Aus der Führungsposition: Pflege statt Karriere: Gekündigt, um für die todkranke Mutter zu sorgen

Pflege stand nicht auf ihrem Fünfjahresplan. Aber als ihre Mutter todkrank wird, muss Emma Hagen eine Entscheidung treffen – sie kündigt. Heute ist sie erfolgreicher denn je.

Apr 6, 2025 - 17:11
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Aus der Führungsposition: Pflege statt Karriere: Gekündigt, um für die todkranke Mutter zu sorgen

Pflege stand nicht auf ihrem Fünfjahresplan. Aber als ihre Mutter todkrank wird, muss Emma Hagen eine Entscheidung treffen – sie kündigt. Heute ist sie erfolgreicher denn je.

Es begann mit einem Beitrag auf Linkedin Ende 2023. Ein Transparenzpost um Spekulationen vorzubeugen. Emma-Isadora Hagen erklärt darin, dass sie bei Peek & Cloppenburg ausscheiden wird. Sie, die mehr als ein Jahrzehnt lang die Karriere in den Fokus gestellt hatte. Sie, die schon mit 22 eine Führungsrolle übernommen und zuletzt eines der Top-10-Häuser des Unternehmens mit rund 200 Mitarbeitern geleitet hatte, kündigte kurzfristig. Die damals 31-Jährige entschied sich für ihre Mutter, die mit Lungenkrebs im Endstadium kämpfte. Hagen verabschiedete sich aus der Festanstellung ins Ungewisse. Ihr Beitrag erhielt viel Zuspruch. In der Folge berichtete sie immer wieder auf der Plattform über ihre besondere Situation im Kontext der Arbeitswelt, um aufzuzeigen, wie verknüpft die beiden Bereiche sind und wie stark die Krankheit der Mutter ihr Arbeitsleben beeinflusste. Mitte März starb ihre Mutter nun. Mit dem stern hat sie über ihre Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre gesprochen.

Als feststand, dass meine Mutter sterben wird, änderte sich alles. Ich hatte einen Fünfjahresplan, war bereit, den nächsten Karriereschritt zu gehen. Eine Kündigung oder Selbstständigkeit hatte ich nie in Erwägung gezogen. Aber als sich der Gesundheitszustand meiner Mutter verschlechterte, wir nicht wussten, wie viel Zeit ihr noch bleibt, musste es schnell gehen. Es war damals nicht absehbar, dass sie noch anderthalb Jahre haben würde, die Zeichen standen eher auf Wochen.

Davor hatte ich sieben Monate lang versucht, meiner Führungsverantwortung gerecht zu werden und gleichzeitig so oft ich konnte bei meiner Mutter zu sein. Ich nutzte jede freie Zeit, die ich hatte, brauchte meinen kompletten Urlaub auf. Manchmal fuhr ich die 700 Kilometer nur wegen eines Termins. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass alle zu kurz kommen: meine Mutter, mein Team, ich selbst. Ich spürte, dass ich an meine Grenzen gekommen war und musste eine Entscheidung treffen.

Prioritäten können sich extrem schnell ändern. Meine Karriere stand bei mir immer an oberster Stelle. Aber in diesen sieben Monaten hat sich mein Verhältnis zu meinem Privatleben und meiner Familie komplett gedreht, meine Werte haben sich verschoben. Es ist schlimm, wenn eine Person gesagt bekommt, dass es für sie nicht mehr weitergeht. Ich hatte ein sehr, sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Ich wollte einfach für sie da sein, Zeit mit ihr verbringen, sehen und horchen, was sie braucht. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie es für mich werden würde, aber ich wusste, dass ich die Zeit investieren wollte. 

Meine Vorgesetzten hätten mich zwar gern im Unternehmen gehalten und haben mich von Beginn an unterstützt, aber zu dem Zeitpunkt gab es für mich keine Alternative zur Kündigung. Damit, kann man sagen, habe ich meine Karriere beendet. Ohne Perspektive. Ich wusste, dass ich im Notfall erst einmal durch ALG1 abgesichert sein werde, da ich zuvor gut verdient hatte. Finanziell musste ich mir daher keine Gedanken machen. Dieses Glück haben andere in einer solchen Situation vielleicht nicht. Und ich habe auch keine Kinder, für die ich Verantwortung trage.

