Staatsreform: Nach dem Finanzwumms braucht das Land einen Strukturwumms

Das große Schuldenpaket ist unter Dach und Fach, doch damit es auch seine Wirkung entfalten kann, braucht Deutschland Strukturreformen. Als Vorlage können die 30 Reformvorschläge dienen, die eine Expertenrunde vorgestellt hat

Mär 21, 2025 - 20:05
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Staatsreform: Nach dem Finanzwumms braucht das Land einen Strukturwumms

Das große Schuldenpaket ist unter Dach und Fach, doch damit es auch seine Wirkung entfalten kann, braucht Deutschland Strukturreformen. Als Vorlage können die 30 Reformvorschläge dienen, die eine Expertenrunde vorgestellt hat

Wieselworte sind Begriffe, die man gerne schnell dahinsagt, wenn etwas Kluges oder Wichtiges erwartet wird – unter denen aber jeder etwas Anderes verstehen kann. „Strukturreform“ ist so ein Wieselwort. Die einen denken dabei an Einschnitte in die Sozialsysteme, dauerhafte Leistungskürzungen etwa bei Renten-, Kranken- oder Pflegeversicherung. Die anderen denken zum Beispiel an Steuerreformen, breit angelegte Entlastungen für Arbeitnehmer und Unternehmen. Auf jeden Fall ist die Strukturreform ein Kampfbegriff geworden – die Fanfare zum Rückbau des Sozialstaats und zur Rückkehr der Freiheit. Und wie immer bei Kampfbegriffen gilt: Einmal ausgesprochen führen sie zuverlässig zum glatten Gegenteil. Weil sich alle sofort in die Gräben werfen, um den Status quo zu verteidigen.

Nimmt man jedoch nur den Wortsinn, so bezeichnet Strukturreform in unserer Gesellschaft die Veränderung der Strukturen, in denen wir arbeiten und leben – langfristig und grundlegend. Interessanterweise werden solche Veränderungen in Deutschland umgehend mit Verlust verbunden. Dabei lassen sich viele Strukturen ändern, ohne irgendwem etwas wegzunehmen. Oft geht es einfach nur darum, Dinge anders zu machen als bisher, im Idealfall besser. Und nicht selten passiert das aus der schieren Not heraus – weil es so wie bisher nicht mehr geht. 

Der wahrscheinlich extremste Fall war die Pandemie vor fünf Jahren, sie bedeutete einen Strukturbruch und keine Reform. Dennoch hat Covid-19 viele Strukturen in Deutschland stärker verändert als 20 Kommissionen zur Reform des deutschen Arbeitsrechts, der deutschen Verwaltung oder des Bildungssystems. Vieles, was damals in den Shutdowns schnell improvisiert wurde, hat sich etabliert und wurde ausgefeilt: das flexible Büro, das digitale Arbeiten, überhaupt die Digitalisierung.

Revolution im deutschen Steuer- und Sozialrecht

Allerdings gilt dieser Wandel fast ausschließlich für die private Arbeitswelt. Dass wir heute ungläubig den Kopf schütteln, wenn befreundete Lehrer berichten, wie sie versuchen, an eine Schule in einem anderen Bundesland zu wechseln („Bewerbung aus anderen Bundesländern nur mit drei amtlich beglaubigten Kopien der Examenszeugnisse durch das einstige Prüfungsamt inklusive der Abschlussnoten bis auf die dritte Nachkommastelle“), liegt auch daran, dass der öffentliche Dienst gefühlt immer noch so arbeitet wie vor 50 Jahren. Nur ohne Wählscheibentelefon. 

