Rath checkt ein: „Widder Hotel“ in Zürich: Altes Brauchtum, modernes Konzept
Ist Luxus mit Nachhaltigkeit vereinbar? Mit dieser Frage im Kopf reist unser Kolumnist nach Zürich. Die Antwort sucht er in einem Fünf-Sterne-Hotel, das aus neun mittelalterlichen Gebäuden besteht

Ist Luxus mit Nachhaltigkeit vereinbar? Mit dieser Frage im Kopf reist unser Kolumnist nach Zürich. Die Antwort sucht er in einem Fünf-Sterne-Hotel, das aus neun mittelalterlichen Gebäuden besteht
1988 stand die Schweizer Architektin Tilla Theus vor einer kniffligen Aufgabe: In ein denkmalpflegerisch sensibles Quartier mit acht Stadthäusern aus dem Mittelalter sollte sie ein Luxushotel integrieren. Statt die Abrissbirne zu bestellen, fügte ihr Konzept das Hotel in die bestehenden Strukturen ein und ließ den historischen Bauten ihre Kleinräumigkeit. Das Resultat war das „Widder Hotel“, eines der ersten Designhotels überhaupt.
Le Corbusier statt Plüsch und Brokat
Ihre unkonventionelle Philosophie setzte sich in der Gestaltung der Innenräume fort. Zu einer Zeit als Luxushotels oft reichlich museal daherkamen – voller Plüschpolster, Brokatbezüge, Stuckdecken, Samtvorhänge und nachgemachter Antiquitäten – setzte Theus auf Designmöbel, darunter Klassiker von Le Corbusier und Mies van der Rohe. Zudem ließ sie Bilder von Künstlern wie Robert Rauschenberg, Andy Warhol oder Max Bill aufhängen. Kein Zimmer gleicht dem anderen, alle 14 Suiten, von denen die größte 164 Quadratmeter misst, sind individuell eingerichtet. Jeder Gast sollte die Seele des 700 Jahre alten, traditionsreichen Stadthausensembles spüren und sich zugleich wie in einem luxuriösen Designhotel (wohl-)fühlen.
Der Managing Director Benjamin Dietsche erklärt mir, dass sich im Quartier anno 1401 die „Zunft zum Widder“ angesiedelt hatte, was dem Hotel seinen Namen eingebracht habe. Noch heute trifft sich die Gilde der Metzger hier regelmäßig zu Mitgliederversammlungen.
© PR
Im Gespräch mit Benjamin Dietsche kommt mir meine Frage wieder in den Sinn, ob sich erstklassiger Lebensstil mit ökologischer Verantwortung verbinden lässt. Für ihn steht das nicht im Widerspruch, er sieht beides vielmehr als Versprechen für die Zukunft der Luxushotellerie. Im nachhaltigen Tourismus verfügt Dietsche über einige Erfahrung. So leitete er das „CERVO Mountain Ressort“ in Zermatt und ist Vorstandsmitglied der „Responsible Hotels of Switzerland“, einer Vereinigung von 30 Betrieben, die im Bereich ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit führend sind. Seit 1. Dezember 2024 ist er General Manager im „Widder Hotel“, was einer gewissen Karrierelogik nicht entbehrt.
© Stefania Giorgi
„The Living Circle“ mit Luxushotel und Bauernhof
2018 übernahm die Schweizer Hotel- und Restaurantgruppe „The Living Circle“, zu der die Zürcher Luxushotels „Storchen“ sowie „Alex Lake“ gehören, das Management des Hauses. Und es war Marco Zanolari, der CEO der Gruppe, der Benjamin Dietsche auf die ausgeschriebene Stelle aufmerksam machte. So schloss sich der Kreis.
