Südafrika: Das mysteriöse Verschwinden der Weißen Haie – und was Orcas damit zu tun haben
Zwei berüchtigte Orcas attackieren Weiße Haie vor Südafrika. Seither schwindet regional die Population, und das Ökosystem kippt. Doch taugen die Orcas wirklich als Sündenböcke?

Zwei berüchtigte Orcas attackieren Weiße Haie vor Südafrika. Seither schwindet regional die Population, und das Ökosystem kippt. Doch taugen die Orcas wirklich als Sündenböcke?
Man könnte meinen, der Weiße Hai mit seinen messerscharfen Zähnen und einer Beißkraft von mehr als drei Tonnen stünde an der Spitze der maritimen Nahrungskette. Doch es gibt noch gefährlichere Räuber, vor denen selbst die Top-Predatoren die Flucht ergreifen: Orcas. Die Schwertwale machen vor Südafrikas Küste gezielt Jagd auf Haie. Auch der Weiße Hai steht auf ihrem Speiseplan. Seine Bestände sinken seit Jahren. Eine Studie zeigt nun, wie sein Fehlen das Ökosystem in der Region ins Wanken bringt. Doch welchen Anteil tragen die Orca-Angriffe an seinem Verschwinden?
Der Meeresökologe und Leiter der Shark Research Foundation Neil Hammerschlag hat zusammen mit einem Team aus südafrikanischen, US-amerikanischen und britischen Forschern Beobachtungsdaten aus den Jahren 2000 bis 2020 ausgewertet. Im Fokus stand dabei die Bucht False Bay bei Kapstadt. Von Schiffen aus wurden die Haie mit Ködern oder Seebär-Attrappen angelockt und dokumentiert. Demnach war die Population über die ersten 15 Jahre stabil und begann dann plötzlich zu sinken, bis die Weißen Haie 2018 gänzlich aus der Bucht verschwunden waren.
Orcas reißen Haien gezielt die Leber heraus
In dieser Zeit trieben dort die beiden Orcabullen "Backbord" und "Steuerbord" ihr Unwesen, so benannt, weil ihre Finnen in gegensätzliche Richtungen zeigen. 2015 wurde erstmals beobachtet, dass die Tiere Bronzehaie angriffen. Die Opfer wurden vermehrt an Land gespült und waren bis auf eine fehlende Leber unberührt. Die Orcas hatten ihnen gezielt das bevorzugte fettreiche Organ herausgerissen. Eine Jagdtechnik, die vereinzelt auch vor den Küsten Australiens und Kaliforniens beobachtet wurde. Dabei werfen die Orcas die Haie mitunter auf den Rücken, worauf diese minutenlang in eine wehrlose Starre verfallen.
Offenbar wurden die Orcas mit der Zeit mutiger und raffinierter. 2017 hatte das Duo wohl bis zu sieben Weiße Haie auf dem Gewissen. In den folgenden Jahren wurden keine Weißen Haie mehr in der False Bay gesichtet. Anscheinend mieden sie die Region, die wegen der dortigen Seebären-Kolonie bis dahin ein wichtiger Nahrungsgrund war. Im August 2023 beobachteten Forschende dann weiter östlich in der Mossel Bay, wie "Steuerbord" einen jungen Weißen Hai attackierte. Damit war klar, dass Orcas die Top-Predatoren sogar im Alleingang töten.
Schwertwale sind wohl nicht allein für den Rückgang verantwortlich
Darüber aber, ob nur die Orcas für das Verschwinden der Haie verantwortlich sind, ist sich die Forschung uneinig. Die einen sehen eindeutig einen Zusammenhang und nehmen an, dass die Haipopulation außerhalb der Bucht weiterhin stabil ist. Andere Forschende hingegen weisen darauf hin, dass der Haischwund schon vor den Attacken der Orcas begann und sich auch auf die Umgebung erstreckt. Neil Hammerschlag, der Autor der neuen Studie, ist überzeugt: "Die wahre Bedrohung für Südafrikas Weiße Haipopulation sind nicht bloß zwei Orcas – wir Menschen sind es." Die Orcas seien aus seiner Sicht nur "der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt." Normalerweise kehrten die Haie schnell zurück, wenn die Orcas weiterzögen.
