Umstrittener Fund: Wenn Menschen Menschen essen: Warum Kannibalismus-Spuren so schwer zu deuten sind

Haben Menschen in der Steinzeit Artgenossen verspeist? Eine neue Studie deutet einen Knochenfund in Polen als Gewaltkannibalismus – doch die Interpretation ist umstritten

Feb 18, 2025 - 16:21
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Umstrittener Fund: Wenn Menschen Menschen essen: Warum Kannibalismus-Spuren so schwer zu deuten sind

Haben Menschen in der Steinzeit Artgenossen verspeist? Eine neue Studie deutet einen Knochenfund in Polen als Gewaltkannibalismus – doch die Interpretation ist umstritten

Ist es Kannibalismus – oder doch nicht? Systematisch sollen Menschen vor 18.000 Jahren andere Menschen getötet, zerlegt – und dann verspeist haben. Nicht etwa aus Not, sondern als Akt der Gewalt. So deuten Forschende Knochenfunde aus der Maszycka-Höhle in Polen. 

63 Knochen von zehn Individuen aus der späten Eiszeit hat ein internationales Team um den Anthropologen Francesc Marginedas untersucht. 36 Knochen weisen auf eine Zerlegung der Menschen unmittelbar nach ihrem Tod hin, heißt es in der Studie, die jüngst im Fachmagazin "Scientific Reports" erschienen ist. Demnach zeugten Schnittspuren an Schädelfragmenten davon, dass Muskelansätze und Kopfhaut abgetrennt und lange Knochen zerschlagen wurden, um an das Knochenmark zu gelangen. "Die Position und Häufigkeit der Schnittspuren sowie die gezielte Zerschlagung von Knochen lassen keinen Zweifel, dass hier nahrhafte Bestandteile der Toten gewonnen werden sollten", erklärt Marginedas.

Haben die Menschen die Gehirne ihrer Opfer verspeist?

Seit Langem ist die Maszycka-Höhle nördlich von Krakau Gegenstand der Forschung: Bereits vor mehr als 100 Jahren entdeckten Wissenschaftler hier Menschenknochen, Grabungen in den 1960ern brachten weitere zutage. Die Funde gelten heute als eine der bedeutendsten Sammlungen menschlicher Überreste aus der späten Eiszeit. Die Gesellschaft dieser Menschen gehörte zur Magdalénien-Kultur, wie die Epoche vor etwa 20.000 bis 14.000 Jahren genannt wird. Sie ist vor allem für ihre eindrucksvollen Höhlenmalereien bekannt.

So eindeutig die neue Studie von Gewaltkannibalismus ausgeht, so umstritten sind die Spuren vermeintlicher Menschenfresser in der Wissenschaft. Schon vor gut 30 Jahren deuteten Forschende die Knochenfunde aus der Maszycka-Höhle als Kannibalismus – und erklärten gar, Menschen hätten dort die Gehirne ihrer Opfer verspeist. 

Geo+ Kannibalismus

Die Analyse von Marginedas und seinem Team liefert nun neue Erkenntnisse: Mithilfe moderner Mikroskope konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tatsächlich Schnittspuren an den Knochen nachweisen, die von Menschen stammen müssen.

Als Grund für den Gewaltausbruch vermutet Marginedas die Einwanderung anderer Gruppen von Homo sapiens in die Region: "Nach dem Kältemaximum der letzten Eiszeit kam es zu einem Bevölkerungswachstum, und das kann zu Konflikten um Ressourcen und Territorien geführt haben."

Schnitt- und Schlagspuren, die auf Kannibalismus hindeuten
Zahlreiche Knochen aus der Maszycka-Höhle weisen Schnitt- und Schlagspuren auf. Ob sie wirklich auf Kannibalismus hindeuten, ist umstritten
© Antonio Rodríguez-Hidalgo IAM (CSIC-Junta de Extremadura)/Uni Göttingen

Andere Forschende sehen Kannibalismus-Interpretationen kritisch. "Dass Fleisch sorgfältig von Knochen abgeschabt wurde, ist kein Beweis dafür, dass man dieses Fleisch auch gegessen hat", sagt etwa die Professorin für Archäologie Heidi Peter-Röcher von der Uni Würzburg. Die Spuren an den Knochen in Polen deuten darauf hin, dass die getöteten Menschen nicht etwa wie erbeutete Tiere enthäutet wurden, sondern deutlich intensiver. Aber warum sollten Menschen mit größter Anstrengung Knochen von Fleisch befreien, wenn es ihnen lediglich um den Verzehr geht?

Möglicherweise, so vermutet Peter-Röcher, hätten die Hinterbliebenen ihre Verwandten nach deren Tod entfleischt und ausgewählte gesäuberte Knochen bis zu einer Abschiedszeremonie bei sich getragen. Andere Magdalénien-Fundorte legen nahe, dass in diesen Gesellschaften menschliche Schädelfragmente als Trinkbecher oder Behälter verwendet wurden.

Eindeutige archäologische Beweise für Kannibalismus wären menschliche Zahnspuren an Knochen. "Allerdings wurden bislang nirgendwo auf der Welt solche Spuren nachgewiesen", erklärt Peter-Röcher.

Und so geht die Suche nach den Kannibalen weiter.