Ich kenne und schätze Marco Zanolari seit langer Zeit. Vor 25 Jahren durfte ich bereits mit ihm zusammenarbeiten und ihn in Aktion erleben. Wie er Luxus, Spitzenhotellerie und Nachhaltigkeit versteht und unter dem Motto „Luxurxy fed by Nature“ verbindet, das darf man als visionär bezeichnen. Neben den Hotels zählen gastronomische Flaggschiffe und drei regionale Bauernhöfe zum Kosmos der Gruppe. Sie bilden die Basis einer Kreislaufwirtschaft, bei der Landwirtschaftsbetriebe direkt mit Hotels und Restaurants im Geschäft sind und diese regelmäßig mit einer Vielzahl von Produkten und Erzeugnissen versorgen.
Was das konkret heißt, wird mir beim Besuch der „Widder Bar“ und des „Widder Restaurants“ klar. Sie erstrecken sich über zwei der insgesamt neun Gebäude. Die Deckenkonstruktion, unter der Küchenchef Stefan Heilemann und sein Team mit regionalen Zutaten aus dem eben beschriebenen Kreislaufsystem von „The Living Circle“ agieren, ist eine Reminiszenz an den mittelalterlichen Baustil. Beides, der Sinn für Historie, für Tradition und Werte, wie auch der Wille, es mit nachhaltigen Bemühungen ernst zu meinen, dürfte den immer anspruchsvolleren Gästen der Luxushotellerie gefallen. Es passt zum Zeitgeist.
Transparenz von der Farm bis auf den Teller
Vom Zürcher Hof Schlattgut beziehen die Häuser Milch und Eier, die rund 1000 glückliche Hühner fleißig legen. Die Fleisch- und Wurstprodukte kommen aus dem Jura. Weiter südlich, in Ascona, besitzt die Gruppe die Cantina alla Maggia. Dort keltert sie eigene Weine. In der gleichen Region werden Reis und Mais angebaut, beispielsweise für Polenta.
Aus diesen Rohstoffen kreiert Stefan Heilemann Gerichte, die auf den Grundsätzen der klassischen Küche beruhen und kombiniert sie mit exotischen Aromen. Diese Raffinesse hat dem „Widder Restaurant“ stolze 18 Gault Millau-Punkte und zwei Michelin-Sterne eingebracht. Ich bin gespannt, wann Heilemann die nächste Etappe erklimmt, den Olymp der 19 Punkte.
© Stefania Giorgi
Die Gäste schätzen diese transparente kulinarische Herangehensweise. Sie möchten wissen, woher das Essen auf ihren Tellern kommt, wie es produziert wurde. Ist ein Industriebetrieb die Quelle oder eine Kuh, die tatsächlich Freude hatte in ihrem Leben? Das „Widder Hotel“ geht noch einen Schritt weiter: Wer mag, darf die Bauernhöfe besuchen und selbst erkunden, woher Frühstück, Lunch und Abendessen stammen. Solche „experiences“ gehören für mich zu den neuen Definitionen des Luxusbegriffs, und Benjamin Dietsche glaubt, dass Gäste all das künftig noch stärker nachfragen werden.
Jüngst wurde das Hotel für seinen ehrgeizigen Weg von Earth Check ausgezeichnet, einer weltweit agierenden Unternehmensberatung, die auf Nachhaltigkeit und Destinationsmanagement in der Reisebranche spezialisiert ist. Ihre Experten sprechen dem „Widder Hotel“ eine bedeutende Führungsposition bei „sustainability“ zu.
© Stefania Giorgi
Lob von grünster Stelle
Die jahrhundertealte Geschichte, die einzigartige Ästhetik und der klare Blick nach vorn im „Widder Hotel“ sind beeindruckend. Auch die Zürcher mögen das Haus, erzählt der Direktor. Sie genießen ein feines Dinner bei Stefan Heilemann oder verbringen einen schönen Abend in der „Widder Bar“ mit ihren uralten Holzbalken, rotem Leder und einer Wand aus Lapislazuli. Nicht zu vergessen die bombastischen 650 Whiskysorten (!) hinter dem freundlichen und kreativen Bartender.
Fazit: Dieses Haus ist für mich ein kleines Juwel, ein edles Hideaway mitten in der Stadt. Und, ja, luxuriöser Lebensstil schließt ökologische Verantwortung keineswegs aus. Das ist mir im „Widder Hotel“ erneut klar geworden.