Arbeitslosigkeit als Lifestyle: Warum feiern immer mehr junge Frauen ihr Leben mit ALG 1?

In den sozialen Medien zeigen junge Langzeitarbeitslose ihr entspanntes Lotterleben zwischen Jobcenter, Lunchdates und Friseurbesuchen – und werden dafür gefeiert. Blanker Hohn – oder eine längst überfällige Entstigmatisierung von Kündigungen und Arbeitslosigkeit? 

Mai 8, 2025 - 12:50
 0
Arbeitslosigkeit als Lifestyle: Warum feiern immer mehr junge Frauen ihr Leben mit ALG 1?

In den sozialen Medien zeigen junge Langzeitarbeitslose ihr entspanntes Lotterleben zwischen Jobcenter, Lunchdates und Friseurbesuchen – und werden dafür gefeiert. Blanker Hohn – oder eine längst überfällige Entstigmatisierung von Kündigungen und Arbeitslosigkeit? 

"Wie kann man fünfmal die Woche neun Stunden arbeiten, um zwei Tage freizuhaben?", fragt Creatorin @laeryssa17 auf TikTok. Sie sei einfach nicht fürs Arbeiten gemacht. "Traumjob? Wieso soll ich davon träumen, zu arbeiten?" Auch Nadine Wagenaar (34, seit fast einem Jahr arbeitslos) zeigt auf Instagram, wie sie mit ihrem Hund zum Jobcenter oder ins Frühstückscafé spaziert – und ihr Leben mit ALG 1 offensichtlich genießt. Mittlerweile schauen ihr 60.000 Follower dabei zu. Warum bloß? 

Auf den ersten Blick sind diese neuen "Infaulencer" ein echter Aufreger, auf den zweiten – ziemlich mutig und progressiv: Statt sich leidend in die Schamecke zu verkriechen, gehen diese Frauen selbstbewusst nach vorne, machen "Realtalk über Bewerbungskämpfe" und zeigen, dass man "trotz Arbeitslosigkeit ein schönes Leben haben kann" – so erklärt es etwa @cc.blow, die sich selbst "Deutschlands fotzigste Arbeitslose" nennt, in Anlehnung an den sehr medienprominenten Langzeitarbeitslosen Arno Dübel. 

Kündigungen aus der Schamecke holen 

"Wer ernsthaft glaubt, Arbeitslosigkeit muss immer im Jogginganzug und maximal leidvoll auf dem Sofa stattfinden, hat ein veraltetes Bild im Kopf – geprägt von RTL Zwei-Dokus", sagt Nadine Wagenaar zu BRIGITTE. Wagenaar ist eine 34-jährige Akademikerin mit zwölfjähriger Berufserfahrung im Online-Marketing, die sich die Sinnfrage stellt: Was will ich wirklich mit meinem Leben anfangen? Und solange sie die Antwort nicht gefunden hat, "gönnt" sie sich das Geld aus ihrer Arbeitslosenversicherung – und steht dazu. 

Damit treffen sie und andere arbeitslosen Provokateurinnen einen Nerv: „In der Social-Media-Welt gibt niemand zu, wenn er scheitert. Alle zeigen, wie erfolgreich sie sind, wie schön, was für einen schönen Urlaub, was für schöne Klamotten sie haben", sagt Nadine Wagenaar. Damit wolle sie brechen. 

Kriselnde Wirtschaft? Egal

Die Reaktionen? Gespalten. Viele schreiben, wie befreiend sie ihren Umgang mit Arbeitslosigkeit finden, andere kommentieren: "Ekelhaft, dir sollte man alle Gelder streichen." Während immer wieder in Talkshows Stimmung gegen Arbeitslose gemacht wird und über Kürzungen des Bürgergelds gestritten, inszenieren die "Infaulencer" Arbeitslosigkeit als herrliches zielloses Sabbatical – zumindest, solange das ALG1 währt. Und dass aufgrund der kriselnden Wirtschaft beinahe wöchentlich Großunternehmen Entlassungswellen ankündigen, dringt in die Blase der Arbeitslos-Creatorinnen mutmaßlich gar nicht vor. Einige werfen den Frauen deshalb Verharmlosung von Arbeitslosigkeit vor. Die Zeit kritisierte, dass Wagenaar und Co. nicht die Lebensrealität "echter Arbeitsloser" abbilden würden. Sie reagierte prompt: "Muss Arbeitslosigkeit denn immer gleich aussehen, damit sie gültig ist?" 

Nur wer schuftet, ist wertvoll?

Mit dieser Einstellung verkörpern sie ein Lebensgefühl, für das die Gen Z regelmäßig kritisiert wird: Klassische Leistungsnarrative ("nur wer schuftet, ist wertvoll") werden zunehmend abgelehnt, stattdessen wird auf Selbstfürsorge, Work-Life-Balance und ein authentisches Leben gesetzt. In den sozialen Medien trenden Hashtags wie #Funemployment oder #CareerBreak. Öffentlich zu sagen: "Ich bin gerade nicht produktiv – und das ist okay" wird als Befreiung aus alten Rollenbildern gesehen. 

Pausen, da sind sich wohl viele einig, gelten als elementar wichtig, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben. Sind die Wagenaar und Co. also vielmehr Zeichen und Mahner:innen eines kaputten Systems?

Wenn Pausen zum Stressfaktor werden  

Zur Wahrheit gehört jedenfalls: Irgendwann tut es auch wieder gut, arbeiten zu gehen. Studien bestätigen, dass eine gut strukturierte Tagesroutine ein starker Schutzfaktor gegen Depression und Angststörungen ist. Auch nicht zu unterschätzen: die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz – für viele ein zentraler Glücksfaktor.  

Fakt ist auch: Ohne Moos nix los. Nach zwölf Monaten ist ohnehin Schluss mit ALG 1, das 60 Prozent des alten Netto-Gehalts beträgt. Ohne ausreichende Ersparnisse – oder zumindest ein stabiles soziales Netz – kann eine Job-Pause schnell zum Stressfaktor werden, gar zur existenziellen Krise.

Nadine Wagenaar will trotzdem nicht zurück ins Büro: "Das Nine-to-five hat mich nie erfüllt", sagt sie. Nun könne sie auf Social Media ihre Karrierepause kreativ inszenieren – vielleicht ein erster Schritt in Richtung Selbstständigkeit. "Ich hätte nie gedacht, dass ich in genau dieser Nische lande, aber ironischerweise ist sie die erfolgreichste, die ich hätte wählen können." 
Gerade durfte die Arbeitslose ausgerechnet das Job-Portal LinkedIn als Gesicht beim "OMR"-Festival vertreten. Ihr Plan scheint aufzugehen. Eine Lösung für alle ist es sicherlich nicht.