Wolfram Wuttke: Das verrenkte Genie
Vor zehn Jahren starb Wolfram Wuttke. Kritiker behaupteten stets, er hätte mehr aus seiner Karriere machen können. Er selbst war eigentlich ganz zufrieden.

Wolfram Wuttke steckte sich noch eine an. Seine Lebensgefährtin sehe es nicht so gerne, wenn er rauche, sagte er, aber sie sei ja gerade nicht da. Also kippte er das Küchenfenster und blies den Rauch durch den kleinen Spalt nach draußen. „Wo waren wir stehengeblieben?“
Wir waren bei der Sache mit dem Auto. Herr Wuttke, Sie waren gerade mal 18 Jahre alt, als Sie ohne Erlaubnis den Mercedes von Schalkes Teambetreuer Charly Neumann entwendeten und danach um den Trainingsplatz fuhren, während Ihre Mitspieler sich Medizinbällen zuwuchteten. „Stimmt nicht“, sagte Wuttke und sammelte den Rauch in den Backen. „Stimmt wirklich nicht.“
Wuttke konnte über sich selber lachen
Ehemalige Fußballprofis revidieren Fehltritte gerne im Nachhinein, verklären sich zu Vorzeigeprofis, schmücken ihre aktive Zeit blumig aus und machen andere dafür verantwortlich, wenn Dinge schief liefen. Als wir Wolfram Wuttke für dieses Interview anfragten, hatten wir genau vor solchen Rechtfertigungen Sorge. Wuttke aber blies den Rauch durch den Fensterspalt und sagte trocken: „Es war kein Mercedes, es war ein VW Scirocco.“
Als er so dastand, am Küchenfenster, schien er nicht verbittert. Ein bisschen wehmütg, das schon, dennoch irgendwie zufrieden, mit sich und der Welt. Dabei hatte er in den Jahren zuvor allerhand mitgemacht. 2000 war bei ihm Brustkrebs diagnostiziert worden, später meldete sein Sportgeschäft Konkurs an, und seine Frau verließ ihn. Doch nun lachte er. Über andere, und auch über sich. In einigen Momenten schien es, als spreche er gar nicht über sein eigenes Leben, sondern über eine drollige Figur aus seiner Lieblingsfernsehserie. Ach, der Wutti, was der da nur wieder ausgeheckt hat.
Zur falschen Zeit am falschen Ort
Er, der Wutti, war einer der genialsten Spielmacher der achtziger Jahre. Während viele Profis aus seiner Generation sich die Beine verknoteten, wenn sie einen Pass über 20 Meter schlagen sollten, zirkelte er die Bälle mit dem Außenrist auf die Köpfe seiner Stürmer. Und doch hatte er das Pech, oft zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Er wechselte zu Borussia Mönchengladbach oder zum Hamburger SV, als die Vereine ihre goldenen Jahre gerade hinter sich hatten. Er kam mit einem Rucksack voller Erwartungen, er sollte der Spieler sein, der einen Umbruch einleiten und eine neue Ära prägen sollte – und weil es nicht sofort klappte, war er der Schuldige. Manchmal zu Recht, manchmal aber nur, weil sonst niemand Verantwortung übernehmen wollte.
Immerhin war Wuttke über 14 Jahre als Profi aktiv und machte 299 Bundesligaspiele. Reich wurde er dennoch nicht, denn seine Karriere endete 1993, also just in dem Moment, als der moderne Fußball und all die reichen Männer mit ihren Geldkoffern die Bundesliga erreichten. Nun, im Januar 2012, lebte er in dem Städtchen Selm, 30 Kilometer nördlich von Dortmund. Eine bescheidene Wohnung, 60, vielleicht 70 Quadratmetern. Aber auch das schien in Ordnung, schließlich war er wieder im Ruhrpott, dort, wo er wechkam, wo er sich zu Hause fühlte, denn dort rückten sie „in der Kneipe zusammen, wenn alle Plätze belegt waren“.
Auf dem Küchentisch lagen zahlreiche Zeitungsausschnitte. Dicke Letter auf Papier: „Wuttke, der Parasit“, „Wuttke, der Lügner“, „Wuttke, der Säufer“. Eine Fußballkarriere, die sich las wie das Protokoll eines Unzähmbaren.
Wuttke kannte jede einzelne dieser Geschichten. Er hatte sie vermutlich hunderte, tausende Male in den Kneipen der Umgebung erzählt.
Wie er, damals 21 Jahre, zu einem Mitspieler in einem Trainingsspielchen „Spiel ab, du Arsch!“ rief und erst dann bemerkte, dass es sich bei dem Mitspieler um Manager Günter Netzer handelte. Wie Netzer dem Jungen daraufhin sagte: „Du bist ein Nichts! Bald bist du eh weg!“, und Wuttke abends in seiner Wohnung saß und weinte.
Wie er sich zum ersten Mal in seinem Fußballerleben in Kaiserslautern richtig wohl fühlte, weil man hier sah, dass er mit seinen seltsam geformten Füßen niemals ein Marathonläufer sein würde, aber immer ein genialer Ballzauberer: „Das war anders als in Hamburg. Wenn ich ins Mittelfeld bin, um den Ball zu holen, hat Happel gebrüllt: 'Tret den Wuttke in den Arsch'. Wenn ich in Kaiserslautern mit schlechter Laune ins Training komme, sagte Bongartz: 'Schieß ein paar Bälle aufs Tor, und lass dich dann massieren!'“
Wie er in Kaiserslautern aber trotzdem Ungnade fiel, weil er ein Weinfest besucht haben soll. Seine Antwort ist legendär: „Ich kann gar nicht auf einem Weinfest gewesen sein, ich bin Biertrinker.“
Wie er später großspurig seinen Wechsel nach Griechenland ankündigte, doch Olympiakos’ Präsident plötzlich Lajos Detari verpflichtete. „Mit wem hast du denn gesprochen, Wutti?“, fragten die FCK-Granden. „Mit 'nem Gyroshändler?“
Als er von der Griechenland-Posse erzählte, lachte er wieder laut auf. Ach, dieser Wutti. Der macht Sachen.
Schon während seiner Karriere hieß es häufig, er hätte zu wenig aus seinem Talent gemacht. Doch Wuttke wollte davon nichts hören. Es brachte ihn schon auf die Palme, sobald ihm jemand vorrechnete, wie viele Länderspiele er mit einer diplomatischeren Art hätte machen können. „Jetzt kommen Sie mir nicht damit!“, motzte er auch an jenem Nachmittag am Küchenfenster. Die Konkurrenz sei eben sehr groß gewesen. Und sowieso: Eigentlich verlief seine Karriere doch gar nicht so schlecht. Dann stellte er sich auf und sagte: „Gucken Sie mal!“
Da stand er dann, Wolfram Wuttke, Wutti, der menschgewordene Außenrist, 1,72 Meter klein, krumme Füße, krumme Beine, und selbst wenn man ein wenig Bauchumfang abgezogen hätte, würde so einer im heutigen Athletenfußball keine Chance bekommen. Das wusste auch Wuttke. „Der liebe Gott hat mir die Füße verrenkt. Es war mein größtes Geschenk“, sagte er, zog an der Zigarette und schloss das Küchenfenster wieder.
In der Nacht des 1. März 2015 starb er mit 53 Jahren nach einem Organversagen.