ERC3643: Ein Token-Standard, den die Banken lieben
Ein neuer Standard für "permissioned Token" soll helfen, traditionelle Finanzinstrumente auf die Blockchain zu bringen - mitsamt aller regulatorischen Aufdringlichkeit. Es könnte eine Bereicherung werden - aber auch eine große Gefahr, die alles, wofür Krypto steht, pervertiert.

Ein neuer Standard für „permissioned Token“ soll helfen, traditionelle Finanzinstrumente auf die Blockchain zu bringen – mitsamt aller regulatorischen Aufdringlichkeit. Es könnte eine Bereicherung werden – aber auch eine große Gefahr, die alles, wofür Krypto steht, pervertiert.
Wenn man den Token-Standard ERC-3643 freundlich ansehen möchte, könnte man sagen, dass das Beste immer in der Mitte liegt. Wenn zwei Seiten verhärtet bleiben, gibt es keinen Fortschritt. Nur Kompromisse bringen einen voran.
ERC-3643 ist ein Standard für „permissioned Token“, also gewissermaßen ein Standard, der gemacht wurde, um all das, was Bitcoin und andere Kryptowährungen abgeworfen haben, wieder aufzuladen: Krypto hat die Fesseln und Auflagen der regulierten Finanzwelt abgeschüttelt, Token sind frei überweisbar, Accounts oder Adressen pseudonym. Diesen Umstand möchte ERC-3643 wieder abschaffen; der Geist der Autonomie soll zurück in die Flasche gepresst werden.
KYC und AML onchain
Entwickelt wurde ERC-3643 von Tokeny, einem luxemburgischen Unternehmen, das sich der Tokenisierung klassischer Finanzprodukte verschrieben hat. Zusammen mit zahlreichen anderen Unternehmen führt Tokeny nun den Standard, der explizit dafür gemacht wurde, um „Real World Assets“ (RWAs), also klassische Finanzprodukte, zu tokenisieren, und dabei konform mit den hergebrachten regulatorischen Auflagen zu gehen, ohne technische Purzelbäume schlagen zu müssen. Es gibt mehrere Vorschläge für solche Standards, doch ERC-3643 scheint sich durchgesetzt zu haben, indem es eine EIP-Nummer erhielt und damit „offiziell“ wurde.
Zunächst funktioniert ERC-3643 wie andere Token auf Blockchains wie Ethereum: Er bildet einen anderen Wert als Token ab und erlaubt es, dieses in einer Wallet zu speichern und an andere Akteure zu überweisen, wobei jede Transaktion durch den Konsens der Blockchain bestätigt wird. Allerdings führt ERC-3643 einige zusätzliche Erweiterungen und Beschränkungen ein. Vor allem „enthalten die Token einen Mechanismus, der die Identität und Berechtigung von Teilnehmern verifiziert, bevor er eine Transaktion erlaubt“, erklärt die Dokumentation des Standards.
Wenn man ein ERC-3643 Token hat, kann man es nicht einfach so an eine andere Adresse überweisen. Stattdessen greifen die üblichen regulatorischen Auflagen wie KYC oder AML. So sind Überweisungen an ein Onchain-ID-System geknüpft, ONCHAINID: „Die Identität jedes Teilnehmers wurde durch autorisierte Parteien verifiziert und auf der Blockchain gespeichert, was ein sicheres und nahtloses Identitäts-Management erlaubt.“
Überweisungen werden durch ein Set an regulatorischen Auflagen eingeschränkt, etwa die Herkunft der Gegenpartei oder ob diese ein qualifizierter Investor ist. Der Standard erlaubt zudem zahlreiche weitere Optionen. So kann er einer dritten Partei, etwa einem Ko-Herausgeber oder einer Institution, bestimmte Rechte geben – sagen wir, um Steuern einzuziehen oder Token zu beschlagnahmen -, oder verlorene Token wiederherstellen.
Der lange gesuchte Standard?
