Late Bloomers: Und dann verliebte sie sich in eine Frau

"Late Bloomers", Spätblühende, werden Menschen genannt, die erst mit fortschreitendem Alter entdecken, dass sie queer sind. Wie fühlt sich das an? Und wie geht es anderen damit?

Mai 10, 2025 - 20:09
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Late Bloomers: Und dann verliebte sie sich in eine Frau

"Late Bloomers", Spätblühende, werden Menschen genannt, die erst mit fortschreitendem Alter entdecken, dass sie queer sind. Wie fühlt sich das an? Und wie geht es anderen damit?

Sie ist 13 Jahre mit einem Mann zusammen, als sich Anja Weidemann in ihre Kollegin verguckt. Beide arbeiteten für die gleiche Messebaufirma in Stuttgart. "Das war ein unfassbares Gefühl. Ich bin tagelang mit Herzklopfen zur Arbeit", sagt die gelernte Speditionskauffrau, damals 47.

Late Bloomers: Late to the Party

Wie kommt es, dass Menschen weit nach der Pubertät merken, dass sie gleichgeschlechtlich lieben? Anja Weidemanns Coming-out ist zwölf Jahre her. Sie hatte vorher nie eine Frau geküsst, nicht mal als Teenagerin. In der Schule schwärmt sie für Martin, wie andere Mädchen auch für irgendwen schwärmen. "In meinem Umfeld gab es keinen einzigen queeren Menschen", sagt die 59-Jährige. Einen festen Freund hat sie lange nicht. "Aber ich dachte immer: Irgendwann wird der Richtige schon auftauchen", sagt Weidemann. 

Erst mit 32 lernt sie D. kennen, über gemeinsame Freunde. Sie seien sich charakterlich sehr ähnlich gewesen, "ein richtig lieber Kerl. Wir haben uns unheimlich gut verstanden". Zehn Jahre lang, dann hat sie das Gefühl, dass immer sie diejenige ist, die Ausflüge und Treffen mit Freunden plant. "Ich wusste: Irgendwas fehlt", sagt Weidemann. Nach einer USA-Reise trennt sie sich. "Als ich es ausgesprochen habe, war es eine Katastrophe. Für ihn kam es aus heiterem Himmel." Das tat ihr leid, aber es war auch der Moment, in dem ihr klar wurde, was seit ein paar Wochen mit ihr los war: Warum sie so gut gelaunt, fast euphorisch zur Arbeit ging. "Ich habe gemerkt: Du bist in deine Kollegin verliebt."

Viele Late Bloomers berichten, dass sie überrascht waren. "Die internalisierte Homophobie sorgt für diese Verdrängungsleistung, teilweise ganz unbewusst", sagt Götz Mundle, Psychotherapeut und Leiter des Referats für Sexuelle Orientierung und Identität bei der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV). Die heteronormative Prägung, Mann-Frau-Kind, würde schon in der Kindheit verinnerlicht. "Dazu ist eine Person, die heute 50 ist und ihr Coming-out hat, in einer ganz anderen Zeit aufgewachsen", sagt der Therapeut. Ohne Pride und ohne Ehe für alle.

Echt lieben ist wichtig und tut gut

In vielen Klassenzimmern sind homophobe Sprüche zwar auch heute noch Alltag, aber es gibt Vorbilder wie Billie Eilish, Andrew Scott oder Kevin Kühnert – die offen queer leben. Es gäbe die verbreitete Vorstellung, dass jemand nur entweder hetero- oder homosexuell sein kann, so Götz Mundle, "dabei ist es ein Spektrum, auf dem jede und jeder individuell verortet ist".

Aktuelle Studien zeigten sogar, dass sich sexuelle Orientierung im Lauf eines Lebens ändern kann. "Eine offen gelebte Sexualität ist wichtig für unser Wohlbefinden, vergleichbar mit dem sozialen Umfeld, einem Freundeskreis oder einem Beruf." Fehlt ein Aspekt über längere Zeit, erhöht sich das Risiko für psychische Erkrankungen.

Mit der Frau aus ihrer Firma hat es dann nicht geklappt, sie war nicht in sie verliebt. Aber Anja Weidemann ist neugierig. Bei ersten Erkundungen merkt sie, dass die lesbische Szene in Stuttgart überschaubar ist. Einmal im Monat gibt es eine "Frauen-Disco", die anderen Läden sind Schwulenbars. Was macht sie damals eigentlich so sicher, dass sie lesbisch und nicht bisexuell ist? "Es hat sich ganz anders angefühlt als in meinen Heterobeziehungen – emotional viel intensiver." Abends auf dem Heimweg sei sie zu "This Is My life" und anderen queeren Hymnen durch die Stadt getanzt. Doch was sich für Anja Weidemann anfühlt wie eine Befreiung, ist für eine andere Frau, keine 200 Kilometer entfernt, ein Desaster.

