Continental: „Wir müssen uns neu erfinden“
Dr. Ralf Schnupp beschreibt den Umbau von Continental als Transformation im laufenden Betrieb – mit alten Stärken, die plötzlich zum Risiko werden. Der Beitrag Continental: „Wir müssen uns neu erfinden“ erschien zuerst auf Elektroauto-News.net.

Bei der diesjährigen Ausgabe der Automotive Masterminds in Berlin gewährte Dr. Ralf Schnupp, Head of Strategic Transformation Automotive bei Continental, tiefe Einblicke in die laufende Neuausrichtung des Unternehmens. Sein Vortrag, der unter dem Titel „Transforming an Automotive Tier 1 for Future Mobility“ stand, war dabei weit mehr als ein Strategie-Update – er war ein ehrlicher Lagebericht über die fundamentalen Herausforderungen, denen sich ein global agierender Automobilzulieferer heute stellen muss.
Schnupp beleuchtete nicht nur die technologischen Weichenstellungen, sondern betonte vor allem den kulturellen und strukturellen Wandel, der nötig sei, um aus einem klassischen Tier-1-Zulieferer einen agilen, softwaregetriebenen Systempartner für die Mobilität von morgen zu machen. „Transformation ist kein Projekt“, stellte er klar. „Es ist ein tiefgreifender Umbau unseres Selbstverständnisses.“ Wir waren vor Ort mit Elektroauto-News dabei und möchten euch einen Einblick hinter die Kulissen des Wandels von Continental gewähren.
Zwischen Größe und Trägheit – die Herausforderung eines globalen Footprints
Wie tiefgreifend die Transformation bei Continental ausfällt, wird deutlich, sobald man sich die operative Realität des Unternehmens vergegenwärtigt. Die Automotive-Sparte allein erwirtschaftete im Jahr 2024 einen Umsatz von 19,4 Milliarden Euro – getragen von einem weltweit verzweigten Netzwerk: 48 Entwicklungszentren, 56 Produktionsstandorte, über 30 000 Ingenieurinnen und Ingenieure, verteilt auf 28 Länder. Hinzu kommen mehr als 1900 laufende Entwicklungsprojekte, organisiert in über 50 Produktgruppen und -clustern.
Diese Struktur steht sinnbildlich für das, was Schnupp als „Legacy“ bezeichnet – ein historisch gewachsenes System aus Prozessen, Verantwortlichkeiten und Routinen, das zwar über Jahrzehnte Stabilität und Qualität gesichert hat, nun aber zunehmend zur Belastung wird. „Wir sind in vielen Bereichen sehr gut – aber eben auch sehr langsam“, so Schnupp. „Und in einer Welt, in der technologische Zyklen kürzer werden und Geschäftsmodelle sich schneller wandeln als je zuvor, ist das ein echtes Problem.“
Dabei sei die globale Präsenz keineswegs nur Nachteil – im Gegenteil: Sie ermöglicht Kundennähe, Marktzugang und eine breite Engineering-Expertise. Doch sie bringe auch kulturelle, regulatorische und organisatorische Herausforderungen mit sich. Unterschiedliche Länder, Sprachen, Gesetze und Kundenerwartungen sorgen für eine enorme Komplexität, die sich nicht mehr allein durch klassische Prozesse beherrschen lasse. „Es reicht nicht mehr, Silos zu optimieren“, betonte Schnupp. „Wir müssen sie aufbrechen.“ Genau darin liegt die Herausforderung: In einem Unternehmen dieser Größenordnung bedeutet Veränderung nicht nur einen Systemwechsel – sondern den behutsamen Umbau einer weltweit vernetzten Organisation, bei der jede Anpassung globale Folgen haben kann.