Vor gut zehn Tagen hat eine kleine Expertenrunde 30 Vorschläge für Strukturreformen in Deutschland vorgelegt, die tiefgreifend und revolutionär wären, die unser tägliches Leben und Arbeiten verändern würden – und die zum ganz überwiegenden Teil ohne Einschnitte in die politisch ach so heiklen Sozialtransfers auskommen würden. Stattdessen würden sie bei jenen Strukturen ansetzen, mit denen wir teils seit Jahrzehnten die öffentliche Verwaltung organisiert haben. Ein Beispiel: Es gibt eine Vielzahl von Begriffen, die im Steuer- und Sozialrecht entscheidend sind, um bestimmte Vorteile oder Leistungen in Anspruch nehmen zu können – das „Einkommen“ etwa, der „gewöhnliche Aufenthaltsort“, die „Familie“, das „Kind“, das „Vermögen“. Alles Begriffe, die ziemlich klar und eindeutig erscheinen, je nach Paragraf und Gesetzbuch aber unterschiedliche Dinge bedeuten können. Was wiederum jeweils eigene Anträge sowie eigene Prüf- und Kontrollverfahren nach sich zieht. Die Vierer-Runde aus dem früheren Bundesverfassungsrichter Andreas Voßkuhle, den beiden Ex-Ministern Thomas de Maizière und Peer Steinbrück sowie der früheren Verlagsmanagerin Julia Jäkel schlägt nun vor, dass gleiche Begriffe auch das gleiche bedeuten sollten – und im Zweifelsfall ein Nachweis und eine Prüfung dann für alle Ansprüche und Leistungen ausreichen sollten. Klingt sinnvoll und einfach, wäre aber eine Revolution im deutschen Steuer- und Sozialrecht. 

„Vertrauensvorschuss“ für die Bürgerinnen und Bürger 

Ähnlich wie der Vorschlag, dass es künftig eine zentrale Online-Plattform für alle Sozialleistungen geben soll. Nicht mehr Bürgeramt, Krankenkasse, Pflegekasse, Rentenversicherung, Familienkasse, Arbeitsagentur, sondern eine Anlaufstelle. Und dahinter – ein dritter Vorschlag – am besten auch nur noch ein zuständiges Ministerium im Bund, das diese Leistungen alle regelt und überwacht. Oder, noch so eine revolutionäre Idee: Alle Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen, erhalten einen „Vertrauensvorschuss“. Es bedeutet, dass nicht mehr der vollständige Nachweis und die x-fache Prüfung und Kontrolle aller Unterlagen Voraussetzung dafür sind, dass eine Leistung oder ein Steuervorteil gewährt werden. Stattdessen gilt die Annahme, dass die gemachten Angaben korrekt sind. Dafür sollte es aber schärfere Kontrollen und deutlich härtere Strafen geben, wenn sich rausstellt, dass jemand das Vertrauen ausgenutzt und Leistungen erschlichen hat.

Es ist ein Katalog an Maßnahmen, die keinem Bürger etwas wegnehmen – allenfalls den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ämtern und Behörden Aufwand, Extra-Runden und viel Frust. Denn zur Wahrheit des Beamtenlebens gehört ja auch: Die heutige Bürokratie ist nicht nur Selbstbeschäftigung und Daseinsberechtigung, sondern lähmt und überfordert auch die Verwaltungen selbst. Ein Staat, der es schafft, seine Leistungen schneller und einfacher anzubieten, muss nicht unbedingt günstiger sein, es folgen daraus nicht gleich sinkende Steuern. Aber auch eine effizientere Verwaltung steigert die Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Wirtschaftsstandorts. 

In den dramatischen Nachrichten der letzten Wochen, zwischen Trump-Chaos in Washington und der halsbrecherischen Schulden-Wende des Friedrich Merz in Berlin sind diese Vorschläge vielfach untergegangen. Aber sie verdienen es, in den kommenden Wochen noch mal genau geprüft zu werden. Denn damit die große Wende in der Finanz- und Haushaltspolitik – die Lockerung der Schuldenbremse, die heute im Bundesrat die letzte Hürde genommen hat – gelingen und der Staat das zusätzliche Geld sinnvoll für Rüstung und eine bessere Infrastruktur ausgeben kann, braucht es solche Strukturreformen. Es ist eine klassische liberale Idee, die in dieser Koalition noch mal eine Chance bekommen sollte: ein schlankerer Staat, der dafür aber wieder handlungsfähig wird.