Ohne Zweifel ist ERC-3643 für diejenigen praktisch, die von der Aufsicht grünes Licht wollen, um ein traditionelles Finanzprodukt auf die Blockchain zu bringen. Wenn man das Token einfach nach ERC-3643 herausgibt, spart man sich eine Menge Kopfschmerzen, wie man allen regulatorischen Auflagen gerecht werden kann. Daher haben laut Tokeny bereits mehr als 40 Unternehmen Token im Wert von gut 28 Milliarden Dollar nach dem Standard herausgegeben.
Bei vielen traditionellen und modernen Finanzinstitutionen kommt ERC-3643 gut an. So haben sich etwa die Börse Stuttgart, die Schweizer BX Digital, der künftige Marktplatz für Kryptowertpapiere, 21X, Banken wie Citi oder State Street und zahlreiche weitere der ERC3643-Association angeschlossen. Der Token-Standard leistet alles, was etwa das eWPG von Kryptowertpapieren verlangt, ohne dass deren Herausgeber es selbst in Smart Contracts hineinschreiben und manuell umsetzen müssen – wie es etwa Cashlink macht – oder gleich eine eigene, reversible und geschlossene Blockchain verwendet, wie sie ecrop kürzlich geschaffen hat.
ERC-3643 hat damit das Potenzial, das Wirrwarr, das die verschiedenen Standards für RWA und Kryptowertpapiere derzeit noch schaffen, zu beenden, indem es einen einheitlichen, blockchain-übergreifenden Standard setzt. Ein solcher Standard wird viele Praktiken, die man im traditionellen Finanzwesen pflegt, etwa die Verifizierung der Identität, aber auch die Wiederherstellbarkeit von Guthaben, auf die Blockchain übertragen, was es für Institutionen und auch manche User einfacher machen dürfte, sich auf Krypto einzulassen.
Eine Pervertierung von allem, wofür Krypto steht
Aus Sicht eines Krypto-Users freilich ist ERC-3643 eine Kolonialisierung des Ökosystems, eine Pervertierung von Token und Smart Contracts, die nicht weniger verbricht, als die Grundwerte von Bitcoin und Krypto mit stinkenden Schweißfüßen zu treten. Ein Onchain-Standard für „permissioned Token“ ist schlimmer als eine Blacklist, wie sie Stablecoin-Herausgeber wie Tether oder Circle längst führen, schlimmer als eine regulierte Sidechain, schlimmer als Herausgeber von Token, die nur angemeldete User auf eine Whitelist setzen.
Ein Token-Standard wie ERC-3643 macht alles, was NICHT Krypto sein sollte, zum Teil des Konsens. Der pflanzt es direkt ins Herz der Blockchain ein.
So führt ERC-3643 etwa die Funktion ein „isVerified“. Diese prüft vor einer Transaktion, ob eine Adresse auf einer Whitelist registrierter Akteure steht. Die Beschränkung wird nicht mehr „on top“ eingeführt – sie ist Teil des Konsens.
Mit ein wenig Fantasie offenbaren sich düstere Aussichten: Regulierer könnten von DeFi-Protokollen verlangen, nur noch solche Token zuzulassen; wenn die Aufsicht eine Kryptowährung als Wertpapier einstuft, hat sie nun ein Token-Format, auf welches sie Börsen verpflichten kann. Anstatt Bitcoins oder Ether dürften die Börsen dann nur noch nach ERC3643 tokenisierte Bitcoins oder Ether handeln. Klassische Token oder Coins hätten dann einen ähnlichen Status wie Bitcoins, die durch einen Mixer gelaufen sind. Sie sind prinzipiell beschmutzt. Krypto wäre von den regulatorischen Auflagen kolonialisiert und ausgehöhlt worden. Das Projekt, das wir lieben, wäre tot.
