Die vergessenen Palästinenser
Ilan Pappé, der renommierte israelische Historiker, Professor an der Universität Exeter, wirft in seinem Buch „Die vergessenen Palästinenser“ ein Schlaglicht auf die Hunderttausenden von Palästinensern, die als israelische Staatsbürger innerhalb der Grenzen des Staates Israel leben und die – wie der Titel richtig sagt – in der Binarität Israelis vs. Palästinenser in den besetztenWeiterlesen

Ilan Pappé, der renommierte israelische Historiker, Professor an der Universität Exeter, wirft in seinem Buch „Die vergessenen Palästinenser“ ein Schlaglicht auf die Hunderttausenden von Palästinensern, die als israelische Staatsbürger innerhalb der Grenzen des Staates Israel leben und die – wie der Titel richtig sagt – in der Binarität Israelis vs. Palästinenser in den besetzten Gebieten im Westjordanland und im Gazastreifen (und natürlich auch als Flüchtlinge im Ausland) oft vergessen werden. Eine Rezension von Maike Gosch.
Ilan Pappe wurde 1954 als Sohn deutscher Juden, die vor den Nazis aus Deutschland nach Israel geflohen waren, in Haifa geboren. Er studierte in Jerusalem und promovierte in Oxford. Er wird den „neuen israelischen Historikern“ zugerechnet, die für eine Revision der offiziellen Geschichtsschreibung des Zionismus und des Staates Israel und für einen kritischen Ausgleich mit den Palästinensern plädieren. Diese Haltung führte zu harten Repressalien in Israel, bis zu Morddrohungen, die ihn letztlich dazu bewegten, 2006 das Land zu verlassen und nach England umzusiedeln. In einem Interview mit der britischen Zeitung The Guardian erklärte er sein Gefühl der moralischen Verpflichtung, gegen die schreckliche Behandlung der Palästinenser durch Israel zu protestieren.
Seine sehr ausführliche Analyse auf der Grundlage umfangreichen Archiv- und Interviewmaterials erschien bereits 2013 auf Englisch. Dennoch ist das Buch sehr aktuell – nicht nur durch ein neues Vorwort, dass die Entwicklungen seit 2013 und insbesondere 2023 bis 2025 nachzeichnet, sondern auch, weil gerade für die deutsche Debatte und Einschätzung der Situation noch sehr viel mehr Hintergrundinformationen notwendig sind.
Oder, wie Pappé im Vorwort zur deutschen Ausgabe eindrücklich schreibt:
„Nur wenn die Welt versteht, dass sie einen anderen Ansatz zur gesamten Palästina-Frage verfolgen und dazu beitragen muss, zwischen dem Fluss und dem Meer eine echte Demokratie für alle zu schaffen, wäre das Schicksal dieser Gemeinschaft gesichert. Darüber hinaus ist diese Gemeinschaft die einzige palästinensische Gemeinschaft, die die israelischen Juden nicht nur als Siedler oder Soldaten kennt. Ihre enge Beziehung zu vielen jüdischen Bürgern ist die beste Garantie für den Wiederaufbau einer arabisch-jüdischen Verständigung in einem befreiten Staat, der frei von Apartheid, Fanatismus und Rassismus ist. Sie sind die Brücke in eine bessere Zukunft und eine echte Versöhnung im zerrissenen Land – eine Errungenschaft, die enorme und positive Auswirkungen auf die ganze Region haben würde.“
Nach dem aktuellen Vorwort für die deutsche Ausgabe (siehe oben) beginnt Pappé seine Untersuchung mit der Haltung und Erwartung der jüdischen Siedler im historischen Palästina zu den bzw. an die Einheimischen. Als eine der Wurzeln für viele späteren Konflikte und Probleme arbeitet er die Erwartung vieler Siedler heraus, ein „leeres“ Land vorzufinden. Oder, wie es in einem bekannten zionistischen Slogan hieß:
„A land without a people for a people without a land”
(„Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“)
Sie betrachteten die einheimischen Palästinenser daher als „Fremde und Eindringlinge“, die ein Land bewohnten, dass dem jüdischen Volk gehöre. Diese feindselige und in gewisser Weise die Realität verkehrende Haltung war aber nicht einheitlich. Pappé zitiert hierzu den palästinensischen Politikwissenschaftler Ibrahim Abu-Lughod mit folgender Beobachtung:
„Die Negierung und völlige Missachtung der Palästinenser vor Ort durch die frühen zionistischen Siedler schockierte diejenigen jüdischen europäischen Denker jener Zeit, die wohlmeinend, aber ziemlich ohne Einfluss waren.“
Dies zieht sich leider wie ein roter Faden durch Darstellung der historischen Ereignisse, die Pappé etwa mit der Vorbereitung und Durchführung der sogenannten „Nakba“ (Katastrophe) 1947 beginnt. Dieses einschneidende Ereignis, das im deutschen Diskurs kaum je erwähnt wird, prägte die Realität für Palästinenser und Israelis massiv und legte den Grundstein für viele der schrecklichen Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts im Nahen Osten. Hierbei handelte es sich um die gewaltsame Vertreibung von etwa 750.000 Palästinensern durch das israelische Militär und paramilitärische zionistische Gruppen im Jahr 1948, die durch Mord, Enteignung, Folter und Terror erfolgte. Nach dem früheren zionistischen Narrativ handelte es sich hierbei um eine „freiwillige Flucht“ infolge von Aufrufen arabischer Führungspersönlichkeiten. Aber schon lange ist anerkannt, dass es sich hierbei um Propagandalügen handelte, und auch im vorliegenden Buch wird umfangreiches historisches Material zitiert, das beweist, dass diese Beschreibung der Realität Hohn spricht.
