Fußball-WM 1950: Moacyr Barbosa und das Tor von Alcides Ghiggia

Ein Schuss, dann verfiel ganz Brasilien in Agonie: Das Gegentor im letzten Spiel der WM 1950 machte Brasiliens Schlussmann Moacyr Barbosa zu einem geächteten Mann. Vor 25 Jahren starb er.

Apr 7, 2025 - 18:00
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Fußball-WM 1950: Moacyr Barbosa und das Tor von Alcides Ghiggia

Wenn ich dieses Finale noch einmal spielen müsste, würde ich absichtlich ein Eigentor erzielen. Am Abend des Titelgewinns waren wir noch in einer Bar, tranken ein paar Bier und beobachteten die Leute. Alle weinten, weil sie den größten Karneval aller Zeiten vorbereitet hatten und wir hatten ihn ihnen vermiest. Ich fühlte mich sehr schlecht angesichts dieser Traurigkeit.“ (Obdulio Varela, Kapitän der uruguayischen Mannschaft von 1950)

Unvergessliche Spiele hat es viele gegeben in der langen Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften. Doch die größte Überraschung lieferte ein Tor, das noch heute ein Mythos ist: der Maracanazo. Ein Begriff, den jeder kennt und der in einem Winkel Südamerikas auch 53 Jahre später Freude auslöst.

Es war am 16. Juli 1950, dem Finaltag der ersten WM nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Spiel änderte das Leben vieler Menschen. Zum Beispiel das des brasilianischen Torhüters Moacyr Barbosa, der einst traurig gestand: „In Brasilien sieht das Gesetz 30 Jahre Haft für einen Mord vor. Es ist weit mehr als diese Zeit seit dem Finale von 1950 vergangen und ich fühle mich noch immer eingekerkert, die Menschen sehen in mir immer noch den Schuldigen für unsere Niederlage.“

Die Sache mit dem „M“ und dem „W“

Bisweilen standen die Leute auf und gingen, wenn Barbosa eine Bar betrat. Alcides Ghiggia dagegen zählt zu den unvergleichlichen Stars der WM-Historie. Dem uruguayanischen Stürmer gelang eines der wohl wichtigsten Tore aller Fußball-Weltmeisterschaften (manche behaupten unter gütiger Mithilfe von Barbosa), und noch heute verlangt er ein Honorar für Interviews, in denen er vom Maracanazo erzählen soll. In jenen Zeiten gab es noch nicht die heute üblichen taktischen Systeme wie 4-3-1-2 oder 3-3-2-2. Man spielte einfacher, zwangloser, ein System, bei dem sich die Spieler auf dem Platz in der Form eines über einem „M“ stehenden „W“ gruppierten: drei Mann fest in der Abwehr, davor zwei, die für die Spieleröffnung zuständig waren, zwei Halbstürmer, zwei Außenstürmer und in der Mitte eine klassiche Nummer Neun.

David bezwang Goliath. Brasilien hatte alles für das große Fest vor 200.000 Zuschauern im eigens für die WM errichteten Maracanã-Stadion vorbereitet. Es war der haushohe Favorit bei Spielern, Fans und und Journalisten gleichermaßen, weil es die Gruppenspiele souverän gewonnen hatte, dazu kam noch der Heimvorteil. So sehr erwarteten alle einen Sieg der Brasilianer, dass sich beim Einlauf der Mannschaften die meisten Fotografen auf die Heimmannschaft konzentrierten, und die Spieler Uruguays fast allein blieben, obwohl Eusebio Tejera ihnen zurief: „Kommt hierher zu uns, denn der kommende Weltmeister steht hier!“ Selbst FIFA-Präsident Jules Rimet hatte seine Glückwunsch-Rede schon vorbereitet. Gerichtet an die Brasilianer und auf Portugiesisch.

Barbosa komm zu spät

Alle schienen sie Recht zu behalten, als kurz nach der Halbzeit Friaça das 1:0 für die Gastgeber erzielte. Das Fest im Maracanã konnte beginnen, zumal Brasilien in diesem letzten Spiel der Finalrunde bereits ein Unentschieden zum Titelgewinn reichen würde. Doch dann der vielleicht entscheidende taktische Schachzug von Uruguays Kapitän Obdulio Varela: Nach dem 0:1 klemmte er sich den Ball unter den Arm und zettelte eine minutenlange Diskussion mit dem englischen Schiedsrichter George Reader an, um den Spielfluss der Brasilianer zu unterbrechen. „Ich wollte eine Abseitsstellung reklamieren und ging ganz langsam zum Mittelkreis; ich verlangte einen Dolmetscher, wir diskutierten und die Zeit verrann. Die brasilianischen Zuschauer waren zutiefst empört, weil sie ihre Mannschaft spielen sehen wollten und ich es vehinderte. Als das Spiel endlich weiterging, waren sie außer sich vor Wut, und damit kam unsere Chance zu gewinnen“, gab Varela später zu Protokoll.

20 Minuten später traf Schiaffino mit einem satten Rechtsschuss zum Ausgleich. 10 Minuten vor Schluss dann das Unerwartete, das Unglaubliche. Angriff über die rechte Seite. Ghiggia überläuft Brasiliens Verteiger Bigode und schießt statt nach innen auf den bereitstehenden Schiaffino zu passen, hart aufs kurze Eck. Der überraschte Torhüter Barbosa kommt zu spät. 2:1!

„Wir waren Weltmeister“

„Die Brasilianer waren nach dem Ausgleich wie geschockt, während wir weiter Druck machten. Nach einem Doppelpass mit Julio Pérez stürmte ich in spitzem Winkel direkt aufs Tor zu. Als sich ein Verteidiger aus dem Abwehrzentrum löste und auf mich zulief, orientierte sich Barbosa in die Mitte, um das Zuspiel nach innen zu verhindern, aber ich hielt einfach drauf und der Ball war drin. Barbosa hatte offensichtlich nicht damit gerechnet. Ich drehte jubelnd ab und meine Kameraden erdrückten mich fast. Es war eine bizarre Situation: das Einzige, was man in diesem Augenblick in dem riesigen Stadionrund hören konnte, waren unsere Jubelschreie. Wir waren Weltmeister!“

Andere Zeiten, anderer Fußball, andere Sitten: Trotz des Schockzustandes, der Trauer, des Maracanazo gewährte das faire brasilianische Publikum dem Sieger stehenden Applaus. Ein würdiger Champion, der, im Bewusstsein darüber, was für ein Leid er dem brasilianschen Volk zugefügt hatte, sich den ganz großen Jubel für die Abgeschiedenheit der Umkleidekabine aufsparte. Um sich dann zwei Tage später umso frenetischer bei der Ankunft am Flughafen in Montevideo von Tausenden Fans feiern zu lassen. Die Spieler der Meisterelf wurden derart verehrt, dass die uruguayische Bevölkerung zu Spendenaktionen aufrief, um ihnen eine Sonderprämie zu bescheren. Noch heute gehören die Spieler jener Mannschaft zu den ganz großen Idolen des Fußballs in Uruguay.