahre später erstmals in der Rheumatherapie eingesetzt.

Die enorme Wirksamkeit von Cortison war jedoch Segen und Fluch zugleich. Denn das "Wundermittel", das Rheumaschmerz erstmals lindern konnte und zudem Lungenkranke wieder aufatmen ließ, wurde, wie man heute weiß, zu sorglos eingesetzt. Es zeigten sich teils starke Nebenwirkungen – je länger und stärker dosiert, desto intensiver: Muskelverlust, Knochenabbau, Augenprobleme, eine höhere Infektionsanfälligkeit, dünner werdende Haut. Jahre später geschah das Gleiche bei der Hormonersatztherapie gegen Wechseljahresbeschwerden, die anfangs ebenfalls viel zu hoch dosiert verordnet wurde und ihr den schlechten Ruf einbrockte, der bei der heutigen Therapie nicht mehr angemessen ist.

Das berüchtigte Mondgesicht (Cortisol-Face) ist Zeichen des sogenannten Cushing-Syndroms. Diese Erkrankung kann in Folge einer langjährigen Corstisoneinnahme auftreten (das nennt man exogenes Cushing-Syndrom) oder weil übermäßig viel Cortisol produziert und ausgeschüttet wird (endogenes Cushing-Syndrom). Auslöser sind in dem Fall meist hormonproduzierende Tumore. Weitere sichtbare Kennzeichen sind eine starke Gewichtszunahme am Rumpf (Stammfettsucht), Fetteinlagerungen im Nacken, bei Frauen unerwünschte Gesichtsbehaarung.

Der Irrglaube aus dem Netz

Daraus folgert nun der Socia-Media-Trend fälschlicherweise, dass jeglicher Stress und sogar bestimmte Lebensmittel, wie Kaffee zu einem Cortisolüberschuss führten. Dr. Birgit Harbeck stellt hierzu fest: "Die alltägliche Stressbelastung ist naturgemäß mit normalen Schwankungen des Cortisolspiegels verbunden, die nicht mit den typischen Folgen einer krankhaften Mehrsekretion von Cortisol im Sinne eines Cushing-Syndroms einhergehen. Das bedeutet: Nicht jedes rundlichere Gesicht ist auf einen erhöhten Cortisolspiegel oder das Cushing-Syndrom zurückzuführen."

Ja, Dauerstress kann krank machen. Und ja, das liegt daran, dass nach der Anspannung, für die wir den Cortisol-Schub brauchten, nicht gleich die Entspannung folgt, wie es das System eigentlich vorsieht. Deshalb sind stressreduzierende Maßnahmen eine großartige Idee und auch geeignet, den erhöhten Cortisolspiegel zeitweilig wieder abzusenken. "Eine 'Entgiftung' von diesem überlebenswichtigen Hormon ist jedoch natürlich nicht möglich und vor allem nicht geboten oder gar erwünscht", so die Endokrinologin.

Zu viel, aber auch zu wenig Cortisol ist gefährlich

Im Gegenteil: Es kommt darauf an, den natürlichen Rhythmus der Cortisolproduktion beizubehalten. Denn das Zusammenspiel der vielen Hormone im Körper ist eng vernetzt und ganz fein austariert. Gerät die Hormon-Balance an einer Stelle durcheinander, zieht das eine Kettenreaktion nach sich und es können chronische Erkrankungen entstehen.

Als Folge einer gestörten Nebennierenfunktion kann es auch zu einem Cortisolmangel kommen. Der "stellt ein lebensbedrohliches Krankheitsbild dar, das in der Regel eine lebenslange Cortisolersatztherapie notwendig macht", erklärt Dr. Harbeck. An dieser Krankheit, Morbus Addison, litt zum Beispiel der ehemalige US-Präsident John F. Kennedy, wie erst nach seinem Tod bekannt gegeben wurde.

Ein rundliches Gesicht ist keinesfalls ein Grund, seinen Cortisolwert möglichst niedrig halten zu wollen. Auch Selbst-Tests aus dem Internet, wie Influencer:innen sie in dem Zusammenhang häufig bewerben, können Fachleute nichts abgewinnen. Laut Dr. Harbeck sind solche Tests "ungenau und irreführend". Würden äußere Bedingungen, wie etwa die Tageszeit oder auch die fragwürdige Qualität der Testverfahren für Speichelcortisol nicht beachtet, seien die Ergebnisse auch nicht aussagekräftig oder verwertbar. "Immer wieder stellen sich verunsicherte Patient:innen in der Praxis oder Ambulanz vor, die meinen, eine Störung des Cortisolstoffwechsels zu haben", berichtet die Fachärztin.

Sie rät daher, sich an eine endokrinologische Facharztpraxis zu wenden, wenn Beschwerden auftreten, bei denen man eine hormonelle Ursache vermutet.