Das späte Coming-out und seine stillen Folgen

2021, zwei Tage vor Weihnachten, gesteht Karin Wagners Ehemann ihr, dass er eine Affäre mit einem Mann hat. Nach 35 Jahren Beziehung, zwei erwachsenen Kindern, Haus und Garten. "Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, nichts stimmte mehr", sagt die 68-jährige Familientherapeutin.

Ihr Name wurde geändert, weil sie öffentlich nicht erkennbar sein will, aber sie möchte auf die Situation betroffener Partner:innen und Kinder bei späten Coming-outs aufmerksam machen. "In der Selbsthilfegruppe, in der ich bin, hab ich so viel Leid mitbekommen: Männer, die betrügen, lügen und der Frau die Schuld zuschieben."

Nach dem Coming-out muss sie am Nachmittag zur Arbeit. Erst auf dem Rückweg im Auto bricht es aus ihr heraus. Sie weint so sehr, dass sie die Straße kaum erkennen kann. "Wir waren lange ein gutes Paar, sonst wäre ich nicht 35 Jahre mit ihm zusammengeblieben."

Jetzt stellt sie alles infrage: Hatte er sie je geliebt? Waren sie und die Kinder nur eine Alibi-Familie? Außerdem schämt sie sich. Sie schämt sich vor ihrem Umfeld, dass ihr das passiert ist.

Ihr Mann, 73, sagt zu der Zeit jedem, der es hören will, dass er queer ist und sich fühlt wie in einer zweiten Pubertät. Er wolle aber auch mit ihr zusammenbleiben, in einer polyamoren Beziehung. Zweimal im Jahr wolle er "mit ihm" in den Urlaub fahren. Wagner macht klar, dass sie sich auf so ein Modell nie einlassen würde, und die Anfeindungen werden schlimmer: Es sei ihre Schuld, dass er das so lange "unter dem Deckel" halten musste. Sie sei bestimmend und habe ihn dominiert. Sie sagt, dass er sich eine Wohnung suchen und ausziehen soll. Als er das Haus verlässt, schnurrt ihre jahrzehntelange Beziehung auf wenige Zeilen zusammen. Sie kommunizieren fast ausschließlich per Mail.

Was bleibt, sei das Gefühl gescheitert zu sein, sagt Wagner. Betroffene fühlten sich grundlegend getäuscht. "Dabei kann es Liebe gewesen sein, zumindest auf menschlicher Ebene", sagt Psychotherapeut Götz Mundle. Deshalb sei es im Coming-out-Gespräch so wichtig, die gemeinsame Beziehung zu würdigen und deutlich auszusprechen, dass der andere keine Schuld hat.

Spät, aber strahlend: Wenn das Leben endlich bunt wird

Und Anja Weidemann? Wie geht es bei ihr weiter? Ihre ersten Ausflüge führen sie bald zu politischen Initiativen. Sie hilft, Demonstrationen zu organisieren, gegen Schulbücher, die queere Lebensentwürfe ignorieren, läuft bei CSD-Paraden mit und wird Mitglied der Initiative "Projekt 100 % Mensch", die sich für queere Sichtbarkeit einsetzt. Aber eine Partnerin zu finden, fällt ihr schwerer. Ab und zu lernt sie jemanden über Foren oder Dating-Apps kennen. Sie verabredet sich, manche sieht sie länger. Aber richtig verliebt ist sie nicht mehr. Bis sie im Frühjahr 2018 beschließt, sich ein Parship-Profil anzulegen und den langen Fragebogen durcharbeitet. Drei Wochen später verbindet sich ihr Profil mit dem einer Richterin aus der Schweiz. Salome ist auch Late Bloomer, sie war 25 Jahre mit einem Mann verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.

Sie schreiben hin und her, dann fährt Weidemann die 215 Kilometer zu ihr. Eine offene, eigenständige Frau, kurze Haare – das mochte sie. "And the rest is history", sagt sie. Zusammen erkunden sie Zürich und später Stuttgart, gehen in die Natur, ins Theater oder zu Lesungen. "Sie ist auch politisch engagiert. Sie war die Kampagnenführerin für die Ehe für alle in der Schweiz", sagt Weidemann. 2020 heiraten sie spontan in Stuttgart. Und vor zwei Jahren erfüllen sie sich einen Traum und fliegen zur weltweit größten Pride nach New York.

Für Anja Weidemann hat sich 2012 mehr geändert, als dass sie jetzt auf Frauen statt auf Männer steht. "Auf einmal in den richtigen Schuhen zu stecken, war ein ganz anderes Lebensgefühl."