Empowerment wird zugeknöpft : Warum die neuen Regeln in Cannes sexistisch und überhaupt nicht zeitgemäß sind

Die neuen Kleiderregeln bei der 78. Edition des Filmfestivals in Cannes sorgen für Gesprächsstoff. Und auch BRIGITTE-Redakteurin Julika fragt sich: Wie zeitgemäß ist der neue "No Nipple"-Dresscode und warum gehen die Richtlinien wieder mal nur gegen Frauen?

Mai 16, 2025 - 01:36
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Empowerment wird zugeknöpft : Warum die neuen Regeln in Cannes sexistisch und überhaupt nicht zeitgemäß sind

Die neuen Kleiderregeln bei der 78. Edition des Filmfestivals in Cannes sorgen für Gesprächsstoff. Und auch BRIGITTE-Redakteurin Julika fragt sich: Wie zeitgemäß ist der neue "No Nipple"-Dresscode und warum gehen die Richtlinien wieder mal nur gegen Frauen?

Am 13. Mai 2025 starten zum 78. Mal die Internationalen Filmfestspiele von Cannes – mit einem deutlich verschärften Dresscode, der bei Veröffentlichung einen (!) Tag zuvor für ziemlich hohe Wellen sorgt. Auf der offiziellen Festival-Webseite heißt es nun, dass "Nacktheit auf dem roten Teppich sowie in allen anderen Bereichen des Festivals aus Gründen des Anstands verboten" ist. Ebenfalls unerwünscht: zu ausladende Roben. Wer sich nicht daran halte, soll vom roten Teppich ausgeschlossen werden.

Es liegt nahe, dass vor allem der erste Teil der neuen Regelung eine Reaktion auf den "Naked Dress"-Trend ist. Dass man einen Fall wie Bianca Censori bei den diesjährigen Grammys nicht vor dem Palais des Festivals et des Congrès sehen möchte? Im Prinzip verständlich. Doch das kann man auch anders umsetzen. Denn in der Vergangenheit zeigten vor allen Promis in Cannes, wie schön und alles andere als anmaßend dieser Stil für gemeinhin interpretiert wird. Statt einem wachsamen Auge auf die Gäste – und Cannes-Fans wissen, wie knallhart die Mitarbeiter:innen auf den berühmtesten Stufen Frankreichs sein können – wählt das Festival lieber vollkommene Zensur. Ist das zeitgemäß? Nein. Sondern noch dazu auch ziemlich frauenfeindlich.

Neue Kleiderordnung in Cannes: Mal wieder eine gegen Frauen 

Keiner stolpert gern über meterlange Stoffbahnen oder bekommt im Kino von ausladenden Tüllbergen die Sicht versperrt. Doch warum sollen die (weiblichen) Stars sich ab sofort züchtig kleiden? Dass ein bisschen Haut in Cannes als "anstößig" angesehen wird, sagt nämlich ganz schön viel aus – und zwar über die Denkweise der Regelmacher. Und die ist nicht frauenfreundlich. In den 1960er Jahren versuchte der Vatikan, den Minirock zu verbieten. Im Jahr 2025 inszenieren sich die Initiatoren der Filmfestspiele in Cannes als Moralapostel. Und als Nächstes?

Denn es ist offensichtlich: Die neuen Verbote richten sich mal wieder nur gegen Frauen. Gegen ihre modische Freiheit und Möglichkeit, sich nach eigenem Ermessen auszuleben in einem Land und auf einem Event, das für seine Freiheitsliebe bekannt ist. Die 60er Jahre rufen wieder an! Das kann man nicht nur als restriktiv, sondern auch als politisch ansehen. Männer dürfen sich vielleicht keine weißen Sneaker hernehmen, ansonsten ist ihnen jedoch alles erlaubt. 

Ist uns lange entgangen, wie prüde die Cannes-Festspiele sind? 

Zum Thema Schuhe: Auch, wer als Frau auf Heels verzichtet und stattdessen auf flaches Schuhwerk setzt, wurde lange nicht gern an der Croisette gesehen. Julia Roberts rebellierte 2016 gegen die ungeschriebene Regel, indem sie barfuß über den roten Teppich lief. 

Wenn man Männern nicht vorschreibt, High Heels und ein Kleid zu tragen, kann man mir das auch nicht vorschreiben

Kristen Stewart zog 2018 demonstrativ ihre Pumps vor den Fotograf:innen aus und erklärte ihre Einstellung zum "Heel Gate": "Wenn man Männern nicht vorschreibt, High Heels und ein Kleid zu tragen, kann man mir das auch nicht vorschreiben". Oh ja! 

Mittlerweile hat Cannes das Absatz-Gesetz (als Ausgleich?) abgeschwächt. Frauen dürfen immerhin Sandalen ohne Heel tragen. Welche eine zugesprochene Ermächtigung! Man applaudiere! Anstatt genau damit die Freiheit und Kreativität zu fördern und für Offenheit und Wandel einzustehen, macht Cannes aber offenbar eine doppelte Rolle rückwärts und setzt auf "Anstand". Nur wer oder was damit eigentlich geschützt werden soll, erschließt sich nicht.

Mit der Zensur geht Kreativität verloren 

Was die Situation noch bizarrer macht? Für das neue Regelwerk ist mitunter eine Frau zuständig. Iris Knobloch ist die Präsidentin der Filmfestspiele und damit oberste Verantwortliche für die Organisation und Durchführung des Festivals. Sie steht für die Änderungen mit ihrem Namen. Dass mit diesem Schritt jedoch nicht nur die Outfitwahl eines jeden weiblichen Promis, sondern auch die Mode als Kunstform massiv eingeschränkt wird, kam ihr wohl nicht in den Sinn. Nacktheit auf dem roten Teppich ist nicht immer Provokation. Sie ist Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und macht vielen anderen Mut. In der heutigen Zeit hinterlassen Kleidervorschriften für Frauen einen fahlen Beigeschmack – insbesondere, wenn sie von einer Frau zu kommen scheinen.

Nacktes Bein bis zum Höschen. Ob Naomi Campbell sich 2025 trauen würde, dieses Kleid noch mal anzuziehen? Schade wäre es, wenn nicht!
Nacktes Bein bis zum Höschen. Ob Naomi Campbell sich 2025 trauen würde, dieses Kleid noch mal anzuziehen? Schade wäre es, wenn nicht!
© Mondadori Portfolio

 

Verzehrtes Bild auf dem roten Teppich 

Und genau deshalb kommt –man auch nicht umhin sich zu fragen, ob eigentlich irgendein Kleid in dieser Filmfest-Saison von der Côte d’Azur so geplant war? Für Modeliebhaber:innen gehört Cannes zu den Red-Carpet-Highlights des Sommers. Models wie Bella Hadid oder Naomi Campbell verleihen dem Event seit Jahren modische Strahlkraft und setzen neue Trends. Ähnliches sucht man an den ersten drei Festival-Tagen 2025 vergebens. Schade, dass die Kreativität ausgerechnet bei diesem Ereignis nun so stark eingeschränkt wird. Genau dort, wo die Zuschauer:innen bislang immer am meisten staunen und träumen konnten.