Wandel ohne Kompass? Warum alte Stärken zum Risiko werden können
Im Zentrum seiner Analyse steht eine unbequeme Erkenntnis: Was Continental über Jahrzehnte erfolgreich gemacht hat, kann in der aktuellen Transformation zur größten Hürde werden. Die Rede ist von etablierten Prozessen, stabilen Hierarchien und einer tief verwurzelten Ingenieurskultur – einem System, das auf Zuverlässigkeit, Präzision und langfristige Planung ausgelegt ist. Diese Stärken waren essenziell, als es darum ging, mechanische Systeme zu perfektionieren, Plattformen über Jahrzehnte zu betreuen und Innovationszyklen in überschaubaren Bahnen zu steuern. Doch heute, im Zeitalter der Software-Defined Vehicles, zählen andere Fähigkeiten: Geschwindigkeit, Iteration, Netzwerkdenken. „Was früher unsere Erfolgsformel war, ist heute unser Engpass“, brachte es Schnupp auf den Punkt.
Besonders herausfordernd sei dabei der mentale Wandel. Viele Mitarbeitende seien mit einem Selbstverständnis groß geworden, das Stabilität über Veränderung stellte. Entscheidungen wurden abgesichert, Verantwortung entlang klar definierter Linien verteilt, Risiken möglichst vermieden. Nun aber wird von denselben Teams erwartet, agil zu denken, Verantwortung proaktiv zu übernehmen und neue Wege zu gehen – auch wenn diese mit Unsicherheit verbunden sind. „Transformation bedeutet nicht nur, anders zu arbeiten“, so Schnupp. „Sie bedeutet, sich in Frage zu stellen – als Organisation, als Führungskraft, als Team.“
Dabei geht es nicht um Schuld oder Versagen, sondern um ein strukturelles Dilemma. Denn in einem Unternehmen dieser Größenordnung ist Veränderung immer auch eine Frage der Identität. Wer jahrzehntelang mit einem bestimmten Qualitätsverständnis gewachsen ist, tut sich schwer damit, Geschwindigkeit über Vollständigkeit zu stellen – auch wenn das notwendig ist. „Wir müssen lernen, dass ein schneller, unvollkommener erster Schritt besser ist als ein perfekter dritter, der zu spät kommt“, so Schnupp. Diese Denkweise zu verankern, sei die vielleicht größte Herausforderung überhaupt. Denn sie betrifft nicht nur Tools und Methoden – sondern das Selbstbild von Zehntausenden Menschen weltweit.
Externer Druck trifft auf interne Trägheit
Dass Continental diesen tiefgreifenden Wandel nicht aus eigenem Antrieb heraus vollzieht, sondern auch unter massivem externem Druck steht, machte er unmissverständlich klar. Die Automobilbranche befindet sich inmitten einer Zeitenwende – getrieben durch Elektromobilität, Digitalisierung, geopolitische Unsicherheiten und den Markteintritt neuer Player, vor allem aus China.
Technologische Standards verschieben sich, Plattformstrategien dominieren, klassische Wertschöpfungsketten lösen sich auf. Schnupp sprach in diesem Zusammenhang von einem „Fundamentalen Systemwechsel“, bei dem es nicht mehr darum gehe, das Alte besser zu machen, sondern das Neue überhaupt erst zu beherrschen. „Die traditionelle Wertschöpfungskette existiert so nicht mehr – und mit ihr verschwinden auch viele Geschäftsmodelle, die früher verlässlich funktioniert haben.“
Besonders betonte Schnupp die Dynamik technologischer Transformationen. Während etablierte Unternehmen häufig in Jahreszyklen denken, agieren neue Wettbewerber in Wochen. Cloud-native Architekturen, OTA-Updates, AI-Integration, datengetriebene Geschäftsmodelle – all das sei kein Zukunftsthema mehr, sondern bereits Realität. „Wir haben es nicht mit evolutionären Entwicklungen zu tun, sondern mit tektonischen Verschiebungen“, erklärte Schnupp. Die Konsequenz: Wer als Zulieferer überleben will, muss nicht nur liefern – sondern neu denken, schneller agieren, digitaler werden. Für Continental bedeutet das: weg vom klassischen Komponentenlieferanten, hin zum Anbieter integrierter Systemlösungen, Softwareplattformen und skalierbarer Services.
