Unsichtbarkeit migrantischer Mütter: "Die haben mich gefragt, ob ich ihre Putzfrau werden möchte"
Nach den USA ist Deutschland das Land mit der weltweit höchsten Einwanderungsquote. Doch wer sind eigentlich die eingewanderten Frauen, die in der Mehrheitsgesellschaft kaum sichtbar sind, obwohl sie so viel leisten? Eine Spurensuche.

Nach den USA ist Deutschland das Land mit der weltweit höchsten Einwanderungsquote. Doch wer sind eigentlich die eingewanderten Frauen, die in der Mehrheitsgesellschaft kaum sichtbar sind, obwohl sie so viel leisten? Eine Spurensuche.
Stell dir vor, du kochst das Essen an der Klinik, in der deine Kinder Leben retten; bist die "Ungelernte" während deine Tochter das tut, worin du so gut warst: Kinder unterrichten. Für sie hast du deine Heimat verlassen, damit sie es besser haben, hast sie großgezogen, warst die treibende Kraft hinter ihrem Bildungsaufstieg. Doch was ist eigentlich mit dir?
Verkannte Poetin des Alltags
Migrantische Frauen der ersten Generation sind in der Gesellschaft häufig merkwürdig unsichtbar. Auch die Mutter des angehenden Lehrers und Internet-Stars Tahsim Durgun (@tahdurr) ist in seinen humorigen Videos immer nur aus dem Off zu hören. Jetzt hat er ihr ein Denkmal aus Dankbarkeit gesetzt und ein Buch über sie geschrieben: "Mama, bitte lern Deutsch – Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft" erzählt exemplarisch ihre "unerzählte Geschichte" – es ist die Geschichte von Einwanderinnen in Deutschland, die man nie richtig ankommen ließ.
Sozial wie räumlich werden diese Frauen häufig an den Rand gedrängt: Das trostlose Wohnviertel, in dem Familie Durgun lebt, ist der einzige Ort, an dem Tahsims Mutter Anerkennung findet – anders als in der Mehrheitsgesellschaft, deren Sprache sie nicht spricht. Dabei ist sie ein "Sprachgenie", die "Dichterkönigin des Blocks", wie er schreibt, ihr Kurdisch stecke voller Poesie. Wenn sich im Sommer die Nachbar:innen draußen versammelten, verwandelte seine Mutter "die Wiese in eine leuchtende Oase (...). Sie saß meist in der Mitte, erzählte Geschichten und brachte die Leute mit Erinnerungen an die Heimat zum Lachen."
Auf seine Frage, warum sie in 30 Jahren kaum Deutsch gelernt habe, sagt sie einmal am Küchentisch sitzend:
Es gab Tage, an denen ihr auf Klassenfahrten wart und auch Baba viel unterwegs war und ich mehr Zeit mit diesem Tisch verbracht habe als mit einem Menschen. (…) Der Tisch war immer hier, aber ich konnte nichts von ihm lernen.“
Tahsims Mutter hat zu Hause vier Kinder großgezogen, der Spracherwerb jedoch findet maßgeblich im Beruf statt. Davon, dass sie jeden Morgen ein Café putzt, bevor die Gäste kommen, profitiert sie allerdings nicht.
Und längst nicht alle Einwanderinnen haben Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sprachkursen, geschweige denn zu den knappen Kinderbetreuungsplätzen. Was Migrantinnen trotz ihrer Heterogenität außerdem verbindet, ist der Mangel dessen, was Dr. Niklas Harder "implizites Institutionenwissen" nennt. Der Co-Leiter der Abteilung Integration am "Deutschen Institut für Integrations- und Migrationsforschung" (DeZIM) erklärt das so: "Wegen der Sprachbarriere und fehlender sozialer Netzwerke fehlt besonders Neuankömmlingen das Institutionenwissen, das gerade für Eltern wichtig ist – diese Tipps und Tricks, die man mit Freunden und Verwandten teilt. Etwa dass es nicht ausreicht, online den Antrag für den Kitaplatz auszufüllen, sondern dass man sich da auch persönlich vorstellen muss."
Solche stockenden Informationsflüsse sind sicherlich ein Grund, warum die Betreuungsquote bei migrantischen Kindern unter drei Jahren nur ungefähr halb so hoch ist wie bei nicht-migrantischen Kindern – obwohl das "Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend" (BMFSFJ) Menschen mit Migrationshintergrund eine "hohe Berufsorientierung" attestiert.
"Die haben mich gefragt, ob ich ihre Putzfrau werden möchte"
Frauen, die wegen ihres Aufenthaltsstatus‘ nicht arbeiten dürfen oder wegen der Kinder keinem Job nachgehen können, haben zu selten Gelegenheit, die Sprache zu erlernen. Mit gravierenden Folgen: Aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse werden sie häufig als ungebildet wahrgenommen, auch dann, wenn sie hoch qualifiziert sind. Tahsims Mutter erzählt im Buch, wie sie sich vergeblich bemühte, in Deutschland anzukommen und die Sprache zu lernen:
"Ich habe alles versucht, mein Sohn. Bin zu euren Schulfesten gegangen, habe Leute im Bus für Gespräche angesprochen. Ich habe sogar in der Kirche ausgeholfen. Da haben die mich gefragt, ob ich ihre Putzfrau werden möchte."