Für das etablierte Finanzwesen wäre diese Entwicklung doppelt zu begrüßen. Erstens, weil sie Krypto schwächer macht. Ohne die Erlaubnisfreiheit und die lockere Regulierung werden Krypto die Zähne gezogen, was es zu einer viel weniger gefährlichen Konkurrenz macht. Zweitens, weil sie Krypto einfacher für Finanzinstitutionen macht. Wenn ERC-3643 zum Standard geworden ist, werden Finanzinstitutionen mühelos auf Blockchains migrieren können, da ja alles, was ihre Compliance-Abteilung verlangt, schon onchain auf sie wartet.
Oder doch ein fairer Kompromiss?
Fairerweise kann man ERC-3643 aber auch als eine Art von Kompromiss verstehen. Schließlich bleiben die einen oder anderen Aspekte von Krypto erhalten: Man kann die Token weiterhin selbst und ohne Mittelsmann verwahren und versenden; jeder Transfer ist öffentlich und transparent; es wird weiter möglich sein, auf dezentralen Börsen ohne Mittelsmann zu handeln. Das ist zwar weit weg von dem, was Bitcoin und auch Ethereum versprechen, aber es wäre ein Fortschritt zum bestehenden Finanzsystem, vielleicht sogar so sehr, dass manche Institutionen, die es sich in einer Position der Mittelsmänner bequem gemacht haben, kalte Füße bekommen.
Wenn sich ERC-3643 auf die „Real World Assets“ beschränkt, wird er Krypto-Usern nichts nehmen, sondern nur etwas geben. Er wird es einfach machen, Staatsanleihen, Aktien oder sonstige klassische Wertpapiere in die Wallet zu bringen und auf dezentralen Börsen zu handeln. Das, was bisher einen Marathon an Registrierungen, Verifizierungen und Logins bei verschiedenen Anbietern verlangt, wird mit einem Klick zu machen sein, während die RWAs aus den Silos, in denen sie bisher stecken, ausbrechen.
Zudem könnte ein solcher Token-Standard helfen, einen Standard für Onchain-Identitäten zu etablieren. Ein solcher ist seit Langem überfällig, sei es, um sich bei Börsen anzumelden, sei es, um sich manche Finanzprodukte zu kaufen, die schon jetzt eine Verifizierung benötigen, wie tokenisierte Staatsanleihen. Mit ONCHAINID scheint sich nun ein Set an Smart Contracts durchzusetzen. Auch dies kann man als Kompromiss verstehen: keine perfekte Lösung, aber ein großer Fortschritt zur heutigen Praxis, in der jede Börse, jede Bank, ja, sogar jeder Telekommunikationsanbieter Identitätsdaten erheben und speichern muss.
Bei ONCHAINID können verschiedene Parteien die Identität von Usern verifizieren. Die Daten selbst bleiben offchain, lediglich verschlüsselte Beweise dafür, dass eine valide Identität existiert, gehen onchain, wo sie von anderen Smart Contract genutzt werden können. Damit könnte ONCHAINID die lange fällige übertragbare Identität etablieren und einen „Universal Login“ schaffen, durch den man sich überall als verifizierter Mensch anmelden kann.
Chancen und Risiken
ERC-3643 bringt also gleichzeitig Chancen wie Risiken. Sollte sich der Token-Standard streng auf die traditionellen Finanzprodukte beschränken, wird er den Markt für Token erweitern und Dezentrale Finanzen stärker machen. Auch die Etablierung einer Onchain-ID kann Usern neue Möglichkeiten erschließen, die bislang fehlen, ohne deswegen Zwang auszuüben.
Allerdings trägt ERC-3643 die große Gefahr, über die RWAs hinaus zu wuchern. Es ist zu verlockend für Aufseher und Finanzinstitutionen, den Standard nicht nur als Ergänzung zu behandeln, sondern als Ersatz für die bisherigen Token und sogar Kryptowährungen, die sich rein technisch den Wünschen der Regulierer entziehen. Sollte dem so kommen, würde ERC-3643 zum bisher gefährlichsten Angriff auf die idealistische Basis von Krypto werden.