Die Strategie dahinter ist klar strukturiert – und folgt dem Dreiklang: Lead, Transform, Deliver. In diesen drei Begriffen steckt der gesamte Anspruch des Konzerns: In Zukunftstechnologien führen, die eigene Organisation grundlegend verändern – und das, was versprochen wurde, auch messbar einlösen. „Wir wollen nicht nur auf den Wandel reagieren“, so Schnupp, „wir wollen ihn mitgestalten.“
“Visionen sind wichtig – aber am Ende müssen wir liefern”
Was bei vielen Unternehmen nach Strategie-Folklore klingen mag, wird bei Continental mit konkreten Initiativen unterlegt, zumindest wenn man Schnupp Glauben schenken darf. Er machte deutlich, dass die drei Säulen Lead, Transform und Deliver nicht als Marketinghülsen zu verstehen seien, sondern als operative Leitplanken für den tiefgreifenden Wandel.
Unter Lead bündelt der Konzern alle Maßnahmen, die technologische Führungsfähigkeit sichern sollen – und das nicht nur in der Hardware, sondern vor allem in der Software. Hierzu zählen etwa Investitionen in domänenübergreifende Plattformlösungen, die Entwicklung zonaler Architekturen oder neue Ansätze in der Systemintegration. Schnupp betonte dabei auch die wachsende Bedeutung strategischer Partnerschaften und kundenindividueller Lösungen. Besonders im Fokus: der chinesische Markt. „China ist nicht nur ein Absatzmarkt“, so Schnupp, „sondern ein Innovationsmotor – und wer dort nicht präsent ist, verpasst entscheidende Entwicklungen.“
Die Säule Transform richtet sich nach innen: Sie zielt auf den kulturellen, organisatorischen und prozessualen Umbau der Continental-Welt. Employer Branding, Führungskräfteentwicklung und eine neue Feedbackkultur spielen dabei ebenso eine Rolle wie Effizienzsteigerung in Engineering, Produktion und Administration. Ziel sei es, nicht nur schlanker, sondern vor allem schneller und resilienter zu werden. Schnupp betonte: „Wir müssen lernen, über Hierarchiegrenzen hinweg zu arbeiten – und Entscheidungen da zu treffen, wo das Wissen sitzt, nicht da, wo die Organigrammspitze ist.“
Deliver schließlich steht für die konsequente Einhaltung von Zusagen gegenüber Kund:innen, Partnern und Mitarbeitenden – aber auch gegenüber sich selbst. Transformation, so Schnupp, sei kein Selbstzweck, sondern müsse sich in konkreten Ergebnissen niederschlagen: in Qualität, Liefertreue, Investitionsspielräumen und langfristigem Geschäftserfolg. Deshalb gehört zur Strategie auch ein Fokus auf finanzielle Steuerung und Cashflow-Optimierung. Oder wie Schnupp es formulierte: „Visionen sind wichtig – aber am Ende müssen wir liefern. Und zwar jeden Tag.“
Warum Transformationen scheitern und wie man dies verhindern möchte
Trotz klarer Strategie, ehrgeiziger Ziele und strukturiertem Vorgehen machte Dr. Ralf Schnupp eines unmissverständlich klar: Die Erfolgschancen für Transformationsprojekte sind ernüchternd. Studien zufolge scheitern rund 60 Prozent aller Veränderungsinitiativen – auch in der Automobilindustrie. Für ihn ist das keine abstrakte Statistik, sondern ein täglicher Begleiter im Transformationsalltag: „Wir wären naiv, wenn wir glauben, allein mit guten Konzepten durchzukommen. Transformation ist ein hochkomplexer, oft widersprüchlicher Prozess – und er scheitert nicht an der Technik, sondern an den Menschen.“
Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig, folgen aber wiederkehrenden Mustern. Mit 39 Prozent führt Schnupp den Widerstand innerhalb der Organisation als häufigste Ursache an – etwa durch Ängste, Unsicherheiten oder die bewusste Blockade etablierter Machtstrukturen. Weitere 33 Prozent seien auf das Verhalten des Managements zurückzuführen – etwa dann, wenn Führungskräfte den Wandel nicht glaubwürdig vorleben oder sich vor unbequemen Entscheidungen drücken. Hinzu kämen knappe Ressourcen, fehlende Budgets oder schlicht operative Überlastung, die viele Projekte in der Umsetzung ausbremsen. „Transformation bedeutet immer auch Schmerz“, sagte Schnupp. „Und die Frage ist: Sind wir als Organisation bereit, diesen Schmerz auszuhalten – und trotzdem weiterzugehen?“
Um nicht dieselben Fehler zu wiederholen, hat Continental aus den bisherigen Erfahrungen ein Set von sechs Erfolgsfaktoren abgeleitet, das als Kompass für künftige Transformationsprojekte dient.