Ich zog erst einmal für ein paar Wochen in die Nähe meiner Mutter, dann brach ich meine Zelte in Berlin komplett ab. Mein Alltag sah plötzlich ganz anders aus, ich musste mich komplett umorganisieren. Ich arbeite gern, das ist mein Wesen. Ich war es nicht gewohnt, so viel Zeit zur freien Verfügung zu haben. Das hat mich überfordert und ich habe auch hinterfragt, ob ich mit der Kündigung wirklich das Richtige gemacht habe. Aber diese Momente, in denen ich gezweifelt habe, waren selten.

Während der Chemo wuchsen die pflegerischen Aufgaben

Es gab Zeiten, in denen ging es meiner Mutter besser, in anderen war sie auf intensive Betreuung angewiesen. Während der Chemotherapie und Bestrahlung hatte sie sehr mit den Nebenwirkungen zu kämpfen, sie war nicht mehr selbstständig, entsprechend wuchsen die pflegerischen Aufgaben. Dann ging es nicht mehr nur um den Haushalt, dann hilfst du beim Duschen, dabei auf die Toilette zu gehen, die Schuhe anzuziehen. Sachen, die man im Normalfall nicht mit seinen Eltern macht. 

Der ganze bürokratische Komplex ist wahnsinnig zeitintensiv und ärgerlich

In anderen Zeiten, während der Chemo-Pause, war sie wieder gut drauf. Dann ging es eher darum, ihr Wünsche zu erfüllen. Nichts Großes, typische Mutter-Tochter-Sachen: Auf dem Marktplatz einen Cappuccino trinken gehen, shoppen und wir haben gemeinsam die Bilder der ganzen Familie sortiert. Am Ende, als sie im Hospiz war, ging es vor allem darum, bei ihr zu sein. Der Krebs hatte gestreut, sie hatte viele Metastasen im Gehirn.

Ich war mit der Pflege nicht allein. Solange meine Mutter zu Hause war, hatten wir außerdem Unterstützung von verschiedenen Institutionen. Und auch meine beiden Brüder waren offiziell als Pfleger bei der Krankenkasse hinterlegt. Wir waren zu dritt – und trotzdem war der ganze bürokratische Komplex mit Krankenkasse, Rentenversicherung und so weiter wahnsinnig zeitintensiv und ärgerlich. Es ist extrem herausfordernd, den bürokratischen Aufwand, Familie und Beruf zu vereinbaren.  Manche Menschen haben niemanden und müssen das ganz alleine stemmen. Es ist in meinen Augen nicht in Ordnung, wie schwer es einem damit in Deutschland gemacht wird. 

Ich habe mir in dieser Zeit viele Sorgen um Job und Geld gemacht. Es kam für mich nie infrage, ALG2 zu beziehen. Gleichzeitig hatte ich große Angst, dass ich nach dem Jahr in einen Job starte und es meiner Mutter dann vielleicht wieder schlechter geht. Ich also nicht hundert Prozent geben kann, weil ich bei ihr sein muss. Ich habe mich mit vielen Jobmodellen beschäftigt und auch Gespräche geführt, die Selbstständigkeit war die intelligenteste Lösung.

Inzwischen spreche ich auf großen Bühnen, habe einen Newsletter und viele erfolgreiche Kooperationen. Letztlich hat sich bei mir etwas Positives daraus entwickelt, ich habe dadurch ins Unternehmertum gewechselt. Gleichzeitig bin ich maximal flexibel geblieben, das war sehr gut, denn so eine Krankheit verläuft nicht linear, nichts ist planbar. Ich habe daher vieles auch abgesagt.

Am Ende ging es ganz schnell, innerhalb von 48 Stunden. Weder meine Brüder noch ich hatten damit gerechnet. Ich war gerade beruflich in Berlin, als ich den Anruf bekam, dass meine Mutter im Sterben liegt. Ich war komplett aufgelöst, irgendwann setzte der Automatismus ein. Ich erinnere mich daran, wie ich heulend die Koffer gepackt habe. Sechseinhalb Stunden nach dem Anruf war ich im Hospiz. Ich habe unterwegs nicht mal getrunken, damit ich nicht zur Toilette muss. Ich hatte wirklich Angst, dass ich in ihrem allerletzten Moment nicht bei ihr sein kann. Aber es hat funktioniert.

Am Tag meiner Kündigung hatte ich das alles niemals kommen sehen. Wenn ich den Schritt in die Unsicherheit nicht gewagt hätte, hätte ich doppelt verloren: Ich wäre vermutlich nie in meinem heutigen Traumjob gelandet und ich hätte viele wertvolle Erinnerungen mit meiner Mutter nicht sammeln können.