Gedächtnis : Wieso erinnern wir uns nicht an die Zeit, als wir Babys waren?
Wo sind die Erinnerungen aus unseren ersten Lebensjahren geblieben? Diese Frage beschäftigt wohl jeden irgendwann. Forscher untersuchten nun Säuglinge, um Antwort zu bekommen

Wo sind die Erinnerungen aus unseren ersten Lebensjahren geblieben? Diese Frage beschäftigt wohl jeden irgendwann. Forscher untersuchten nun Säuglinge, um Antwort zu bekommen
Wie haben wir eigentlich unseren ersten Geburtstag gefeiert? Welche Babybrei-Geschmacksrichtung war uns die liebste? Und warum genau haben wir damals so viel geschrien? Wohl kaum ein erwachsener Mensch vermag auf solche Fragen Antworten zu geben. Der Anfang unseres Lebens, diese Phase, in der wir so viele neue Erfahrungen machten, wie in keiner späteren, entzieht sich unserer bewussten Erinnerung. Und wenn uns einmal das Gefühl beschleicht, da wäre etwas, ein kurzer Blitz aus frühen Tagen, können wir uns doch nicht sicher sein, dass wir uns nicht bloß an Bilder aus einem Fotoalbum erinnern oder an Aufnahmen aus dem Videorekorder.
Wo ist unsere Vergangenheit hin?
Wo sind unsere Erinnerungen geblieben? Diese Frage stellen sich an der Yale-Universität Forschende am Institut für kognitive Psychologie und Neurowissenschaften. Statt vom Vergessen sprechen sie von infantiler Amnesie, statt angestrengt in den eigenen Erinnerungen zu kramen, nutzen sie funktionelle Magnetresonanztomografie, kurz fMRT, um die Hirnströme von Säuglingen zu vermessen. Solche Untersuchungen an Babys durchzuführen, stellt die Wissenschaftlerinnen vor einige Herausforderungen.
Damit sie gelingen, müssen die kleinen Probanden in der Röhre bei Laune und – vor allem – bei Konzentration gehalten werden. Sie dürfen nicht zu sehr zappeln, sollen aber natürlich auch nicht fixiert werden. Sie müssen auf Stimuli reagieren können, aber nicht unter dem Lärm der Apparatur leiden. Erst seit Kurzem gelingt diese Gratwanderung: Die Säuglinge liegen bequem, weich gebettet in der Röhre, sehen auf speziell montierten Bildschirmen Bilder und Videos, sind vor dem Lärm der Maschine geschützt und bleiben sogar, mittels einfacher Tricks, bei der Sache. Die kognitive Psychologie der Säuglinge ist ein recht junges Feld, dank dieser Fortschritte liefert sie nun laufend neue Erkenntnisse.
© Morten Falch Sortland /Moment RF
Die Autorinnen und Autoren der jüngsten Studie aus Yale unterscheiden mit Blick auf unsere ersten Lebensjahre zwischen statistischem und episodischem Lernen. Statistisch zu lernen heißt: immer wieder dieselben Gesichter, Orte und Gegenstände in immer wieder ähnlichen Anordnungen wahrzunehmen und aus diesem Immer-wieder ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Muster die eigene Umwelt bestimmen. Mittels dieser Muster können wir intuitive Vorhersagen treffen, wie sich eine neue Situation, die wir in abgewandelter Form bereits mehrfach erlebt haben, nun wohl abspielen wird; was Sätze, die wir so ähnlich schon öfter gehört haben, nun wohl bedeuten könnten.
Wann lernt der Mensch was?
Das statistische Lernen, darin sind sich Forschende schon seit Längerem einig, setzt bereits in unserem ersten Lebensjahr ein. Diese abstrakten Erinnerungen bleiben uns, trotz der infantilen Amnesie. Sie sind die Grundlage für das Verständnis unserer Umwelt, nur so finden wir uns in dieser Welt zurecht.
Doch was ist mit dem episodischen Lernen? Den Erinnerungen an konkrete Momente, an einzelne Erlebnisse aus unseren frühesten Tagen – an unseren ersten Geburtstag, an diesen einen schlimmen Weinkrampf, an das erste Mal "Mama"-sagen?
Die Forschenden gingen lange Zeit davon aus, dass unsere Gehirne in den ersten Lebensjahren schlicht nicht weit genug entwickelt sind, um derartige Erinnerungen zu speichern. Zuständig dafür, das weiß die Neurowissenschaft dank fMRT-Untersuchungen an Erwachsenen: der Hippocampus – ein Teil unseres Gehirns, der sich noch bis weit in unsere Jugend hinein ausbildet.
Doch so einfach ist es wohl nicht. Die Forschenden in Yale zeigten 26 Säuglingen zwischen vier und 24 Monaten Bilder unterschiedlicher Gegenstände, Orte und Gesichter, die für sie zunächst unbekannt waren. Um sie bei Laune zu halten und sicherzustellen, dass die Babys ihre Aufmerksamkeit während der Hirnstrommessung weiter auf die Bilder richteten – denn entsprechende Anweisungen gehen erwartungsgemäß ins Leere –, legten die Wissenschaftlerinnen grüne, pulsierende Muster wie aus einem Kaleidoskop hinter die Bilder.
Anschließend bekamen die Säuglinge immer zwei Bilder vorgeführt – ein bekanntes und ein unbekanntes. Nicholas Turk-Browne, in Yale Direktor des Neuroinstituts, erklärt, welche Aufschlüsse die Reaktionen geben: "Wenn ein Baby etwas nur einmal gesehen hat, erwarten wir, dass es beim nächsten Mal genauer hinsieht. Wenn es bei dieser Aufgabe also mehr auf das zuvor gesehene Bild starrt als auf das neue Bild daneben, kann das so interpretiert werden, dass das Baby es als vertraut erkennt."
© Du Cane Medical Imaging
Das Ergebnis der fMRT-Messungen: Je länger sich die Säuglinge ein mutmaßlich bekanntes Bild ansahen, je stärker also ihre Erinnerung, desto intensiver war auch die Hirnaktivität in ihrem Hippocampus. Dabei leuchtete gerade jener Bereich auf, der auch bei Erwachsenen für episodische Erinnerungen zuständig ist.
Die Forschenden sind sich zwar weiterhin sicher, dass unsere ersten Lebensjahre vor allem dem statistischen Lernen gewidmet sind – dem Erinnern an ereignisübergreifende Muster statt an einzelne Ereignisse – und dennoch: Unser Gehirn speichert vermutlich auch einzelne Episoden aus dieser Zeit.
Ein Speicher- oder bloß ein Abrufproblem?
Wieso also können wir nicht von unserem ersten Geburtstagsfest erzählen, wenn wir doch eine Erinnerung an diesen Tag im Gedächtnis abgelegt haben? Mit dieser Frage beschäftigt sich das Team um Turk-Browne nun vor allem. Bisher sieht er zwei mögliche Erklärungen: Entweder gehen diese Erinnerungen bald wieder verloren, wohl noch in unserer frühen Kindheit, werden also nicht in unseren Langzeitspeicher übertragen. Oder sie schlummern auch noch im Erwachsenenalter in uns, sind uns jedoch unzugänglich. Infantile Amnesie wäre somit ein Abrufproblem, kein Speicherproblem.
Diese Erklärung halten die Forschenden für wahrscheinlicher. Und kündigen an, auch dazu bald neue Ergebnisse aus der Röhre zu liefern.