An erster Stelle steht Collaboration – die Fähigkeit zur bereichsübergreifenden Zusammenarbeit, jenseits von Silos und Zuständigkeitsgrenzen. Zweitens ist Execution Discipline entscheidend: Maßnahmen müssen konsequent umgesetzt und täglich gelebt werden – nicht nur in Strategiepapieren existieren. Drittens zählt ein robustes Project and Risk Management, das Risiken frühzeitig erkennt und aktiv steuert. Als vierter Faktor gilt ein klarer Project Setup, also strukturierte Abläufe, klare Rollen und nachvollziehbare Ziele von Anfang an. Fünftens braucht es kontinuierliche und offene Communication, die Orientierung und Vertrauen schafft. Und schließlich: Engagement and Belonging – denn Transformation gelingt nur, wenn sich Mitarbeitende nicht nur beteiligt fühlen, sondern auch emotional mit dem Wandel verbinden können. Oder wie er es formulierte: „Ohne Zugehörigkeit bleibt Veränderung nur eine Vorgabe – mit ihr wird sie zur Bewegung.“
Transformation lässt sich nicht outsourcen, nicht delegieren, nicht durch Präsentationen herbeiführen
Wie stark der Erfolg von Transformationsprojekten von den genannten Faktoren abhängt, zeigte er zum Ende seines Vortrags anhand konkreter Beispiele. In einer vergleichenden Analyse wertete Continental sechs interne Transformationsprojekte aus – anonymisiert, aber mit Blick auf die Wirkung zentraler Hebel wie Collaboration, Execution Discipline, Communication und Engagement. Die Unterschiede waren deutlich: Projekte, die von Beginn an auf bereichsübergreifende Zusammenarbeit, stringente Umsetzung und regelmäßige Kommunikation setzten, lieferten schnellere Resultate – und übertrafen in vielen Fällen sogar die Erwartungen. „Diese Projekte waren nicht nur effizienter, sie waren auch resilienter – und das ist in einem volatilen Umfeld Gold wert.“
Im Gegensatz dazu zeigten sich bei anderen Projekten deutliche Schwächen – etwa dort, wo der Wandel nicht aktiv moderiert wurde, Silos bestehen blieben oder Führungskräfte zögerten. „Widerstand kam nicht überraschend. Überraschend war nur, wie stark er Projekte bremsen kann, wenn man ihn ignoriert.“ Die Analyse habe klar gezeigt: Es reicht nicht, den Wandel zu wollen – man muss ihn täglich gestalten, kontrollieren und kulturell verankern.
Schnupps Fazit war unmissverständlich: Transformation lässt sich nicht outsourcen, nicht delegieren, nicht durch Präsentationen herbeiführen. Sie ist eine Frage der Haltung, der Disziplin – und der Fähigkeit, Menschen zu begeistern. „Technologie ist planbar“, so Schnupp. „Aber ohne die Menschen bleibt sie wirkungslos.“
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