"Wenn die Tage länger werden": Dieser Roman ist wie ein Sommerabend mit der besten Freundin

Jede Woche kürt die BRIGITTE-Redaktion aus den aktuellen Neuerscheinungen auf dem deutschen Markt ein Lieblingsbuch. Welcher Titel uns diesmal überzeugt hat. 

Endlich steht die Sonne höher am Himmel. Endlich müssen wir nicht mehr frieren, wenn wir vor die Tür gehen. Endlich weckt uns morgens wieder Vogelgezwitscher. Endlich ist Frühling. Und kaum ein Roman könnte uns in dieser Jahreszeit besser begleiten als folgende Neuerscheinung, unser aktuelles Buch der Woche:

• Titel: "Wenn die Tage länger werden"
• Autorin: Anne Stern
• Verlag: Aufbau-Verlag
• Seitenzahl: 383
• Erscheinungsdatum: 12. März

Worum geht's?

Sechs Jahre lang verstand sich Lisa vor allem als eines: Pauls Mutter. Während sich der Vater des Jungen am anderen Ende von Deutschland als Wissenschaftler selbstverwirklichte, hetzte Lisa als Alleinerziehende Tag für Tag durch Freiburg, ständig unterwegs von einem To Do zum nächsten, ohne jemals das Ende ihrer Liste zu erreichen. Ohne einen Moment für sich. 

In diesem Sommer reist Paul allein mit seinem Vater zu den Großeltern nach Polen und Lisa hat ganze drei Wochen frei. Drei Wochen, in denen sie tun kann, was sie möchte. Drei Wochen, in denen sie erst einmal herausfinden muss, was das eigentlich ist, was sie möchte – und wer sie ohne Paul ist. Dabei fällt der 38-Jährigen ihre alte Geige in die Hände, die sie wiederum zu Ute führt: der Tochter eines alten Geigenrestaurators namens Hans, zusammen leben die beiden auf einem heruntergekommenen Obsthof. Hans entdeckt, dass Lisas Geige, ein Familienerbstück, das einst ihrem Großvater gehörte, ein düsteres Geheimnis birgt. Und Lisa begreift, dass sie endlich das Schweigen ihrer Mutter brechen muss, um sich selbst zu verstehen. 

Wie ein Sommerabend mit der besten Freundin

Ob Mutter oder nicht: Viele Menschen kennen diese Phasen des bloßen Funktionierens. Phasen, in denen sie sich verloren haben, in denen sie nicht mehr träumen, nicht mehr brennen. "Die Stunden reihten sich aneinander, und alle Tätigkeiten, die sie verrichtete, glichen einander und waren am Abend nicht mehr als ein Klumpen aus Belanglosigkeit und Pflicht", schreibt Autorin Anne Stern an einer Stelle. "Dieses Gefühl, alles nur zu erledigen, doch für nichts wirklich zu brennen, hatte sich in ihr Leben geschlichen." Wer mit diesen Worten etwas anfangen kann, wird in Lisa eine Freundin finden – und ihrer Geschichte, diesem Roman, womöglich Trost und Wärme.

Verwoben mit Lisas Selbstfindung und Identitätskrise hat die Autorin zudem ein hochaktuelles und vielen Menschen geläufiges Thema, das sie in einer gelungenen und sensiblen Weise aushandelt und entfaltet: Wie gehen wir damit um, wenn wir eine Geschichte verarbeiten möchten und müssen, die uns lediglich vererbt wurde? Und wenn die Personen, die sie uns vererbt haben, nicht darüber reden und uns im Dunkeln lassen? Die Beziehung zwischen Lisa und ihrer Mutter ist nämlich überschattet von Schweigen. Von Erwartungen und Missverständnissen, deren emotionales Ergebnis zum Beispiel folgende Stelle illustriert: "Wäre sie traurig, wenn ihre Mütter plötzlich stürbe? Natürlich. Aber war es nicht schlimm genug, dass sie sich diese Frage überhaupt stellte?" 

Wie ein Gegengewicht zu den zum Teil schweren Themen und Fragen, die sie in "Wenn die Tage länger werden" aufgreift, lässt uns Anne Stern mit ihrem Setting die Leichtigkeit des Lebens fühlen: Sommernächte voller Möglichkeiten, reife bis überreife Schattenmorellen, ein kühles Bier am See. "Immer wieder diese Gleichzeitigkeit der Dinge und die Unmöglichkeit, alle Empfindungen zu vereinen!", schreibt die Autorin an einer Stelle. Und dieses Grundprinzip des menschlichen Lebens einzufangen und abzubilden, gelingt ihr in ihrer neuesten Veröffentlichung ausgesprochen gut.