Medizingeschichte: Carlo Giacomini: Der Mann mit den tausend Gehirnen

Ende des 19. Jahrhunderts konservierte der Anatom Carlo Giacomini mehr als tausend Gehirne. Seine Untersuchungen widersprachen der damals populären Theorie vom "geborenen Verbrecher"

Apr 8, 2025 - 15:49
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Medizingeschichte: Carlo Giacomini: Der Mann mit den tausend Gehirnen

Ende des 19. Jahrhunderts konservierte der Anatom Carlo Giacomini mehr als tausend Gehirne. Seine Untersuchungen widersprachen der damals populären Theorie vom "geborenen Verbrecher"

Gibt es das "Verbrechergehirn"? Und wenn ja: Wie sieht es aus? Ende des 19. Jahrhunderts begannen Ärzte und Naturwissenschaftler, Verbrecher anhand äußerer Körpermerkmale zu typisieren – und stellten die Theorie auf, Anomalien des Schädels und der Gehirnoberfläche kennzeichneten Kriminelle. Allen voran der Italiener Cesare Lombroso: Er verbreitete erfolgreich die Erzählung vom "geborenen Verbrecher".

Doch nicht alle Wissenschaftler folgten seiner These: Der Anatom Carlo Giacomini untersuchte mehr als tausend menschliche Gehirne. Und widerlegte mit seinen Ergebnissen die weitverbreitete Annahme von den "Verbrechergehirnen".

Konservierte Gehirne schrumpelten zusammen

Giacomini, 1840 in der norditalienischen Provinz geboren, studierte in Turin Medizin und präparierte anschließend zunächst Körperteile menschlicher Leichen für die Forschung. Mit gerade 36 Jahren wurde er Direktor des dortigen, renommierten Anatomischen Instituts und konzentrierte sich in seinen Studien schnell auf Gehirne. Bei den Untersuchungen sah er sich – genau wie alle anderen Wissenschaftler seiner Zeit – mit einem gravierenden Problem konfrontiert: Es gab keine geeigneten Konservierungsmethoden. 

Die meisten Anatomen härteten Gehirne – nachdem sie dem Schädel eines Leichnams entnommen worden waren – durch eine Lösung auf der Basis von Salpetersäure, Alkohol und Kaliumdichromat aus. Dabei entstanden jedoch Risse. Vor allem aber schrumpelten die so behandelten Organe zusammen.

Deshalb entwickelte Giacomini ein neues, zweistufiges Verfahren, Gehirne zu konservieren. Dafür tauchte er das Organ zunächst in eine Lösung aus Zinkchlorid und anschließend aus Glycerin. Bis zu 15 Tage nahm das Prozedere in Anspruch. Das auf diese Weise gehärtete Gehirn sollte sich – so der Anatom – sowohl zu Forschungszwecken als auch als Lehrmaterial für Studierende eignen. Das Verfahren, das Giacomini 1878 vor der Königlichen Akademie für Medizin in Turin vorstellte, wurde zur Basis seiner weiteren Arbeit. Zugleich baute er das Institutsmuseum mit einer Kollektion präparierter Organe aus.

Im Lauf seiner Karriere konservierte Giacomini mehr als tausend Gehirne – von Frauen und Männern, von jüngeren und älteren Menschen, von Personen, die in Krankenhäusern das Zeitliche gesegnet hatten, genauso wie von in Gefängnissen verstorbenen.

Giacomini: Gehirne von Verbrechern weisen keine Besonderheiten auf

Dabei stellte er fest: Merkmale, die Cesare Lombroso und andere Wissenschaftler als Kennzeichnen für das "Verbrechergehirn" klassifiziert hatten, ließen sich auch an zahlreichen Gehirnen von Personen nachweisen, die nie im Gefängnis gelandet waren. 

Entsprechend erklärte Giacomini: "Tatsache ist jedoch, dass wir nicht feststellen können, dass die Gehirne von sozialen Außenseitern eine bestimmte Art der Anordnung aufweisen, sondern vielmehr die gleichen Variationen in den gleichen Proportionen wie andere Gehirne, und wir können diese Variationen in keiner Weise mit ihren böswilligen Handlungen in Verbindung bringen." Bestimmte Windungen des Gehirns seien – so der Anatom weiter – nicht an besondere Eigenschaften oder Fähigkeiten eines Individuums gebunden. 

Skelett von Carlo Giacomini
Das Skelett Carlo Giacominis befindet sich heute im Museum für menschliche Anatomie in Turin – samt seinem Gehirn
© Museum of Human Anatomy, University of Turin

Giacominis Ergebnisse verhallten jedoch in der Diskussion um "geborene Verbrecher" – auch weil der Wissenschaftler 1898 plötzlich an einem Schlaganfall starb und seine Studien teils unvollständig blieben. Während die Nationalsozialisten später Lombrosos Theorien radikalisierten, um ihre Euthanasieprogramme zu legitimieren, geriet Giacomini in Vergessenheit.

Sein letzter Wille aber wurde erfüllt: Er vermachte sein Skelett dem Anatomischen Institut von Turin – und verfügte, sein Gehirn solle nach seiner Methode konserviert und ausgestellt werden. Heute befindet es sich in einer Glasglocke zu Füßen des Skeletts im Museum für menschliche Anatomie.