Ukraine: Kann der Taurus den Krieg entscheiden?
Deutschland könnte der Ukraine 300 Taurus-Marschflugkörper liefern. Sie arbeiten präziser als andere Systeme. Doch reicht das, um Kiews Probleme an der Front zu beheben?

Deutschland könnte der Ukraine 300 Taurus-Marschflugkörper liefern. Sie arbeiten präziser als andere Systeme. Doch reicht das, um Kiews Probleme an der Front zu beheben?
In Deutschland ist die Taurus-Debatte erneut aufgeflammt: Soll Berlin den Marschflugkörper an die Ukraine liefern oder nicht? Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz lehnt das ab, während sein wahrscheinlicher Nachfolger, CDU-Chef Friedrich Merz, entgegengesetzte Signale sendet.
Was ist Taurus für eine Waffe?
Taurus ist ein hochentwickelter Marschflugkörper, der ausschließlich aus der Luft gestartet wird. Er benötigt ein Trägerflugzeug, im Gegensatz zu einer ballistischen Rakete, die von Bodensystemen abgefeuert wird. Ballistische Raketen folgen einer elliptischen Flugbahn: Sie steigen zunächst in große Höhen auf und stürzen dann zur Erde zurück. Ein Marschflugkörper wie der Taurus verfolgt, angetrieben von einem Mantelstromtriebwerk, eine kontinuierliche, gesteuerte, flache Flugbahn. Die Rakete kann extrem tief fliegen und das Geländeprofil nutzen, um Bodenradaren zu entgehen. Zudem ist sie hoch manövrierfähig, sodass sie ihr Ziel umfliegen und es etwa "von hinten" angreifen kann.
Ähnliche Fähigkeiten besitzen andere Marschflugkörper wie die russischen 3M-14 Kalibr (1500–2500 Kilometer Reichweite) oder die britischen Storm Shadows, während die russischen Kh-101/Kh-102 für strategische Einsätze mit größerer Reichweite ausgelegt sind. Von den Storm Shadows und den nahezu identischen französischen Scalp-EG hat die Ukraine schätzungsweise 200 bis 300 Exemplare erhalten.
Die Taurus-Raketen sind jedoch moderner und leistungsfähiger, weshalb sie schwerer abzufangen sein dürften. Ein wesentlicher Vorteil ist ihre hohe Präzision und Störresistenz durch vier unabhängige Navigationssysteme. Zudem ist ihr Mephisto-Gefechtskopf speziell für gehärtete Ziele wie verbunkerte Kommandozentralen ausgelegt, eine Fähigkeit, die ATACMS-Raketen fehlt, während Storm Shadow ähnliche, aber weniger moderne Gefechtsköpfe nutzt. Der Taurus-Marschflugkörper hat eine Reichweite von 500 bis 600 Kilometern, während die von Storm Shadow zwischen 250 (Exportversionen) und 560 Kilometern (Standardversion) liegt.
Ohne eine überragende Wirkung des Taurus anzunehmen, ist eine kriegsentscheidende Wirkung unwahrscheinlich. Mit ATACMS und Marschflugkörpern erzielte die Ukraine spektakuläre Erfolge, die den Kriegsverlauf jedoch nicht nachhaltig beeinflussten.
Die Hoffnungen basieren auf einer überlegenen Wirksamkeit der Taurus-Marschflugkörper, etwa der Fähigkeit, Kommandozentralen mit schwer ersetzbarem Personal oder stark gesicherte Ziele wie die Kertsch-Brücke auszuschalten. Die Brücke bleibt ein Prestigesymbol und ist für die russische Logistik auf der Krim wichtig, hat jedoch keine kriegsentscheidende Bedeutung, da alternative Routen existieren.
Zu befürchten ist, dass die Effektivität des Taurus-Systems im Einsatz nachlassen könnte. Im Gefecht wird ein System für den Gegner sichtbar, sodass er lernen kann, wie er es stören oder abfangen kann. Diese Reduzierung der Wirksamkeit würde sich womöglich nicht auf die Ukraine beschränken: Russland könnte Erkenntnisse an Verbündete wie China oder den Iran weitergeben.