Nach der Nakba teilte sich das palästinensische Volk in zwei Teile mit jeweils sehr unterschiedlichem juristischem Status. Auf der einen Seite die Vertriebenen, die – zumindest in Staaten wie Deutschland, das Palästina nicht als Staat anerkennt – als staatenlos gelten, auf der anderen Seite die Palästinenser, denen die israelische Staatsbürgerschaft angeboten wurde und die diese annahmen. Um die zweite Gruppe geht es in Pappés Buch primär. Allerdings erzählt er ihre Geschichte, ihre Lebensrealität und -entwicklung immer im Kontext der Ereignisse auch außerhalb des Territoriums Israels in den besetzen Gebieten und teilweise auch im Ausland.
Das Buch ist sehr detailreich und ausführlich, dabei aber immer gut lesbar. Es bietet eine interessante und anregende Mischung aus persönlichen Geschichten, Zitaten und Eindrücken. Zeitzeugen kommen zu Wort, Biographien werden skizziert. Einzelne Menschen und ihre Schicksale treten heraus und werden spürbar. Aber auch Studien werden zitiert, Zahlen genannt und die größeren Linien der Entwicklungen erkennbar. Der Ton des Buches wechselt zwischen sachlich und objektiv und empathisch und emotional – für jemanden, der deutsche wissenschaftliche Bücher gewohnt ist, ein erfrischendes und ungewohntes Leseerlebnis.
Was beim Lesen des Buches auch deutlich wird, ist, wie wenig wir in Deutschland von der (vollständigen) Geschichte Israels, dem Schicksal der Palästinenser und der palästinensischen israelischen Bürger („einheimische arabische Minderheit“) wissen. Kaum eine der wichtigen Figuren war mir namentlich bekannt, viele der Ereignisse ebenfalls nicht, wie zum Beispiel die Zeit der scharfen Militärherrschaft über die Palästinenser und die Zerstörung unzähliger Dörfer und Städte; oder das Vorgehen der israelischen Streitkräfte und Paramilitärs nicht nur gegen muslimische Glaubensstätten, sondern auch gegen die einheimischen Christen und die Schändung von Kirchen. Die Geschichte Israels wird hierzulande oft ausschließlich aus der Sicht der Israelis erzählt und es wird dabei extrem viel weggelassen, das zu einem wirklichen Verstehen der Situation essenziell ist.
Pappé arbeitet heraus, wie es den palästinensischen (in Israel nur „arabisch“ genannten) Staatsbürgern in den folgenden Jahrzehnten erging und in was für einer Zwickmühle sie steckten: zwischen der Sehnsucht nach voller Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger (was sie weder legal noch viel weniger faktisch erreichten) und der gleichzeitigen Solidarität mit ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern in den besetzten Gebieten, die in einem viel stärkeren Maße der Willkür und Gewalt des neuen Staates ausgesetzt waren. Pappé lässt auch die Rolle und das Schicksal anderer ethnischer und religiöser Gruppen in den Gebieten einfließen, das der Drusen, der Beduinen und der Christen. Interessant ist ferner die Rolle der sogenannten Mizrahi-Juden, Angehörige der aus dem Nahen Osten, insbesondere dem arabischen Raum, stammenden jüdischen Volksgruppe.
