Meinung: Nahrungsergänzungsmittel: Weniger ist mehr!
Ob zur Sporternährung, Stressbewältigung oder gegen gefühlte Mangelerscheinungen: Nahrungsergänzungsmittel boomen. Gesünder, entspannter oder glücklicher machen sie uns nicht.

Ob zur Sporternährung, Stressbewältigung oder gegen gefühlte Mangelerscheinungen: Nahrungsergänzungsmittel boomen. Gesünder, entspannter oder glücklicher machen sie uns nicht.
Man sagt ja, dass Social Media die Sitten verdirbt, das Leben zerbröselt und obendrein gezielt unsere übelsten Seiten hervorkehrt. Mag sein. Und doch sind soziale Medien ein großartiges Trendbarometer. Einer ihrer derzeitigen Hypes: NEG – Nahrungsergänzungsmittel. Sie erfreuen sich zurzeit enormer Beliebtheit, was natürlich auch die Freundinnen und Freunde des schnellen Euros anlockt, sofern sie nicht gerade mit Beauty, Krypto, ETF-Trading oder Immobilienspekulation beschäftigt sind.
Da draußen auf Social erschiene Keyword-getriggert exakt an dieser Stelle im Text nun gewiss ein nur äußerst schwer wieder loszuwerdendes Video. Sein Protagonist: ein Mann von höchstens 26 Jahren, mit elektrisch getrimmtem Bart, Vintage-Sneakern und moderater Viermal-pro-Woche-Gym-Figur. Er würde sich zunächst als Gründer von irgendwas bezeichnen. Dann würde er Ring- und kleinen Finger einknicken, uns mit Zeige- und Mittelfinger mitten ins Gesicht deuten und sagen, dass "auch Du" (das sind wir) ständig darüber nachdächtest, wie Du Dein stresserfülltes und völlig unteroptimiertes Leben mit einer aufgerührten Pampe aus grünlichem Mehl vollkommen verwandeln könntest.
Er würde das von nun an dreißigmal in der Woche wiederholen, solange sein Marketingetat noch nicht ausgetrocknet wäre und wir nicht in ein Premium-Angebot entkommen wären. Denn, so die Botschaft: Erst mit Wundermittel wirkt der Workout. Nur so begreifen Immunzellen wirklich, was ihr Job ist. Allein dadurch kann ein Körper reibungslos arbeiten. Und erst dann lassen sich Stress und Hektik des modernen Lebens endlich ohne jegliche Selbstreflexion ganz genau so fortsetzen, wie sie sind und wie es all die anderen tun: Auch morgen wird hemmungslos gechattet, wüst durch die Gegend geklickt, an echten Menschen vorbeigestarrt, um auf 100 Quadratzentimeter Screen zu stieren – vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang und selbst noch tief im Federkissen. Doch der Stress, der genau daher rührt, wird wie weggepulvert sein.
Self-Influencing gegen den Wunderglauben
Aber wir machen es jetzt einfach mal andersherum – dank der Kraft des Selbst-Influencing. Und zwar durch Meditation über eine große Frage unserer Zeit: Wie kommt es wohl, dass die globale Wellness-Wirtschaft – also alles, was man für Geld kaufen kann, um dem ziemlich irrsinnigen Lebensstil der Gegenwart zu trotzen – heutzutage mehr als viermal so groß ist wie das gesamte Marktvolumen der Pharmaindustrie?
Klar, das ist ein weites Feld – Kombucha und Detox, Selleriesaft, voll verwestlichte, Yoga-ähnliche Studio-Gymnastik, Superfoods und Reflexzonenmassage, Coaching und Neuro-Enhancement, Hormonanalysen und "individuelle Nährstoff-Programme". Der Wahnsinn, der zuvor bereits die Lebensmittelproduktion gekapert hat, kolonisiert nunmehr Gesundheit und Wohlbefinden: Es ist der Trend zum Hochverarbeiteten, zum künstlich Kompliziertgemachten, zum Pseudopfiffigen, zum totalen Produkt. Die Selfcare-Manie ist gegenwärtig dermaßen epidemisch, dass man beinahe schon in die allerletzte Ruhezone im Gewimmel der Metropolen flüchten möchte – in ein kleines, gemütliches Nagelstudio also. Gott sei Dank gibt es alle drei Meter eines, und beinahe nur noch hier muss man selbst an sich nichts optimieren.
Influencen wir uns noch ein wenig mit Zahlen. Die sind schließlich ein wahrer Brain-Booster. Das Marktvolumen des globalen Wellness-Geschäfts betrug 2023 6,3 Billionen Dollar, das ist mehr als zwölfmal so viel wie der gesamte deutsche Bundeshaushalt. Die pharmazeutische Industrie erwirtschaftete nur etwa 1,5 Billionen. Doch dabei musste sie auch ziemlich hohe Hürden nehmen. Seit Jahrzehnten schon ist der Wirksamkeitsnachweis für Arzneimittel ein schwer zu erreichendes Ziel, die Forschung teuer, die Auswahl von Probanden anspruchsvoll, der bürokratische Prozess langwierig.
