Geht das nur mir so? : Läuft bei mir: Wie mich mein Handy neuerdings aus dem Haus treibt
Seit sie einen Schrittzähler hat, bewegt sich Stefanie Hentschel nicht mehr, um von A nach B, sondern um auf die richtige Zahl in der App zu kommen. Über eine bis vor Kurzem noch ungeahnte Befriedigung.

Seit sie einen Schrittzähler hat, bewegt sich Stefanie Hentschel nicht mehr, um von A nach B, sondern um auf die richtige Zahl in der App zu kommen. Über eine bis vor Kurzem noch ungeahnte Befriedigung.
Ein Blick in den Kühlschrank: Eine angebrochene Milch ist noch da. Die reicht morgen gerade so für den Frühstückskaffee – hätte mein altes Ich von vor zwei Jahren gedacht und die Kühlschranktür wieder zugemacht. Wenn ich angenommen hätte, dass ich morgen früh lieber zwei Milchkaffee würde trinken wollen, hätte dasselbe alte Ich den Mann gefragt, ob er nicht vielleicht noch kurz zum Kiosk gehen möchte (Erfolgsaussicht: fifty-fifty). Heute flöte ich: "Ich geh noch mal kurz raus!", werfe mich in den Mantel und gehe selbst. Ich bin heute nämlich noch 2400 Schritte im Rückstand, und die laufen sich nicht von allein.
Der Zehntausend-Schritte-Mythos
Seit ich den Schrittzähler auf meinem Handy entdeckt habe, bewege ich mich nicht mehr zu Fuß, um von A nach B, sondern um auf eine akzeptable Zahl in der App zu kommen. Jeden Schritt zeichnet der Tracker auf, und das Belohnungsgefühl, wenn da abends was mit mindestens drei Nullen steht, macht süchtig. Ein populärer Mythos besagt, 10 000 Schritte am Tag seien gut. Wenn man das googelt, findet man ganz viele Artikel, in denen steht, dass diese völlig willkürliche Nummer auf eine japanische Werbekampagne von 1964 (!) zurückgeht. Schlaue Japaner hatten den ersten Schrittzähler der Welt entwickelt, damals natürlich noch nicht fürs Handy, und einfach mal behauptet, wenn man damit täglich auf diese schöne runde Summe komme, verlängere man seine Lebenserwartung enorm – und wer will das nicht? Das ist aber genauso wenig wissenschaftlich belegt wie die zwei Liter Wasser, die man am Tag angeblich trinken soll. Mein wunderbarer Zahnarzt traut sich sogar, an der Regel "Morgens und abends Zähne putzen" zu zweifeln – er sagt, es würde ihn nicht wundern, wenn das eine Erfindung der Zahnpastalobby wäre, weil: abends reicht eventuell.
Ein kleiner Erfolg
Mich beruhigt es sehr, dass es nicht unbedingt 10 000 Schritte am Tag sein müssen, denn ich habe mich mit mir selbst darauf geeinigt, dass wir abends mit uns zufrieden sind, wenn wir 6000 geschafft haben, was genauso aus der Luft gegriffen ist wie 10 000. Ich habe versucht, zu ergründen, warum mir das plötzlich so wichtig ist (wer mich kennt, weiß, dass Fitness sonst eher nicht zu meinen Lebenszielen gehört). Ich glaube, es ist einfach das gute Gefühl, täglich etwas erreicht zu haben, auch wenn sonst vielleicht nichts geklappt hat. Immer noch nicht die Rumpelkammer, auch "Kammer der Schreckens" genannt, aufgeräumt? Schon wieder vor dem einen unangenehmen Anruf gedrückt? Konto überzogen? Hey, wen interessiert’s, ich bin heute 8900 Schritte gegangen und quasi Olympiahoffnung (ProTipp: etwas über 1000 kommen schon beim Gang durch den Supermarkt zusammen).
Die Kehrseite des Trackings
Da jeder zurückgelegte Schritt bestimmt irgendwie gut ist, kann die Besessenheit mit den Trackern eigentlich nicht schaden, aber einen Haken gibt es immer. Auf Ausflügen mit meinem alten Freund Marcus liegt ein Schatten, seit wir beide einen Schrittzähler haben – und zwar genau die gleiche App auf genau dem gleichen Handytyp. Aber selbst wenn wir an einem Tag keinen Schritt getrennt voneinander tun, zeigt sein Bildschirm am Abend mindestens 2000 mehr an als meiner. Ein Mysterium, das wir nicht lösen können, das aber tiefen, grimmigen Fußwegneid in mir auslöst. Das andere Problem tritt auf, wenn beim Spazierengehen mein Handyakku abschmiert und das tote Teil nicht mehr aufzeichnet. Dann können Landschaft, Wetter und Begleitung noch so schön sein – ich stapfe dennoch mit schweren Schritten durch die Nutzlosigkeit meines undokumentierten Marsches und sehne mich nach meinem Sofa.