Der Bericht führt uns von der Nakba über die Militärherrschaft, die bis zum Ende der 60er-Jahre anhielt, über die Erste Intifada bis in die 80er-, 90er- und schließlich 2000er-Jahre. Immer wieder gibt es Momente der Hoffnung und Entspannung, die sich aber schnell wieder zerschlagen und in einer sich stetig steigernde Spirale der Gewalt münden. So gut und flüssig das Buch geschrieben ist (wenn auch die Übersetzung an manchen Stellen etwas holperig wirkt), so bedrückend ist es doch, immer wieder Hoffnung aufblitzen zu sehen, von mutigen Widerstands- und Bürgerrechtskämpfern auf palästinensischer Seite zu erfahren und von anständigen und ebenfalls mutigen Mitkämpfern unter den israelischen Bürgern oder jüdischen Persönlichkeiten aus dem Ausland, die sich für eine gerechtere Lösung einsetzen, nur um dann wieder zu erfahren, wie all diese Bemühungen durch Gesetzesänderungen, Gerichtsurteile oder brutale und repressive Maßnahmen wie Verhaftungen, Schikane, Folter und Mord vernichtet werden und zu wiederum gewalttätigeren Reaktionen der unterdrückten Palästinenser und ihrer Verbündeten in der arabischen Welt führen.
Das Buch beschreibt, wie Israel letztlich an seinen zwei Geburtsfehlern in der Grundkonstruktion scheitert und wahrscheinlich auch scheitern musste: zum einen die Negierung der Realität, dass zur Besiedlung des Gebietes die gewaltsame Vertreibung der einheimischen Bevölkerung notwendig war, die dieses nicht verzeihen kann und die daher ihre Rückkehr, Rücknahme der Enteignungen und Gerechtigkeit für die ihnen angetane Gewalt fordert, während Israel diese Enteignung, Landnahme und Vertreibung immer weiter fortzusetzen gedenkt, und zum anderen die Konstruktion Israels als einer ethnisch-religiösen Demokratie (einzigartig in der Welt), die daher davon abhängig ist, dass die Anzahl der jüdischen Staatsbürger ein gewisses Quorum nie unterschreitet, sodass sie das Bevölkerungswachstum der israelischen arabischen (palästinensischen) Bevölkerung immer ängstlich kontrollieren muss und auch eine Rückkehr der Vertriebenen schon wegen ihrer Auswirkung auf diese Zahlenverhältnisse nicht erlauben kann („demographische Gefahr“). Max Blumenthal hat dieses „Dilemma“ bereits 2013 in seinem Interview mit Tilo Jung sehr gut erläutert.
Die Sympathie Pappés ist eindeutig mit den Palästinensern, dennoch hat er viel Verständnis für die israelisch-jüdische Seite (der er ja selbst angehört), ihr Schicksal, ihre Geschichte und die Hoffnung, die sie mit der Besiedlung des historischen Palästinas und der Staatsgründung Israels verband. Er bemüht sich auch erkennbar um Fairness und führt einige Bemühungen zur Verbesserung der Lage der palästinensischen jüdischen Staatsbürger im Rahmen von Modernisierungsmaßnahmen auf, entlarvt aber gleichzeitig vieles an der offiziellen Erzählung über diese Entwicklung als irreführend und Propaganda.
Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen; nicht nur, weil es eine klaffende Bildungslücke bei vielen Deutschen füllen wird, sondern auch, weil die tiefe Humanität und Empathie des Autors immer wieder Hoffnung dafür aufscheinen lassen, wie eine Lösung für die schreckliche Situation aussehen könnte.
Im Lichte der Ereignisse der letzten anderthalb Jahre seit dem 5. Oktober 2023 und der schrecklichen Kriegsverbrechen Israels seitdem wird immer deutlicher, wie unerträglich und untragbar die Situation ist. Die deutsche Politik und in weiten Teilen die deutsche Bevölkerung stehen hier leider mit ihrer Position – anders, als sie es meinen – nicht auf der richtigen Seite der Geschichte. Es ist kein Frieden ohne Gerechtigkeit möglich. Und es ist kein Beitrag zu einer Lösung einer Situation möglich, von der man nur eine sehr verzerrte und ausschnittsweise Version kennt. Insofern ist Pappés Buch ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit, dem man schon aus diesem Grund eine große Leserschaft wünscht.
Ilan Pappé: „Die vergessenen Palästinenser: Die Geschichte der Palästinenser in Israel“. aus dem Englischen von Giselher Hickel, Abraham Melzer, Uli Schieszl, Viktoria Waltz, Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, Taschenbuch kartoniert, 336 Seiten, ISBN 978-3864894930, 24 Euro.