Bringen Migrantinnen eine Berufsausbildung mit, wird diese häufig nicht anerkannt, auch wenn die Zahl der positiven Bescheide in letzter Zeit angestiegen ist (von 2022 auf 2023 um ein Viertel). Nicht so bei Maris Mutter Milena Petrosyan*: In Armenien arbeitete sie als Grundschullehrerin, in Deutschland kümmert sie sich als Ungelernte um pflegebedürftige Menschen. Während sie diesen sozialen Abstieg in Kauf nimmt, tut sie alles dafür, damit ihre drei Töchter studieren können, zwei von ihnen Jura, die Jüngste wird Lehrerin.
"Meine Mutter hat so viel aufgegeben für uns: Ihre Familie, mit der sie eine sehr enge Bindung hat, ihre Freundinnen und das Land, dessen Sprache sie beherrscht und in dem sie ihren Beruf ausüben konnte", sagt Mari, 35. Heute ermutigen die Töchter ihre Mutter, auch auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten. Doch diese kann nicht aus ihrer Haut. "Wenn wir essen gehen, besteht sie darauf, dass sie bezahlt, obwohl meine ältere Schwester und ich viel besser verdienen als sie."
Allein mit vier Kindern
Die Mutter der SPD-Politikerin Hibba Tun Noor Kauser, 26, zog ihre vier Kinder sogar alleine groß. 1999 war sie mit ihrem Mann aus Pakistan geflohen, ihre Tochter Hibba brachte sie in einer brandenburgischen Geflüchtetenunterkunft zur Welt. Als sie 13 war, zerbrach die Ehe der Eltern. Niklas Harder sagt, dass gerade bei eingewanderten Paaren Trennungen nicht selten seien, da die erlebten Umbrüche Anlass sein könnten, eine Beziehung neu zu hinterfragen. Gleichzeitig "weisen die Haushalte alleinerziehender Migrantinnen mit Abstand das größte Armutsrisiko und den größten Stress bei den Müttern auf."
Trotz dieser schwierigen Bedingungen ermöglichte Kausers Mutter allen vier Kindern eine akademische Laufbahn: Ein Sohn ist Lehrer geworden, der andere Informatiker, die jüngere Tochter studiert Medizin, Hibba neben ihrem Engagement als Stadtverordnete in Offenbach Soziologie und Politikwissenschaften. "Meine Mutter ist die stärkste Frau, die ich kenne", sagt Kauser, sich hingegen gönne sie absolut nichts – "selbst Hausschuhe leistet sie sich nur im Ein-Euro-Shop." Und weil es ihr als alleinerziehender Asylbewerberin nicht möglich war, einer geregelten Arbeit nachzugehen, bekam sie nie die deutsche Staatsbürgerschaft. "Dafür muss man Arbeitsnachweise liefern – aber Care-Arbeit wird ja leider nicht als Arbeit anerkannt", kritisiert Kauser.
Die Mutter, die ihre Töchter zurückließ
Als Frau eines türkischen Gastarbeiters hatte Minire Varol es in den Sechzigern leichter als Kausers Mutter. Sie durfte sofort arbeiten, zunächst in einer Strumpffabrik, später schweißte sie Rollstühle zusammen, putzte in einem Krankenhaus und sparte so das erste Haus der Familie zusammen. Doch für ihren Fleiß zahlte sie einen hohen Preis: Damit sie arbeiten konnte, ließ sie ihre Zwillingsmädchen bei den Großeltern in der Türkei zurück. Als die Teenager schließlich nach Deutschland kamen, pushte die Mutter ihre mittlerweile drei Töchter "zu Höchstleistungen", wie Sevda Tamer, 52, eines der Zwillinge, erzählt: "Es reichte ihr nicht, dass wir eine Ausbildung machen, wir mussten unbedingt studieren."
Der Fotograf Bernd Perlbach, ein enger Freund der Familie, bestätigt, dass es der Verdienst der Mutter gewesen sei, dass aus den Kindern "etwas geworden ist". Minire habe "wie ein Berserker für die Familie gearbeitet" und ihren Mann in allen Belangen überholt, auch in der Sprachkompetenz: "Wenn sie sich etwas auf die Hörner genommen hat, dann wurde das realisiert, egal was ihr Mann sagte." Doch sie habe immer das schlechte Gewissen einer Mutter gehabt, die ihre Kinder in die Obhut anderer gegeben hat. "Das war ein ständiger Konflikt in ihrem Leben, den sie tapfer aushielt, damit es den Kindern später besser geht". Als sie 2022 verstarb, hinterließ sie "eine Riesenlücke, die wir leider nicht schließen können", wie Sevda Tamer es ausdrückt.
Eine ähnlich zentrale Rolle kommt Tahsim Durguns Mutter in der Familie zu: "Mein Baba saß am Steuer des Autos, meine Mutter am Steuer des Familienlebens", schreibt er. Den Preis, den sie für den sozialen Aufstieg ihrer Kinder bezahlt, den Schmerz, ausgegrenzt und nicht für voll genommen zu werden, ihr Heimweh nach dem Dorf in den Bergen, all das ertrinkt sie im Tee: "Die Last, die deine Seele zu tragen hat, wird kleiner, du wäschst sie mit dem Çay ab – wie ein fließender Bach, der deinen Körper reinigt", sagt sie.
Und obwohl sie für ihre Kinder alles erreicht hat, was ihr wichtig war – gute Bildung, deutsche Pässe – ist ihr das nicht genug. "Mama, bitte – was wünschst du dir?", fragt ihr Sohn sie einmal, um herauszufinden, was ihre Sehnsüchte sind.
Sie antwortet: "Dass ihr glücklich seid."
*Die Namen sind der Redaktion bekannt