Italien: Die Igel des Dottore Vacchetta: Wie ein Tierarzt gegen das Igelsterben kämpft
Mitten in den Weinbergen des Piemont betreibt ein italienischer Tierarzt ein einzigartiges Krankenhaus. Die neuesten Gefahren für die stachligen Tiere: Mähroboter – und der Klimawandel

Mitten in den Weinbergen des Piemont betreibt ein italienischer Tierarzt ein einzigartiges Krankenhaus. Die neuesten Gefahren für die stachligen Tiere: Mähroboter – und der Klimawandel
Aus dem Brutkasten auf der Intensivstation piept plötzlich Alarm: Cetto, noch keine 370 Gramm schwer, schnappt schwer nach Luft. Sofort versorgt ihn der behandelnde Arzt über einen Schlauch mit Sauerstoff. Das ist zu wenig: Also verpasst der Mediziner seinem kleinen Patienten auch noch eine Spritze. Jetzt geht der Puls glücklicherweise runter. Cetto rollt sich wieder zusammen – so wie das Igel eben tun, wenn sie sich besser fühlen.
So oder so ähnlich hätte sich die Szene auch in irgendeiner Großklinik abspielen können. Tat sie aber nicht, sondern in einem 300 Jahre alten Haus mitten in den Hügeln der norditalienischen Region Piemont. In Novello, dem Nachbardorf des viel berühmteren Weinortes Barolo, betreibt der Tierarzt Massimo Vacchetta eine einzigartige Einrichtung: ein Igelkrankenhaus mit angeschlossenem Altersheim und sogar einem Friedhof dazu.
In Wintermonaten jetzt oft zu warm für Winterschläfer
Alles in allem haben Vacchetta und sein Team hier schon 4000 Igel verarztet. Derzeit sind es 200. Die meisten sind in Käfigen untergebracht. Die kritischen Fälle wie Cetto liegen in Brutkästen bei etwa 25 Grad. Es gibt auch eine Notaufnahme, einen speziell auf Igel ausgerichteten Operationstisch sowie die verschiedensten medizinischen Geräte: Blutanalyse, Laser, Röntgen oder Ultraschall.
Die meisten Igel, die hier landen, wurden überfahren: von Autos, so wie Cetto, immer häufiger aber auch von Mährobotern. Andere haben ausgelegtes Gift gefressen oder Plastik verschluckt. Zunehmend macht den Tieren, die normalerweise mehrere Monate Winterschlaf halten, der Klimawandel zu schaffen: "Weil es in den Wintermonaten jetzt oft zu warm ist, wachen sie mittendrin auf", erzählt Vacchetta. "Ohne fremde Hilfe sind sie dann verloren."
Braunbrustigel aus Europa auf Roter Liste
Das Krankenhaus betreibt der 57-Jährige seit mehr als einem Jahrzehnt. Ursprünglich wollte er nach dem Studium in Turin aus dem Haus eine Ferienunterkunft machen. Aber dann ging seine Ehe in die Brüche, und auch mit dem Beruf als Tierarzt war er nicht mehr zufrieden: Mit Massentierhaltung wollte er nichts mehr zu tun haben - wusste aber nicht, wohin. Bis ihm ein Kollege 2013 ein Igelbaby zeigte, 25 Gramm leicht nur, das die Mutter verloren hatte. Vacchetta nannte es Ninna und päppelte es auf.
© Christoph Sator / dpa
So begann er, sich mit den stachligen Vierbeinern zu beschäftigen, einem der ältesten Säugetiere überhaupt, die es schon seit vielen Millionen Jahren gibt. Lernte, dass Igel nur in Europa, Afrika und Asien leben. Und zwar immer weniger davon: Der einst weit verbreitete westeuropäische Braunbrustigel steht nun unter Artenschutz. In Deutschland war er "Wildtier des Jahres 2024" – was auch nichts daran änderte, dass ihn die Weltnaturschutzunion IUCN als "potenziell gefährdet" auf ihre Rote Liste setzte.
Rettungsstationen auch in Deutschland
In Italien ist man wegen des Igelsterbens schon einige Jahre länger besorgt. Weshalb Vacchetta schließlich auch eine eigene Praxis nur für Igel gründete, die er nach seiner ersten Patientin benannte: "La Ninna". Inzwischen ist daraus ein Krankenhaus mit sechs Vollzeit-Beschäftigten und 300.000 Euro Jahresbudget geworden – ein großer Unterschied zu ehrenamtlich betriebenen Igelkliniken, wie es sie auch in Großbritannien und Deutschland gibt.
Finanziert wird das Hospital nur durch Spenden, ohne jedes Geld vom Staat. "Ich will nicht von der Politik abhängig werden", sagt Vacchetta. Zudem helfen mehrere Dutzende Freiwillige mit. Die Notrufnummer ist rund um die Uhr besetzt. Inzwischen kommen Leute von weit her, um verletzte oder geschwächte Igel abzuliefern. Der "Igel-Doktor", der sich sein Geld auch mit Igel-Fotos über Instagram und Facebook besorgt, ist inzwischen einigermaßen bekannt.
"Wenn es Igeln schlecht geht, geht es auch den Menschen schlecht"
Sein erstes Buch über Ninna ("Eine Handvoll Glück") wurde in zwölf Sprachen übersetzt. In Italien hat er nun auch einen Comic herausgebracht. Das Vorwort kommt von "Queen"-Gitarrist Brian May. Für die französische Ausgabe übernimmt das Brigitte Bardot, die schon Jahrzehnte im Tierschutz aktiv ist, für die deutsche Fassung der Schauspieler Andreas Hoppe, ein ehemaliger "Tatort"-Kommissar aus Ludwigshafen.
Vacchetta sieht seine Arbeit in größerem Zusammenhang. "Wenn es Igeln schlecht geht, geht es auch der Natur und den Menschen schlecht", sagt der Dottore. "Und mit dem Klimawandel wird es Igeln in den nächsten Jahren zunehmend schlechter gehen." Bis heute ist er dabei geblieben, dass jedes Tier bei der Einlieferung einen Namen bekommt. "Das sind einzelne Lebewesen, die verdienen alle Respekt."
Ältere Tiere kommen ins "Altersheim"
Wenn es den Leuten im Krankenhaus gelingt, die Igel wieder gesundzumachen, geht es zurück in die Natur. "Und meistens haben wir Erfolg", sagt Vacchetta. Ältere Tiere, die aus eigener Kraft nicht überleben können, erhalten einen Platz im dritten Stock, im "La Ninna"-Altersheim, wo sie dann ihren Lebensabend fristen. Igel, die es nicht geschafft haben, kommen auf den Friedhof auf der anderen Straßenseite oder zur tiermedizinischen Fakultät der Universität Turin.
Cetto, dem kleinen Igel von der Intensivstation, geht es mittlerweile deutlich besser. Die Parasiten, die er sich nach dem Autounfall eingehandelt hatte, ist er dank der Behandlung mit Antibiotika wieder los. Außerdem hat er binnen weniger Tage 100 Gramm Gewicht zugelegt. Wenn alles so weitergeht, kann Cetto im Mai wieder nach draußen.