"Im Rahmen des tödlichen Haifischnetzprogramms des 'KwaZulu-Natal Sharks Board' werden jedes Jahr 25 bis 30 Weiße Haie getötet, und es gibt neue Beweise für den Beifang Weißer Haie in der Grundfisch-Langleinenfischerei", sagt Hammerschlag. Dabei werden Langleinen mit Köderhaken nicht nahe der Wasseroberfläche, sondern am Meeresgrund platziert. Auch Umweltschutzorganisationen kritisieren seit Jahren, dass die geschützten Meeresräuber sowie andere harmlose Tiere wie Delfine und Rochen elendig in Haifischnetzen vor der südafrikanischen Küste verenden. Diese sollen Haie von Badestränden fernhalten, obwohl die Tiere nur äußerst selten Menschen angreifen und sie nicht als Beute betrachten.
Auch vor Orcas muss sich im Übrigen niemand fürchten. "Es gibt keinen Beweis dafür, dass Schwertwale in freier Wildbahn eine Bedrohung für Menschen darstellen. Orcas sind in Bezug auf ihre Beute und ihr Verhalten sehr wählerisch", sagt Hammerschlag. Allerdings sei es durchaus möglich, dass die hochintelligenten, sozialen Tiere ihr Verhalten weitergäben und andere Orcas sich die haispezifische Jagdtechnik abschauten.
Seebären fühlen sich in Abwesenheit der Weißen Haie sichtlich wohl
Was immer die Ursache ist, das Verschwinden der Weißen Haie hat messbare ökologische Folgen, wie Hammerschlags Team feststellte. Insbesondere stieg die Population der Südafrikanischen Seebären rasant an. Das zeigten öffentlich zugängliche Daten der Organisation "Global Biodiversity Information Facility", die überwiegend ehrenamtliche Bürgerwissenschaftler erheben. Zudem werden Seebären in immer größerer Entfernung von dem Meeresfelsen Seal Island gesichtet, auf dem sie zuvor insbesondere in den Wintermonaten zu Tausenden Schutz vor Haiangriffen suchten. Im Gegenzug schwand die Population der Pelagischen Fische, von denen sich wiederum die Seebären ernähren. Ihre Zahl wurde mithilfe von Unterwasserkameras an mit Sardinen bestückten Ködern gemessen.
© Illustration von Kelly Quinn / Canvas of the Wild
Zeitgleich mit dem Verschwinden der Weißen Haie tauchte vermehrt eine neue Spezies in der Bucht auf: Der Breitnasen-Siebenkiemerhai pflügt seither durch die Gewässer rund um Seal Island. Auch dieser Hai steht normalerweise auf dem Speiseplan des Weißes Hais, konkurriert mit diesem aber auch um dieselbe Beute; etwa kleinere ("benthische") Haie, die sich vorzugsweise am Meeresboden aufhalten. Deren Population nahm durch die hohe Präsenz der Breitnasen-Siebenkiemerhaie ab, wie die Unterwasserkameras zeigen.
Keine spektakulären Hai-Luftsprünge mehr in der False Bay
Obwohl die Forschungsdaten mit einigem Aufwand erhoben wurden, ist es naturgemäß schwierig, Veränderungen in einem komplexen Ökosystem mittels Stichproben zuverlässig zu erfassen. So spiegeln sich die Ergebnisse der Unterwasserkameras nicht in den Fischereierträgen wider, die keinen eindeutigen Rückgang verzeichneten. Auch ist nicht auszuschließen, dass ein unterschätzter weiterer Faktor wie Überfischung oder Klimawandel für die Zunahme, beziehungsweise den Schwund der verschiedenen Arten verantwortlich ist.
Dennoch resümiert Hammerschlag: "Diese Studie ist ein seltenes, empirisches Beispiel für eine trophische Kaskade, die durch den Verlust eines Spitzenprädators der Meere verursacht wird. Sie zeigt, dass Weiße Haie nicht nur Ikonen sind. Sie sind ökologische Dreh- und Angelpunkte." Ihr Verschwinden aus der False Bay deute auf tiefergehende Probleme im Zusammenleben zwischen Mensch und Meeresbewohnern hin.
Ob die Veränderungen dem Ökosystem nachhaltig schaden, lässt sich noch nicht absehen. Gelitten hat aber jetzt schon der Tourismus. Hai-Touren, die auch Forschern wie Neil Hammerschlag ein Einkommen sichern, finden in der False Bay nicht mehr statt. Auch die beliebte Doku-Serie "Air Jaws" des Senders Discovery Channel konnte die Bucht als Drehort nicht mehr nutzen. Sie zeigt in bombastischen Aufnahmen, wie ausgewachsene Weiße Haie unter dem Geschrei begeisterter Kommentatoren mit Seelöwen-Attrappen im Maul meterhoch aus dem Wasser springen. Einer der spektakulärsten Drehorte war Seal Island – die Insel der Seebären.