Natürlich ist vieles an der geläufigen Pharma-Kritik berechtigt, und tatsächlich werden Krankheiten regelrecht vermarktet, Zielgruppen konstruiert und Mediziner zum Verschreiben animiert. Das war so, und das wird wohl auch so bleiben. Und dennoch muss, wer im Arzneigeschäft etwas verkaufen will, auch wirklich etwas leisten.
Nahrungsergänzungsmittel: aus Marketing geboren
Der Großteil des Nahrungsergänzungsgeschäfts hingegen besteht aus purem Marketing. Davon kann sich jeder leicht überzeugen, der ein Marketingseminar für Gründer in derartigen Branchen besucht. Oder dem bedeutenden Ökotrophologen Professor Bernhard Watzl vertrauen, der viele Jahre das Bundesforschungsinstitut für Ernährung leitete. Er sieht die historischen Wurzeln der unkaputtbaren Ergänzungsmittel-Ideologie in einem folgenschweren Irrtum der Vergangenheit: "Nahrungsergänzungsmittel schützen Gesunde nicht vor Krankheiten", erläutert Watzl. "In den 1980er- und 1990er-Jahren reduzierte man die positiven gesundheitlichen Effekte von Gemüse und Obst auf bestimmte Inhaltsstoffe, insbesondere Vitamine. Heute wissen wir, dass vielmehr die Vielfalt biologisch aktiver Substanzen, die wir durch einen hohen Konsum von Gemüse und Obst aufnehmen, insgesamt positive Wirkungen auf die Gesundheit hat."
Freilich haben wir es dennoch nicht mit einer großen Weltverschwörung zu tun, nicht mit einem diabolischen Spurenelemente-Kult. Im Gegenteil: Einer der interessantesten Aspekte des Ergänzungskonsums ist, dass die vielen falschen Versprechungen, die im Netz herumgeistern, zumeist noch nicht einmal Lügen im moralischen Sinn sind. Das liegt an uns. Wenn wir Pulver oder Pille kaufen, so zeigt die Forschung, sind wir gar keine naiven Konsumtrottel – die meisten wissen nämlich irgendwie schon, dass es das Wunder aus der Tüte, Flasche oder Dragee-Schachtel gar nicht gibt.
Und dementsprechend ist die Liste der sinnvollen Ergänzungen bei einer einigermaßen gesunden Ernährungsweise auch nach wie vor verblüffend kurz: Vitamin B12 bei veganer Ernährung, Vitamin D im Winter bei wenig Sonnenlicht, Folsäure für Schwangere sowie Jod und Omega-3 für Fischverächter. Außer bei einer ärztlich festgestellten Mangelerscheinung war es das bereits. Der schlaue Selbst-Influencer erkennt: Bevor man daran geht, die Nahrung durch industriell erzeugte Präparate zu ergänzen, müsste doch eigentlich unser alltägliches Leben selbst ergänzt oder entschlackt werden – vor allem in puncto Aktivität und "echter" Ernährung.
Optimiere Dich nicht, lebe!
Denn das eigentliche Defizit dieser Zeit ist nicht in unseren Blutwerten zu finden, sondern in unserer Lebensführung. Gegen selbst zugefügten Stress, gegen Konformismus zu überzogenen Erwartungen, helfen Gelassenheit gegenüber Hektik, bewusster Verzicht auf das "Was denken die anderen von mir?"-Syndrom und auf permanenten Präsentismus im Netz. Wir haben uns angewöhnt, Defizite mit Produkten statt mit Praktiken auszugleichen. Doch wer sich wirklich heil machen möchte – und das ohne Abo-Modell und Checkout-Button –, sollte vielleicht nicht länger zuerst ans Ergänzen denken, sondern ans Erleben.
© Christian Lohfink/ stern
Wie wäre es zum Beispiel, den Tag nicht mit einer handverlesenen Komposition aus synthetisierten Aminosäuren, sondern mit echtem Tageslicht zu beginnen? Oder sich zu überwinden, anstelle der achten Superfood-Kapsel tatsächlich einen knackigen Apfel zu essen, der – Professor Watzl hat es ja erläutert – mehr Nährstoffe enthält, als das Marketingteam der Supplement-Industrie je in seine Kampagne packen kann?
Influencen wir uns also für den aufziehenden Frühling doch so: In unserer Welt, in der der menschliche Körper vor allem dazu dient, auf Stühlen zu sitzen, braucht es keinen Pulver-Shake, sondern Beine, die genutzt werden – und zwar alltäglich, als völlig unspektakulärer Normalzustand, nicht als Event. Denn die Wahrheit ist: Serotonin kann man nicht aus der Dose trinken, aber man kann es sich erschaffen – mit guten Gesprächen, Zeit mit echten Menschen, einer Prise Gelassenheit und vielleicht sogar einem Lachanfall, der ganz ohne chemische Zusätze auskommt.
Letzteres hat die Zeit vor dem Aschermittwoch zumindest in Teilen des Landes soeben wieder bewiesen, dem Reinheitsgebot sei Dank. Es erlaubt seit 500 Jahren keinerlei Ergänzungen im Bier – nur Wasser, Gerstenmalz, Hopfen und Hefe, auch und besonders im Kölsch.