Nachschubprobleme und Hoffnungen
Unabhängig von seinen besonderen Fähigkeiten wäre das Taurus-System auch willkommener Nachschub für die Ukraine, der die weitreichenden Fernwaffen auszugehen drohen. Es ist wahrscheinlich, dass die Trump-Regierung keine weiteren ATACMS liefern wird, insbesondere da die Ukraine im Januar 2025 ihre Vorräte erschöpft hat. Bisher wurden etwa 200 bis 300 ATACMS entsandt. Paris und London verfügen noch über Marschflugkörper, doch bei einem Verbrauch von etwa 20 bis 30 Storm Shadow/Scalp-EG pro Monat sind ihre Bestände so weit geschrumpft, dass weitere Lieferungen die eigenen Streitkräfte gefährden würden.
Deutschland verfügt insgesamt über 600 Taurus-Marschflugkörper, von denen derzeit etwa 300 einsatzbereit sind. Die übrigen könnten laut Hersteller MBDA zeitnah wieder einsatzfähig gemacht werden. Im Oktober 2024 wurden weitere 600 modernisierte Taurus Neo bestellt, die mit verbesserter Elektronik und potenziell größerer Reichweite ausgestattet sind, deren Lieferung jedoch erst ab 2029 beginnt, weshalb sie für die aktuelle Situation irrelevant sind..
Addiert man ATACMS und Marschflugkörper, ergibt sich fr die Ukraine folgendes Bild: Der monatliche Verbrauch liegt bei 14 bis 20 ATACMS und 20 bis 30 Marschflugkörpern, insgesamt also 34 bis 50 Exemplaren. Würde Deutschland maximal 300 Taurus liefern, könnte dies den Nachschub für sechs bis neun Monate sichern. Für eine dauerhafte Unterstützung reicht dies jedoch nicht.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Russland vergleichbare Systeme einsetzt. Durchschnittlich verwendet Moskau etwa 60 bis 100 Marschflugkörper und 20 bis 40 Iskander-Raketen pro Monat. Hinzu kommen mehr als 1000 einfache Angriffsdrohnen wie die Geran-2, in einzelnen Monaten sogar über 2500 Stück. Für 2025 plant Russland, diese Zahl auf 7500 bis 9000 Drohnen pro Monat zu steigern, einschließlich Geran-2, Shahed-238 und Garpiya-A1, sofern die Produktion dies ermöglicht.
Deutsche Beteiligung
Besonders umstritten ist die deutsche Beteiligung am Taurus-Einsatz. In der deutschen Bevölkerung kommt eine mögliche Lieferung nicht gut an. Nur etwa 30 Prozent sind dafür, während 64 Prozent sie ablehnen, wie eine Forsa-Umfrage vom März 2025 zeigt.
Spanien und Südkorea nutzen Taurus-Systeme unabhängig von Berlin. Grundsätzlich wäre es möglich, mit Unterstützung des Herstellers ein autonomes System für die Ukraine bereitzustellen. Ähnliches gilt für die speziellen Geodaten, die der Taurus benötigt. Kiew könnte diese nicht eigenständig gewinnen und wäre auf die Hilfe westlicher Partner, etwa die Nato oder kommerzielle Anbieter, angewiesen, was die Abhängigkeit von den USA verringern könnte. Ein autonomes "Ukraine-System" würde jedoch mehr Zeit und Kosten erfordern als die bloße Lieferung und Integration der Taurus in Trägerflugzeuge. Bei der Zielauswahl wäre Kiew dann allerdings auch vollkommen unabhängig von Berlin.
Zur Kriegspartei würde Deutschland durch eine Taurus-Lieferung nicht automatisch. Dies könnte jedoch als juristische Spitzfindigkeit gesehen werden, da der Fokus auf "automatisch" liegt. Es ist denkbar, dass Russland eine solche Lieferung als Provokation auffassen und Gegenmaßnahmen, wie diplomatische oder hybride Aktionen, ergreifen würde – vermutlich ohne formelle Kriegserklärung, wie es seit 1945 in den meisten Konflikten üblich ist. Als die USA 2003 den Irak angriffen, erklärten sie Bagdad ebenfalls nicht den Krieg.