Die „Wie schlimm ist es wirklich?“-Sicht auf die Welt
Dass es schlimm ist, ist nicht die Frage.Die Frage ist: Wie schlimm ist es? An den so genannten stillen Verkäufern in München ist an diesem Wochenende eine Überschrift auf der Ausgabe der Boulevardzeitung tz zu lesen, die sich auf die Lage beim örtlichen Autobauer BMW bezieht. Nicht nur aufgrund der Bebilderung lässt sie sich aber […]
Dass es schlimm ist, ist nicht die Frage.
Die Frage ist: Wie schlimm ist es?
An den so genannten stillen Verkäufern in München ist an diesem Wochenende eine Überschrift auf der Ausgabe der Boulevardzeitung tz zu lesen, die sich auf die Lage beim örtlichen Autobauer BMW bezieht. Nicht nur aufgrund der Bebilderung lässt sie sich aber auch als grundsätzliche Frage lesen: „Wie schlimm ist es wirklich?“ steht auf der Titelseite – und ich finde diese Frage so programmatisch für eine bestimmte Art der Berichterstattung, dass ich es kurz festhalten möchte.
Zunächst zur Lage bei BMW: Der Konzern hat im vergangenen Jahr 7,68 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Das ist weniger als im Vorjahr und weniger als der Reingewinn bei VW (12,4 Milliarden Euro), aber es ist vor allem: ein Milliarden-Gewinn. Das geht in der allgemeinen Berichterstattung über den Zustand der Automobil-Industrie manchmal etwas unter. Trotzdem dominiert das Wort „Gewinneinbruch“ und nicht „Milliarden-Gewinn“ die Berichterstattung.
Dass dieser Vibe vielleicht nicht ganz zufällig ist, kann man in dieser Einordnung beim ZDF nachlesen, wo der Branchen-Experten Frank Schwope sagt: „Wer nicht jammert, der bekommt nichts. Wahrscheinlich will die Autoindustrie auf eine Elektroprämie hinaus.“ In jedem Fall kommt der Text zu dem Schluss: „Die Stimmung scheint schlechter als die tatsächliche Lage.„
Ein Urteil, das vielleicht auch über die Automobil-Industrie hinaus gilt. Denn die „Wie schlimm ist die Lage wirklich?“-Sicht auf die Welt bestimmt nicht nur die Berichterstattung über BMW. Diese Frage lässt sich auf zahlreiche Berichte über zahlreiche Themen übertragen. Wie gesagt:
Dass es schlimm ist, ist nicht die Frage.
Die Frage ist: Wie schlimm ist es?
Dabei kann es mir hier gar nicht darum gehen, ob es wirklich schlimm ist oder nicht, sondern darum, ob wir es so wahrnehmen oder ob Medien es so darstellen?
Denn der stumme Verkäufer und die dort präsentierte Titelseite einer Zeitung sind ja nicht durch Zufall so wie sie sind. Sie zeigen, was sich besonders gut verkauft. Es scheint also ein besonderes Interesse daran zu geben zu erfahren, wie schlimm es wirklich ist.
Aus der Psychologie wissen wir: „Menschen schenken negativen Reizen mehr Aufmerksamkeit, nehmen sie schneller und leichter wahr, verarbeiten sie tiefer und erinnern sich besser an sie.“ So definiert das Bonn Institute den Negativitäts-Bias, also eine Verzerrung, die die Schlimmheit der Welt in ihrer Wahrnehmung verstärkt. Weniger psychologisch formuliert: das „ist ja eh alles scheiße“-Gefühl hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag – und zwar in der Kategorie Wahrnehmungs-Verzerrung. Und wenn Medien diese in ihrer Art der Berichterstattung verstärken, dann führt das dazu, dass auch der Wikipedia-Eintrag zum „sag ich doch“-Gefühl verlinkt werden muss. Der Bestätigungsfehler ist älter als der Begriff der Filterblase und wurde schon weit vor Social-Media untersucht. Beide wirken ihm aber in keiner Weise entgegen, im Gegenteil: dass Informationen vor allem in Bezug auf die eigenen Erwartungen ausgewählt und bewertet werden, verzerrt die ohnehin schon als „schlimm“ eingeschätzte Weltsicht noch weiter. Der Kommunikationswissenschaftler George Gerbner hat für diese Folgen von Medienkonsum auf die eigene Weltsicht den Begriff des Gemeine-Welt-Syndrome in Bezug auf Gewaltdarstellungen im TV geprägt.
Vielleicht ist die Lage tatsächlich schlimm. Aber selbst dann sind die beschriebenen Verzerrungen durch die „Wie schlimm ist es wirklich?“-Sicht auf die Welt nicht falsch. Sie wirken in jedem Fall verstärkend und führen zu einem Gefühl der Ohnmacht. Und diese Ohnmacht verhindert den Wunsch und die Kraft zu Veränderung, zur Teilhabe zum Engagement. Das aber wäre nötig, um ein Gefühl der (Selbst-)Wirksamkeit zu entwickeln, um die Welt nicht nur als schlimm, sondern als durch meine Hände Arbeit gestaltbar zu sehen.
Das bereits zitierte Bonn Institute definiert drei Kriterien für eine andere Art der Berichterstattung: Sie ist lösungsorientiert, perspektivenreich und stärkt konstruktiven Dialog.
Wäre spannend diese drei Aspekte auf die anderen Bereiche anzuwenden, bei denen bisher nur gefragt wird „Wie schlimm ist es wirklich?“
Mehr zum Thema Verzerrung hier im Blog: der Text „Das Schlimmste hat immer Recht – das Muster des Worst-Case-Chronozentrismus“