Deutsche Geschichte: Die letzte Volkskammer: Eine Wahl besiegelt das Ende der DDR

Wenige Monate nach der friedlichen Revolution schickten die Ostdeutschen vor 35 Jahren ein klares Signal: Deutsche Einheit, so schnell wie möglich

Mär 18, 2025 - 19:18
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Deutsche Geschichte: Die letzte Volkskammer: Eine Wahl besiegelt das Ende der DDR

Wenige Monate nach der friedlichen Revolution schickten die Ostdeutschen vor 35 Jahren ein klares Signal: Deutsche Einheit, so schnell wie möglich

Es sind Wochen wie im Zeitraffer. Am 9. November 1989 öffnet die DDR die Grenzen. Ende November spricht Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Zehn-Punkte-Plan vage von einer möglichen "Vertragsgemeinschaft" mit einem reformierten ostdeutschen Staat und von "konföderativen Strukturen" – irgendwie, irgendwann. Doch schon am 18. März 1990 ist klar: Die DDR wird der Bundesrepublik beitreten, und zwar so schnell wie möglich.

Bei der ersten und letzten freien Volkskammerwahl an diesem Tag vor 35 Jahren stimmen die meisten DDR-Wählerinnen und Wähler für Parteien, die eine rasche Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes wollen. Die Wahlbeteiligung liegt bei 93,4 Prozent. Das Signal scheint eindeutig. Und doch legt diese Wahl den Keim für Missverständnisse und Streit zwischen Ost und West, die bis heute anhalten. Hat die Bundesrepublik die DDR einfach kaltlächelnd übernommen? Und ging das nicht alles viel zu schnell?

"Man wollte mehr Freiheit"

"Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte die schnelle Wiedervereinigung, das hat das Wahlergebnis gezeigt", sagt Sabine Bergmann-Pohl, damals Präsidentin der frei gewählten Volkskammer. "Man wollte mehr Freiheit, man wollte mehr Demokratie, aber man wollte auch mehr Wohlstand. Freiheit und Demokratie wurden erfüllt. Der Wohlstand hat länger gedauert."

Die heute 78 Jahre alte ehemalige CDU-Politikerin hält es für eine Illusion, dass die Dinge hätten anders laufen können. "Wir waren vor ein riesiges wirtschaftliches Dilemma gestellt", sagt Bergmann-Pohl der Deutschen Presse-Agentur. "Wir wussten, dass die DDR insolvent war und dass wir das nur mit Hilfe der Bundesrepublik bewältigen konnten." Nicht die Treuhand sei schuld gewesen, dass die DDR-Wirtschaft abgewickelt wurde. "Die Wirtschaft der DDR lag am Boden."

Artikel 23 oder Artikel 146?

Zum Beitritt zur Bundesrepublik über Artikel 23 sagt Bergmann-Pohl: "Es gab gar keine andere Lösung. Das Fenster für die Wiedervereinigung war nur einen Spalt offen." Die Ausarbeitung einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes hätte aus ihrer Sicht viel zu lange gedauert. 

Bürgerrechtler hatten sich dies während der friedlichen Revolution anders erhofft. Und auch der damals für die PDS in die Volkskammer gewählte Gregor Gysi meint bis heute, ein Verfahren nach Artikel 146 "wäre gleichberechtigter gewesen". Eine echte Chance dafür sah aber auch er nicht. 

"Es gibt immer Alternativen"

War diese überstürzte Vereinigung wirklich "alternativlos"? Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk schreibt in seinem Buch "Die Übernahme": "Es gibt in der Geschichte immer Alternativen. Im Nachhinein sieht es nur oft nicht so aus." Er zweifelt aber, ob andere Wege einfacher verlaufen wären. Denn dieselben Menschen hätten den Prozess gestalten müssen. Und es gebe keinen Grund anzunehmen, die Akteure damals hätten in schlechter Absicht gehandelt. "Vielleicht liegt darin sogar die besondere Tragik: Die meisten taten alles in bester Absicht."

Kowalczuk sieht im Ergebnis der Wahl vom 18. März 1990 einen Hinweis, "wie stark die ostdeutsche Gesellschaft bereit war, die Diktatur gegen neue Heilsversprechen einzutauschen, statt sich ihre Zukunft selbst zu gestalten". Der Historiker meint sogar: "Ganz offenkundig hatte der Osten die Schnauze voll von der Zukunft. Kaum jemand hatte Lust, erneut auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu warten. Die Zukunft sollte jetzt und heute beginnen." 

Enttäuschte Hoffnungen

Derweil nahm die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise in Ostdeutschland schon 1990 Fahrt auf: mit Werksschließungen, Arbeitslosigkeit und anhaltender Abwanderung in den Westen. Die Wirtschafts- und Währungsunion – die Einführung der D-Mark in der DDR – zum 1. Juli sollte gegensteuern. Bei der Gelegenheit gab Kanzler Helmut Kohl in einer Fernsehansprache das später sprichwörtliche Versprechen der "blühenden Landschaften". 

Als diese auf sich warten ließen, fühlten sich viele in Ostdeutschland getäuscht. Dass die Bundesrepublik all ihre Regeln und Gepflogenheiten der DDR einfach überstülpte, dass sie ihre Beamten und Richter exportierte, dass sie immer das letzte Wort zu haben schien, erbost viele bis heute. Westdeutsche halten dagegen, die DDR-Bürger hätten doch dafür gestimmt, nicht die Bundesbürger.

Ausgebremste Demokratisierung

Der Soziologe Steffen Mau schreibt in seinem Buch "Ungleich vereint", weil die späte DDR ökonomisch und politisch so schwach war, hätten deren Vertreter nur wenig Einfluss hätten nehmen können. Nach der friedlichen Revolution sei die Demokratisierung ausgebremst worden. Der "Selbstermächtigung" im Herbst 1989 sei eine "Selbstentmachtung" gefolgt, als die Ostdeutschen freiwillig die Wiedervereinigung wählten. In einer Endlosschleife der Ost-West-Debatte wiederholten sich seither gegenseitige Vorwürfe.

Der ehemalige SPD-Politiker Markus Meckel, nach der freien Wahl 1990 DDR-Außenminister, spricht von einer Entwertungserfahrung. Ostdeutsche seien nach der friedlichen Revolution überwiegend als "Objekt" dargestellt worden. Meckel beharrt jedoch darauf, sie hätten durchaus selbst gehandelt – es sei eine ausgehandelte Einheit gewesen.

"Das fleißigste Parlament der Welt"

Auf die aktive Rolle der letzten DDR-Parlamentarier verweist auch Bergmann-Pohl. "Wir haben auch den Einigungsvertrag ausführlich beraten", erinnert sie sich. Insgesamt hätten die 400 Abgeordneten unglaublich intensiv gearbeitet. "Wir waren mit das fleißigste Parlament der Welt damals in dieser kurzen Zeit. Das sollte einfach mehr anerkannt werden." 

Auch die letzte Volkskammer arbeitet wie im Zeitraffer. Am 23. August 1990 billigt das Plenum nach einer turbulenten Nachtsitzung den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23, der nach der Wiedervereinigung zunächst aus dem Grundgesetz verschwindet. Am 31. August wird der Einigungsvertrag beider Staaten unterzeichnet, am 20. September stimmen die Volkskammer und der Bundestag zu. Am 3. Oktober 1990 ist die DDR Geschichte und mit ihr das gerade erst frei gewählte Parlament.